Ausgerechnet während wir
uns mit der aristotelischen Einheits-Konzeption herumschlagen, verstarb in
Heidelberg Jens Halfwassen, ein hervorragender Exeget und Apologet des
platonischen Einheits-Begriffs. Die beiden Voraussetzungen, von denen er
ausging, sind die Annahme, dass Seele und Geist, Bewusstsein und Subjektivität
keine bloßen Illusionen sind, sowie der „ursprüngliche Einheitscharakter alles
Denkbaren“. Gerade in der zweiten Annahme lauert allerdings die Gefahr, dass
man den Charakter, die Stärke der angedeuteten Einheit missversteht bzw.
überschätzt. Aristoteles ... nein ich würde auf der Unterscheidung
verschiedener Einheitsarten und -grade innerhalb „alles Denkbaren“ insistieren.
Jens Halfwassen: Der
Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin (Köln 1989)
In der Metaphysik lesen (1054b
22 – 1055a 32)
Auch aus dem Kommentar von
Wolfgang Koch geht hervor, dass die Hauptbedeutung der philosophischen
Konzeption des Einen, wie sie von Aristoteles entwickelt worden ist, Einheit,
Einheitlichkeit, Zusammengehörigkeit von etwas ist, also adjektivischen
Charakter hat. Diese Eigenschaft geht über das Zahlwort „ein“ hinaus (natürlich
auch über den unbestimmen Artikel „ein“). In der von Aristoteles (in der Politik)
aufgestellten Reihe Individuum, Familie, Staat nimmt die Einheitlichkeit ab,
die Vielheit zu. Superlativische Einheit liegt in der Schwangerschaft vor, wo
Individuum und Familie ineinander übergehen. Gleichzeitig ein frappantes
Beispiel für eine maximale oder engste Einheit, die nicht auf Dauer
gestellt werden kann, sondern sich in Richtung Vielheit lösen muß. Auf der
anderen Seite erwähnt Aristoteles mit den Arkadiern auch ein Volk, das sogar
die relativ schwache staatliche Einheit ablehnt und seine Teilgemeinschaften
in einer bloßen Vielheit koexistieren läßt.
Da der aristotelische
Begriff von Einheit im Unterschied zu jedem Wesensbegriff (etwa Mensch)
steigerbar und daher minderbar ist, inkludiert er das kontradiktorische und
folglich auch das konträre Gegenteil, also auch das Vielfache. Daher fragt
Karl Bruckschwaiger, ob er mit den akzidenziellen Eigenschaften (wie etwa
gescheit oder gesund), die ja auch steiger- und minderbar sind, etwa näher
verwandt ist. Wahrscheinlich stimmt das, obwohl ihr ontologischer Rang ein
anderer ist. Das Eine und das Seiende liegen als Begriffe auf einer Ebene bzw.
sie bilden zwei parallele Begriffslinien (Parameter), die jeweils heterogene
Eigenschaften umfassen.
Diese Parallelität hat
Aristoteles so ausgedrückt: „Das Eine und das Seiende bezeichnen in gewisser
Hinsicht dasselbe.“ (1054a 12) und im lateinischen Mittelalter hat man sie
Konvertibiltät genannt: „ens et unum convertuntur“. Für Peter Pramhas klingt
das nach Theologie – womit er in einer Verständnisspur liegt, die seit
Jahrhunderten die Rezeption der aristotelischen Ontologie blockiert hat.
Heidegger sprach von „Ontotheologie“. Seit dem Buch VII breitet der Text
der sogenannten Metaphysik ausschließlich die im Buch IV
definierte Ebene der Ontologie aus – kam da jemals der Begriff von Gott oder
irgendein ähnlicher vor? Nein.
Die innere Heterogenität
und Gegensätzlichkeit der beiden Begriffslinien wird von Aristoteles auf
diese paradoxe Spitze getrieben: „Denn das Seiende und Eine ist von Natur aus
entweder Eines oder Nicht-Eines.“ (1054b 22). Also das Eine kann auch ein
nicht-eines sein. Anders gesagt: es ist ein mehr oder weniger eines. Der
Begriff bezeichnet den gleitenden Übergang von einem Pol zum anderen; vom
positiven Pol zum negativen. Diese oder eine ähnliche Polarität haben wir bei
allen fünf Achsen der Ontologie konstatiert.
