τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 19. Februar 2020

In der Metaphysik lesen (1054b 22 – 1055a 32)

Präskriptum:

Ausgerechnet während wir uns mit der aristotelischen Einheits-Konzeption herumschlagen, verstarb in Heidelberg Jens Halfwassen, ein hervorragender Exeget und Apologet des platonischen Einheits-Begriffs. Die beiden Voraussetzungen, von denen er ausging, sind die Annahme, dass Seele und Geist, Bewusstsein und Subjektivität keine bloßen Illusionen sind, sowie der „ursprüngliche Einheitscharakter alles Denkbaren“. Gerade in der zweiten Annahme lauert allerdings die Gefahr, dass man den Charakter, die Stärke der angedeuteten Einheit missversteht bzw. überschätzt. Aristoteles ... nein ich würde auf der Unterscheidung verschiedener Einheitsarten und -grade innerhalb „alles Denkbaren“ insistieren.

Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin (Köln 1989)

In der Metaphysik lesen (1054b 22 – 1055a 32)

Auch aus dem Kommentar von Wolfgang Koch geht hervor, dass die Hauptbedeutung der philosophischen Konzeption des Einen, wie sie von Aristoteles entwickelt worden ist, Einheit, Einheitlichkeit, Zusammengehörigkeit von etwas ist, also adjektivischen Charakter hat. Diese Eigenschaft geht über das Zahlwort „ein“ hinaus (natürlich auch über den unbestimmen Artikel „ein“). In der von Aristoteles (in der Politik) aufgestellten Reihe Individuum, Familie, Staat nimmt die Einheitlichkeit ab, die Vielheit zu. Superlativische Einheit liegt in der Schwangerschaft vor, wo Individuum und Familie ineinander übergehen. Gleichzeitig ein frappantes Beispiel für eine maximale oder engste Einheit, die nicht auf Dauer gestellt werden kann, sondern sich in Richtung Vielheit lösen muß. Auf der anderen Seite erwähnt Aristoteles mit den Arkadiern auch ein Volk, das sogar die relativ schwache staatliche Einheit ablehnt und seine Teilgemeinschaften in einer bloßen Vielheit koexistieren läßt.

Da der aristotelische Begriff von Einheit im Unterschied zu jedem Wesensbegriff (etwa Mensch) steigerbar und daher minderbar ist, inkludiert er das kontradiktorische und folglich auch das konträre Gegenteil, also auch das Vielfache. Daher fragt Karl Bruckschwaiger, ob er mit den akzidenziellen Eigenschaften (wie etwa gescheit oder gesund), die ja auch steiger- und minderbar sind, etwa näher verwandt ist. Wahrscheinlich stimmt das, obwohl ihr ontologischer Rang ein anderer ist. Das Eine und das Seiende liegen als Begriffe auf einer Ebene bzw. sie bilden zwei parallele Begriffslinien (Parameter), die jeweils heterogene Eigenschaften umfassen. 
Diese Parallelität hat Aristoteles so ausgedrückt: „Das Eine und das Seiende bezeichnen in gewisser Hinsicht dasselbe.“ (1054a 12) und im lateinischen Mittelalter hat man sie Konvertibiltät genannt: „ens et unum convertuntur“. Für Peter Pramhas klingt das nach Theologie – womit er in einer Verständnisspur liegt, die seit Jahrhunderten die Rezeption der aristotelischen Ontologie blockiert hat. Heidegger sprach von „Ontotheologie“. Seit dem Buch VII breitet der Text der sogenannten Metaphysik ausschließlich die im Buch IV definierte Ebene der Ontologie aus – kam da jemals der Begriff von Gott oder irgendein ähnlicher vor? Nein.  

Die innere Heterogenität und Gegensätzlichkeit der beiden Begriffslinien wird von Aristoteles auf diese paradoxe Spitze getrieben: „Denn das Seiende und Eine ist von Natur aus entweder Eines oder Nicht-Eines.“ (1054b 22). Also das Eine kann auch ein nicht-eines sein. Anders gesagt: es ist ein mehr oder weniger eines. Der Begriff bezeichnet den gleitenden Übergang von einem Pol zum anderen; vom positiven Pol zum negativen. Diese oder eine ähnliche Polarität haben wir bei allen fünf Achsen der Ontologie konstatiert.

(Einschub in Klammer: Heißt das auch, dass das Seiende von Natur aus seiend ist oder nicht-seiend? Dann wäre die Meontologie ein Teil der Ontologie und in 1051a 34 wird das ausdrücklich gesagt.)

