τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 26. Februar 2020

In der Metaphysik lesen (1055a 33 – 1055b 8)

Die Aufstellung und Parallelführung von ungefähr fünf Ontologie-Achsen ist eine Konstruktion, für die ich in der Sekundärliteratur keine Vorbilder sehe, bei Aristoteles hingegen einige Hinweise, auf die ich zuletzt öfter aufmerksam gemacht habe.
Ich verbinde damit den Anspruch, die meisten der bisher gelesenen Teile der Metaphysik, welche der Untersuchungrichtung „Ontologie“ zugehören, zu strukturieren und verständlich zu machen. Im Buch X wird die Achse, die nach dem Einen benannt ist, betrachtet und besprochen also zergliedert – und zwar so, dass das Gegenteil des Einen, also das Nicht-Eine, als Fortsetzung derselben Achse zum Thema gemacht wird. Nicht unter der Bezeichnung „Nicht-Eines“ sondern unter „Vieles“, „Anderes“, „Abstand“.
Läßt sich daraus auf die Achse des Seienden der Rückschluß ziehen, dass auch sie ihre eigene Negation, also das Nicht-Seiende, inkludiert? Wir haben bereits mehrere aristotelische Hinweise darauf gefunden: auch das Nicht-Seiende gehört zum Seienden, denn es ist ja nicht-seiend. Das Seiende wird dermaßen vielfältig ausgesagt, dass es sogar des Nicht-Seiende bedeutet. Man muß schon sagen: das Seiende wird extrem vielfältig ausgesagt. Diese Erweiterung des Seienden darf und soll als  paradox bezeichnet werden – den es ist ja eigentlich das Entscheidende des Seienden, dass es sich vom Nicht-Seienden absetzt und negativ durch es definiert wird. Ich erinnere an das Heidegger-Zitat vom 27. November 2019.
Was gerade noch zur positiven, zur nicht-paradoxen Seite des Seienden gehört, nennt man umgangssprachlich und sehr deutlich  „fast nichts“. „Fast nichts“ – das ist der geringfügigste, der minimalste Anfang des Seienden. Ein bisschen mehr als nichts. Umgangssprachliche Minimal-Ontologie.

Sophia Pantaleadou erwähnt, dass die österreichische Künstlerin Sabine Müller-Funk ein Kunstwerk mit einer vielschichtigen Inschrift gemacht hat, die nur die Wörter „fast nichts“ und diese kaum leserlich enthielt, und auf diese Weise die Minimal-Ontologie in eine positive Paradoxie getrieben hat.
Wie bei Aristoteles das Seiende mit dem Nicht-Seienden paradox koinzidiert, so das Eine mit dem Vielen. Woran sich wieder bestätigt, dass Seiendes und Eines sich parallel verhalten, obwohl ihre begrifflichen Bedeutungen unterschieden bleiben.
Zurück zum Einen oder vielmehr zu seiner Überziehung und Verkehrung – zum Vielen.
In 1055b 1 nennt Aristoteles vier Weisen von Gegenüber: Kontradiktion, Privation, Kontrarietät und Relation. Zwei dieser Begriffe kommen aus der Aussagenlogik, beziehen sich aber nicht bloß auf Aussagen. Ein Begriff – nämlich Relation – ist eines der neun aristotelischen Akzidenzien, er umfaßt solche Gegenüberstellungen wie Vater und Sohn. Auch die Privation könnte zu den Akzidenzien gezählt werden, ist sie doch die Negation eines anderen Akzidens, nämlich des Habens. Privation ist ein Nicht-Haben – aber nicht irgendein Nicht-Haben. Wenn jemand keinen Porsche bzw. kein Pferd hat, so liegt keine aristotelische Privation vor. Aristoteles definiert zweierlei privative Nicht-Haben: wenn jemand überhaupt unfähig ist, etwas zu haben; wenn jemand etwas nicht hat, was er von Natur aus haben müsste. (1055b 4f.). Es geht also um radikale Nicht-Haben – wofür allerdings jetzt keine Beispiele genannt werden. Das lateinische Wort „Privation“ ist eher blaß, das von Aristoteles verwendete Wort steresis hingegen bedeutet „Beraubung“ und kommt der Sache schon näher.
Wir diskutieren darüber, ob „Beraubung“ nicht zu drastisch ist. Sophia Panteliadou sagt, Aristoteles verstehe das Wort in einem philosophischen Sinn und nicht in einem kriminalistischem. Das stimmt natürlich. Allerdings muß auch in der Philosophie klar und deutlich gesprochen werden – und nicht „phlosophisch“ in einem unbedingt beruhigendem Sinn.
Im Abschnitt 22 von Buch V, den wir hier am 27. Jänner 2016 gelesen haben, liefert Aristoteles immerhin zwei Beispiele für Privationen, die Beraubungen sind. Blinde Augen und kernlose Trauben. Die Blindheit spricht für sich. Die kernlosen Trauben waren für Aristoteles und sind heute noch für Leute, die den Weinbau ernst nehmen, etwas anderes als für diejenigen, für die kernlose Weintrauben den Gipfel der Kultur darstellen.

Kernlose Trauben sind heutzutage Früchte, denen die Fortpflanzungsfähigkeit weggezüchtet worden ist. Und damit kommen wir zu zwei Theoretikern des 20. Jahrhunderts, Sigmund Freud und Jacques Lacan, die gerade in diesem Kontext einen Begriff eingeführt haben, der den der Beraubung womöglich noch übertrifft: Kastration. Lacan hat diesem Begriff auch noch den viel allgemeineren aber auch nicht harmlosen des Mangels hinzugefügt. Beide stehen im Zentrum seiner Anthropologie.
Es empfiehlt sich, den aristotelischen Begriff der Privation semantisch mit Mangel oder Defekt zu assoziieren. Manche Übersetzer geben ihn mit „Entbehrung“, englisch mit „deprivation“ wieder. Wir werden sehen, dass er zu einem Schlüsselbegriff für seine Ontologie werden wird.
Abschließend noch eine Bemerkung zu dem lateinischen Wortfeld, aus dem er stammt und das mit „privat“ oder „Privatier“ zu kennzeichnen ist.
Die beiden Ausdrücke haben anscheinend mit so etwas wie Mangel, Defekt oder gar Beraubung gar nichts zu tun. Semantisch gehen sie eher auf ein anderes griechisches Wort zurück, nämlich idios - eigen, einzeln, privat. Idiotes hieß im klassischen Griechenland jemand, der sich aus dem öffentlichen Leben zurückzog und nur für sich lebte. Er galt als einer, der sich der aktiven Bürgerschaft beraubt hat und insofern ein Mangelwesen war.  

Walter Seitter

Mittwoch, 19. Februar 2020

In der Metaphysik lesen (1054b 22 – 1055a 32)

Präskriptum:

Ausgerechnet während wir uns mit der aristotelischen Einheits-Konzeption herumschlagen, verstarb in Heidelberg Jens Halfwassen, ein hervorragender Exeget und Apologet des platonischen Einheits-Begriffs. Die beiden Voraussetzungen, von denen er ausging, sind die Annahme, dass Seele und Geist, Bewusstsein und Subjektivität keine bloßen Illusionen sind, sowie der „ursprüngliche Einheitscharakter alles Denkbaren“. Gerade in der zweiten Annahme lauert allerdings die Gefahr, dass man den Charakter, die Stärke der angedeuteten Einheit missversteht bzw. überschätzt. Aristoteles ... nein ich würde auf der Unterscheidung verschiedener Einheitsarten und -grade innerhalb „alles Denkbaren“ insistieren.

Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin (Köln 1989)

In der Metaphysik lesen (1054b 22 – 1055a 32)

Auch aus dem Kommentar von Wolfgang Koch geht hervor, dass die Hauptbedeutung der philosophischen Konzeption des Einen, wie sie von Aristoteles entwickelt worden ist, Einheit, Einheitlichkeit, Zusammengehörigkeit von etwas ist, also adjektivischen Charakter hat. Diese Eigenschaft geht über das Zahlwort „ein“ hinaus (natürlich auch über den unbestimmen Artikel „ein“). In der von Aristoteles (in der Politik) aufgestellten Reihe Individuum, Familie, Staat nimmt die Einheitlichkeit ab, die Vielheit zu. Superlativische Einheit liegt in der Schwangerschaft vor, wo Individuum und Familie ineinander übergehen. Gleichzeitig ein frappantes Beispiel für eine maximale oder engste Einheit, die nicht auf Dauer gestellt werden kann, sondern sich in Richtung Vielheit lösen muß. Auf der anderen Seite erwähnt Aristoteles mit den Arkadiern auch ein Volk, das sogar die relativ schwache staatliche Einheit ablehnt und seine Teilgemeinschaften in einer bloßen Vielheit koexistieren läßt.

Da der aristotelische Begriff von Einheit im Unterschied zu jedem Wesensbegriff (etwa Mensch) steigerbar und daher minderbar ist, inkludiert er das kontradiktorische und folglich auch das konträre Gegenteil, also auch das Vielfache. Daher fragt Karl Bruckschwaiger, ob er mit den akzidenziellen Eigenschaften (wie etwa gescheit oder gesund), die ja auch steiger- und minderbar sind, etwa näher verwandt ist. Wahrscheinlich stimmt das, obwohl ihr ontologischer Rang ein anderer ist. Das Eine und das Seiende liegen als Begriffe auf einer Ebene bzw. sie bilden zwei parallele Begriffslinien (Parameter), die jeweils heterogene Eigenschaften umfassen. 
Diese Parallelität hat Aristoteles so ausgedrückt: „Das Eine und das Seiende bezeichnen in gewisser Hinsicht dasselbe.“ (1054a 12) und im lateinischen Mittelalter hat man sie Konvertibiltät genannt: „ens et unum convertuntur“. Für Peter Pramhas klingt das nach Theologie – womit er in einer Verständnisspur liegt, die seit Jahrhunderten die Rezeption der aristotelischen Ontologie blockiert hat. Heidegger sprach von „Ontotheologie“. Seit dem Buch VII breitet der Text der sogenannten Metaphysik ausschließlich die im Buch IV definierte Ebene der Ontologie aus – kam da jemals der Begriff von Gott oder irgendein ähnlicher vor? Nein.  

Die innere Heterogenität und Gegensätzlichkeit der beiden Begriffslinien wird von Aristoteles auf diese paradoxe Spitze getrieben: „Denn das Seiende und Eine ist von Natur aus entweder Eines oder Nicht-Eines.“ (1054b 22). Also das Eine kann auch ein nicht-eines sein. Anders gesagt: es ist ein mehr oder weniger eines. Der Begriff bezeichnet den gleitenden Übergang von einem Pol zum anderen; vom positiven Pol zum negativen. Diese oder eine ähnliche Polarität haben wir bei allen fünf Achsen der Ontologie konstatiert.

(Einschub in Klammer: Heißt das auch, dass das Seiende von Natur aus seiend ist oder nicht-seiend? Dann wäre die Meontologie ein Teil der Ontologie und in 1051a 34 wird das ausdrücklich gesagt.)

Die Qualität der Einheit reicht von maximaler Einheit zu minimaler Einheit bzw. maximaler Vielheit. Menschliche Koexistenzen reichen von intimsten Vereinigungen bis zu Fernbeziehungen, in denen man gerade noch voneinander weiß. Oder auch nicht weiß. Ungewußte Beziehungen.