Die Qualität der Einheit reicht von maximaler Einheit zu minimaler Einheit bzw. maximaler Vielheit. Menschliche Koexistenzen reichen von intimsten Vereinigungen bis zu Fernbeziehungen, in denen man gerade noch voneinander weiß. Oder auch nicht weiß. Ungewußte Beziehungen.

Die Schwangerschaft als Beispiel für allerengste Symbiose ist bekanntlich seit Jahrtausenden bekannt – vermutlich auch bei anderen Säugetieren. Einfach als Erfahrungstatsache. Erst vor wenigen Jahren ist ein anderer und irgendwie ähnlicher Sachverhalt an mein Ohr gedrungen: dass nämlich alle Säugetiere also auch Menschen von Riesenmengen artfremder allerkleinster Lebewesen ständig bewohnt werden. Wir tragen ein paar Kilo, ein paar Millionen davon in uns herum. Solche Mikroorganismen gehören ganz anderen Arten als den von ihnen bewohnten Mesoorganismen an: sie sind Einwohner und wie die Forscher herausgefunden haben, auch lebensnotwendige Gastarbeiter in uns. Wir und sie bilden enge Gemeinschaften, Lebensgemeinschaften zwischen sehr verschiedenen Arten: interspezifische oder heterogene Gemeinschaften. Bestimmte Sorten von Mikroorganismen  wirken sich alllerdings für uns Mesoorganismen als sehr gefährliche Feinde aus – als solche wurden sie unter einem Titel wie „Bakterien“ zunächst ausgeforscht und medizinisch bekämpft. Neuerdings hört man von der Möglichkeit „biologischer Kriegsführung“ und meint damit die Infiltration bestimmter Gebiete mit bestimmten Bakterien. Sowohl die für die Erhaltung menschlichen Lebens notwendigen Bakterienpopulationen in jedem Menschen wie auch die für den Menschen tödlichen Bakterieneinwohnerschaften sind mit der aristotelischen Einheits-Konzeption zu fassen. Es handelt sich um enge Gemeinschaften zwischen artmäßig weit auseinander liegenden Lebewesen. 

In der aristotelischen Reflexion auf die Ordnung der Begriffe, mit denen die Einheitsformen besprochen werden, sind wir jetzt schon zur Seite des Gegenpols vorgedrungen – also zur Vielheit, Andersheit, Unterschiedlichkeit.

Unterschied und Andersheit sind nicht dasselbe. Ein anderes muß nicht durch etwas ein anderes sein – denn jedwedes, was irgend seiend wäre, ist ein anderes oder ein selbes. Was sich hingegen unterscheidet, unterscheidet sich durch etwas Bestimmtes – entweder artmäßig oder gattungsmäßig. Gattungsmäßig unterscheiden sich Entitäten, die verschiedenen Gattungen angehören. Aristoteles scheint damit zu meinen: verschiedenen Kategorien wie Ort und Qualität. Artmäßig unterscheiden sich Dinge, die verschiedenen Arten angehören – etwa Hunde und Pferde.

Nun geht es Aristoteles darum, den „größten“ Unterschied zu definieren und zu charakterisieren, wobei er auf die Logik zurückgreift. Welche zwischen Sätzen Gegensätze annimmt – und bei den Gegensätzen gibt es zwei irgendwie größte. Den kontradiktorischen und den konträren. Aristoteles füllt die Logik mit Ontik auf und kommt so zu zwei größten Unterschieden. Der eine Unterschied ist derjenige zwischen etwas und allem anderen. Der andere Unterschied ist derjenige zwischen etwas und dem äußersten Entgegengesetzten. 
Das ist der Unterschied zwischen zwei äußersten Enden, zwischen zwei Vollendungen. Obwohl die Vollendung an jedem der beiden Enden angesiedelt ist, spricht Aristoteles die Vollendung hier dem Gegensatz oder dem Abstand zu – also der Relation. 

Der Vorrang, der im Buch X zunächst dem Pol der Einheit zuzufallen scheint, geht nun unter dem Titel der Vollendung auf Verhältnisse wie Unterschied, Gegenteil, Gegensatz, Abstand über. 

Man könnte dem oben zitierten scholastischen Spruch einen neuscholastischen hinzufügen:

Ens et multum – a fortiori multa - convertuntur. 

Bisher ist allerdings kaum deutlich geworden, dass die hier thematisierte Vielheit, Abständigkeit, Gegensätzlichkeit über die Logik hinausgeht, wie das ja in der Ontologie der Fall sein sollte.

Walter Seitter

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