Die Schwangerschaft als Beispiel für allerengste Symbiose ist bekanntlich seit Jahrtausenden bekannt – vermutlich auch bei anderen Säugetieren. Einfach als Erfahrungstatsache. Erst vor wenigen Jahren ist ein anderer und irgendwie ähnlicher Sachverhalt an mein Ohr gedrungen: dass nämlich alle Säugetiere also auch Menschen von Riesenmengen artfremder allerkleinster Lebewesen ständig bewohnt werden. Wir tragen ein paar Kilo, ein paar Millionen davon in uns herum. Solche Mikroorganismen gehören ganz anderen Arten als den von ihnen bewohnten Mesoorganismen an: sie sind Einwohner und wie die Forscher herausgefunden haben, auch lebensnotwendige Gastarbeiter in uns. Wir und sie bilden enge Gemeinschaften, Lebensgemeinschaften zwischen sehr verschiedenen Arten: interspezifische oder heterogene Gemeinschaften. Bestimmte Sorten von Mikroorganismen  wirken sich alllerdings für uns Mesoorganismen als sehr gefährliche Feinde aus – als solche wurden sie unter einem Titel wie „Bakterien“ zunächst ausgeforscht und medizinisch bekämpft. Neuerdings hört man von der Möglichkeit „biologischer Kriegsführung“ und meint damit die Infiltration bestimmter Gebiete mit bestimmten Bakterien. Sowohl die für die Erhaltung menschlichen Lebens notwendigen Bakterienpopulationen in jedem Menschen wie auch die für den Menschen tödlichen Bakterieneinwohnerschaften sind mit der aristotelischen Einheits-Konzeption zu fassen. Es handelt sich um enge Gemeinschaften zwischen artmäßig weit auseinander liegenden Lebewesen. 

In der aristotelischen Reflexion auf die Ordnung der Begriffe, mit denen die Einheitsformen besprochen werden, sind wir jetzt schon zur Seite des Gegenpols vorgedrungen – also zur Vielheit, Andersheit, Unterschiedlichkeit.

Unterschied und Andersheit sind nicht dasselbe. Ein anderes muß nicht durch etwas ein anderes sein – denn jedwedes, was irgend seiend wäre, ist ein anderes oder ein selbes. Was sich hingegen unterscheidet, unterscheidet sich durch etwas Bestimmtes – entweder artmäßig oder gattungsmäßig. Gattungsmäßig unterscheiden sich Entitäten, die verschiedenen Gattungen angehören. Aristoteles scheint damit zu meinen: verschiedenen Kategorien wie Ort und Qualität. Artmäßig unterscheiden sich Dinge, die verschiedenen Arten angehören – etwa Hunde und Pferde.

Nun geht es Aristoteles darum, den „größten“ Unterschied zu definieren und zu charakterisieren, wobei er auf die Logik zurückgreift. Welche zwischen Sätzen Gegensätze annimmt – und bei den Gegensätzen gibt es zwei irgendwie größte. Den kontradiktorischen und den konträren. Aristoteles füllt die Logik mit Ontik auf und kommt so zu zwei größten Unterschieden. Der eine Unterschied ist derjenige zwischen etwas und allem anderen. Der andere Unterschied ist derjenige zwischen etwas und dem äußersten Entgegengesetzten. 
Das ist der Unterschied zwischen zwei äußersten Enden, zwischen zwei Vollendungen. Obwohl die Vollendung an jedem der beiden Enden angesiedelt ist, spricht Aristoteles die Vollendung hier dem Gegensatz oder dem Abstand zu – also der Relation. 

Der Vorrang, der im Buch X zunächst dem Pol der Einheit zuzufallen scheint, geht nun unter dem Titel der Vollendung auf Verhältnisse wie Unterschied, Gegenteil, Gegensatz, Abstand über. 

Man könnte dem oben zitierten scholastischen Spruch einen neuscholastischen hinzufügen:

Ens et multum – a fortiori multa - convertuntur. 

Bisher ist allerdings kaum deutlich geworden, dass die hier thematisierte Vielheit, Abständigkeit, Gegensätzlichkeit über die Logik hinausgeht, wie das ja in der Ontologie der Fall sein sollte.

Walter Seitter

Mittwoch, 12. Februar 2020

Exkurs: Gemeinschaft und Gesellschaft


Von aktuellen religionspolitischen Fragestellungen aus kommen wir zur Unterscheidung zwischen den beiden Sozialitätsformen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, welche vor ungefähr hundert Jahren von zwei deutschen Gelehrten vorgeschlagen und bearbeitet worden ist.

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen  (Berlin 1887) 
Helmuth Plessner: Grenzen der GemeinschaftEine Kritik des sozialen Radikalismus (Bonn 1924)

„Gemeinschaften“ werden soziale Verbindungen genannt, in denen die Verbindung und die Einheit ursprünglich und gesichert erscheinen: ihr Prototyp ist die Familie. „Gesellschaft“ nennt man die Gesamtheit der Menschen, die in einem Raum teilweise zufällig beisammen leben und deren Einheit etwa durch den Marktmechanismus hergestellt wird. Die beiden Koexistenzformen schließen einander nicht unbedingt aus. 

Während Tönnies die begriffliche Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft von historischen Entwicklungen aus erklärt, nimmt Plessner die sozialpathologischen Phänomene in den Blick, die sich daraus ergeben, wenn einer Gesellschaft die Form der Gemeinschaft aufgezwungen wird. 

Im Jahre 1922 verfaßte Erich Voegelin in Wien seine Dissertation mit dem seltsam klingenden Titel „Wechselwirkung und Gezweiung“ (unter der Aufsicht der beiden konträr orientierten Doktorväter Othmar Spann und Hans Kelsen). Mit „Wechselwirkung“ meinte er eine enge und „organische“ und angeblich unauflösliche Verflechtung zwischen den Einwohnern eines Gebietes, unter „Gezweiung“ eine Sozialform, in der die einzelnen Individuen ihre Selbständigkeit aufrecht erhalten. Also „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“. Seine Abhandlung kommt zum Ergebnis, dass die Gesamtheit der Menschen in einem Staatsgebiet nicht einmal metaphorisch als ein Organismus verstanden werden könne. Voegelin positionierte sich also gegen den Monopolanspruch von „Gemeinschaft“ (und damit gegen Othmar Spann). 

Es scheint wichtig zu sein, dass die beiden Begriffe vorliegen und gebraucht werden, damit die entsprechenden Sachfragen, die leztlich Verhaltensfragen sind, artikuliert werden können. Gibt es die beiden Begriffe im Neugriechischen? Sophia Panteliadou verneint diese Frage.

Die bekannteste Form eines von der „Gemeinschaft“ dominierten Sozialitätsverständnisses ist wohl der Nationalismus. Ich erinnere daran, dass dieser Begriff aus dem lateinischen Wortfeld für „Geburt“ herkommt, und stelle die Behauptung auf, dass das Leben, das menschliche Leben, in Gemeinschaft beginnt – mit Zeugung, Geburt, Säugung und so weiter (allerdings ist die Geburt schon eine Art Bruch (welcher neue und dauerhaftere Gemeinschaftsformen ermöglicht)). Ein neu entstehender Mensch ist extrem gemeinschaftsabhängig. Die Schwangerschaft ist eine radikale Gemeinschaftsform, die allerdings von Natur aus auf sehr kurze Zeit begrenzt ist. 

Die Nachbarschaft stellt sich als  eine weniger enge Form des Zusammenseins dar, die jedoch auch über lange Zeit währen kann. Die mit ihr verbundene räumliche Nähe kann sowohl gemeischaftliche wie gesellschaftliche Koexistenz ermöglichen, sie öffnet sozusagen die Enge, die Intimität der Gemeinschaft zur Weite und gewissermaßen unpersönlichen Neutralität der Gesellschaft. 

Das theoretische Feld, in dem wir uns jetzt aufhalten, also die aristotelische Ontologie, zeichnet sich durch eine andere und weitergehende Neutralität aus. Sie geht so weit, dass sie Menschenwesen überhaupt nicht in den Vordergrund rückt; auch andere konkrete Wesenheiten wie Häuser oder Tiere, Kunstwerke oder Städte werden höchstens ganz kurz als Beispiele herzitiert. Beispiele für „Sachen“, die zumeist mit neutralen Substantivierungen benannt, nein nicht benannt, sondern vorsichtig angedeutet werden: das Seiende, das Nicht-Seiende, das Eine, das Viele, dasselbe, das Andere. 

In dem zuletzt gelesenen Abschnitt 3 von Buch X plötzlich ein kurzer Satz, der die Neutralitätspräferenz der Ontologie durchbricht: „Daher bist du und der Nachbar ein anderer.“ (1054b 17). Also ein Verweis - eigentlich in direkter Rede - auf einen Mitmenschen, zu dem ein vertrautes Verhältnis suggeriert wird, und eine Erwähnung eines Nachbarn, also eines anderen Mitmenschen. Mitten in der neutralistischen Ontologiewelt plötzlich zwei als menschlich gekennzeichnete Wesen, zu denen als drittes jetzt auch der Schreiber hinzutritt, der ja „du“ gechrieben hat. Also eine kleine Menschenmenge, innerhalb derer mindestens zwei als „andere“ apostrophiert werden.

Die ontologische Redeweise des Aristoteles ist mit diesem kleinen Spezialfall jedoch weder hinreichend erläutert noch außer Kraft gesetzt. In 1053b 11ff. wird behauptet, dass das Eine kein Wesen sei – wie einige frühere Philosophen gesagt hätten: zuerst die Pythagoreeer und dann Platon. Die Philosophen bilden anscheinend eine Art Gemeinschaft, innerhalb derer über Generationen hinweg über bestimmte Dinge geredet, gechrieben, so oder anders geschrieben und gesprochen wird. 

Für Aristotels ist das Eine kein „Wesen“, das irgendwo existiert. Es ist „nur“ eine ziemlich minimale, ja banale, oftmals aber auch brutale Qualität, die jedwedem, was ist oder entsteht oder dauert oder wirkt oder gewirkt wird, mehr oder weniger zukommt. Mehr oder weniger: das heißt in ständiger Auseinndersetzung mit dem Vielen. Je mehr etwas eines ist, umso weniger ist es ein vieles. Und je weniger oder schwächer etwas (oder etwer) eines (oder einer) ist, umso mehr machen sich an seiner Stelle irgenwelche viele geltend, die allerdings auch nicht umhin kommen, ihrerseits als eine aufzutreten und andere viele zu vereinheitlichen. 
Die Unterschiede sind aber nicht nur quantitativer bzw. intensiver Art. Es gibt auch qualitativ unterschiedliche  Kombinationen aus Einheit und Vielheit.
Bezogen auf das staatliche Zusammenleben einer großen Menschenmenge gab es offensichtlich zwischen Platon und Aristoteles eine „einfache“ Meinungsdifferenz: Platon meinte, ein Staat müsse die Menschen zu einer strikten Einheit zusammenfassen. Aristoteles argumentiert nachdrücklich und ausführlich dafür, dass der Staat eher eine Vielheit sein muß – ansonsten würde er sich dem Haus oder dem Individuum angleichen. (Pol. II, 1261a 15 – 1263b 41). Und das könnte wahrscheinlich schiefgehen.

So hat die Ontologie des Aristoteles mit ihrem flexiblen Seins- und Einheitsverständnis sein politisches Denken in eine bestimmte Richtung gewiesen.

Walter Seitter

Mittwoch, 5. Februar 2020

In der Metaphysik lesen (1054b 14 – 27)


Ein kurzer Rückblick auf das bisher im Buch X Gelesene zeigt, daß das Thema dieses Buches nicht einfach das Eine ist, sondern das Eine mitsamt seinem Gegenteil, also dem Vielen. Diese erweiterte Gegenstandsbestimmung läßt sich auch so ausdrücken: Gegenstand ist das mehr oder weniger Eine, das mehr und das weniger Eine. Also ein Parameter, eine Skala, die vom mehr Einen zum weniger Einen reicht, vielleicht vom am meisten Einen zum am wenigsten Einen, vom stärksten Einen bis zum schwächsten Einen (bei dem die Einheit in Vielheit aufgelöst ist). 

Doch schon vor dieser skalierenden Gegenstandbestimmung, die sich aus dem Text ablesen läßt, steht die programmatische Aussage, daß das Eine in mehreren, in vier Bedeutungen auftritt. Diese vier Bedeutungen werden mit vier Begriffen benannt und diese Mehrdeutigkeit des Einen wird von Aristoteles in ähnlcher Weise dekretiert wie die noch berühmtere Mehrdeutigkeit des Seienden. Tatsächlich sind diese beiden allgemeinsten Begriffe in unserem Text auch schon ausdrücklich  paralellisiert worden (was dann im lateinischen Aristotelismus zur Formel „ens et unum convertuntur“ geführt hat) und es steht zu erwarten, daß die kategoriale Vieldeutigkeit des Seienden direkt auf das Eine durchschlägt, sodaß dessen Mehrdeutigkeit sich komplizieren dürfte. 
Zu dieser Vieldeutigkeit des Einen kommt nun die zunächst erwähnte, welche den Gegensatz zwischen dem Einen und dem Vielen in eine tendenziell stetige Skala zum Vielen hin transformiert. Hat Aristoteles eine ähnliche Skala auch in die Heterogenität des Seienden eingeführt? Der Abschnitt 1 von Buch IV liefert nur einen geringfügigen Hinweis auf eine solche Parallele: dort wird das Wesen als primäre Version des Seienden den anderen Kategorien vorangestellt, zusammen mit den Kategorien werden auch Entstehen und Vergehen erwähnt und zuletzt wird sogar das Nicht-Seiende als eine Version des Seienden genannt: denn ist es ist ja nicht-seiend. (1003b 10)
Damit können wir zu dem am 23. Oktober und am 6. November 2019 festgestellten Ontologie-Polaritäten oder –Achsen

1                   seiend:   Wesen             Akzidenzien
2                   Werden            Vergehen
3                   Vermögen          Verwirklichung
4                   wahr              falsch

als fünfte noch hinzuschreiben:

5                   ein           viele
Der Parameter 5 hat auf seiner positiven Seite die Superlative „unzerlegbar“ und „selbes“. Den Gegensatz zum Selben bildet das Andere, welches es folglich nur von jenem aus, also vom Einen oder Selben aus gibt. Allerdings muß sich dieses Eine gar nicht nennen, es kann so tun, als gäbe es nur das Andere, als ginge es nur um das Andere. Was freilich eine arge Verkennung wäre – Verkennung der Grundtatsache, daß es Alterität nur innerhalb einer Pluralität geben kann, also einer Vielheit, zu der mindestens ein Eines gehört. 

Auch wenn diese Zusammenfassung dem Duktus des aristotelischen Denkens in der Metaphysik entsprechen sollte, eröffnet sie mir kaum ein Verständnis des zuletzt gelesenen Abschnittes. Der mit dem Satz endet - „denn das Seiende und Eine ist von Naur aus entweder Eines oder Nicht-Eines“. Liegt hier eine selbstwidersprüchliche Aussage vor oder sagt Aristoteles, daß jedwedes Eine ein mehr oder weniger Eines ist?
Wir sollten also den Abschnitt noch einmal lesen und verschiedene Lektüren aufeinander abstimmen. 

Walter Seitter