(Einschub in Klammer:
Heißt das auch, dass das Seiende von Natur aus seiend ist oder nicht-seiend?
Dann wäre die Meontologie ein Teil der Ontologie und in 1051a 34 wird das
ausdrücklich gesagt.)
Die Qualität der Einheit
reicht von maximaler Einheit zu minimaler Einheit bzw. maximaler Vielheit.
Menschliche Koexistenzen reichen von intimsten Vereinigungen bis zu
Fernbeziehungen, in denen man gerade noch voneinander weiß. Oder auch nicht
weiß. Ungewußte Beziehungen.
Die Schwangerschaft als
Beispiel für allerengste Symbiose ist bekanntlich seit Jahrtausenden bekannt –
vermutlich auch bei anderen Säugetieren. Einfach als Erfahrungstatsache. Erst
vor wenigen Jahren ist ein anderer und irgendwie ähnlicher Sachverhalt an mein
Ohr gedrungen: dass nämlich alle Säugetiere also auch Menschen von Riesenmengen
artfremder allerkleinster Lebewesen ständig bewohnt werden. Wir tragen ein paar
Kilo, ein paar Millionen davon in uns herum. Solche Mikroorganismen gehören
ganz anderen Arten als den von ihnen bewohnten Mesoorganismen an: sie sind
Einwohner und wie die Forscher herausgefunden haben, auch lebensnotwendige
Gastarbeiter in uns. Wir und sie bilden enge Gemeinschaften,
Lebensgemeinschaften zwischen sehr verschiedenen Arten: interspezifische oder
heterogene Gemeinschaften. Bestimmte Sorten von Mikroorganismen wirken
sich alllerdings für uns Mesoorganismen als sehr gefährliche Feinde aus – als
solche wurden sie unter einem Titel wie „Bakterien“ zunächst ausgeforscht
und medizinisch bekämpft. Neuerdings hört man von der Möglichkeit
„biologischer Kriegsführung“ und meint damit die Infiltration bestimmter Gebiete mit
bestimmten Bakterien. Sowohl die für die Erhaltung menschlichen Lebens
notwendigen Bakterienpopulationen in jedem Menschen wie auch die für den
Menschen tödlichen Bakterieneinwohnerschaften sind mit der aristotelischen
Einheits-Konzeption zu fassen. Es handelt sich um enge Gemeinschaften zwischen
artmäßig weit auseinander liegenden Lebewesen.
In der aristotelischen
Reflexion auf die Ordnung der Begriffe, mit denen die Einheitsformen besprochen
werden, sind wir jetzt schon zur Seite des Gegenpols vorgedrungen – also zur
Vielheit, Andersheit, Unterschiedlichkeit.
Unterschied und Andersheit
sind nicht dasselbe. Ein anderes muß nicht durch etwas ein anderes sein – denn
jedwedes, was irgend seiend wäre, ist ein anderes oder ein selbes. Was sich
hingegen unterscheidet, unterscheidet sich durch etwas Bestimmtes – entweder
artmäßig oder gattungsmäßig. Gattungsmäßig unterscheiden sich Entitäten, die
verschiedenen Gattungen angehören. Aristoteles scheint damit zu meinen:
verschiedenen Kategorien wie Ort und Qualität. Artmäßig unterscheiden sich
Dinge, die verschiedenen Arten angehören – etwa Hunde und Pferde.
Nun geht es Aristoteles
darum, den „größten“ Unterschied zu definieren und zu charakterisieren, wobei
er auf die Logik zurückgreift. Welche zwischen Sätzen Gegensätze annimmt – und
bei den Gegensätzen gibt es zwei irgendwie größte. Den kontradiktorischen und den
konträren. Aristoteles füllt die Logik mit Ontik auf und kommt so zu zwei
größten Unterschieden. Der eine Unterschied ist derjenige zwischen etwas und
allem anderen. Der andere Unterschied ist derjenige zwischen etwas und dem
äußersten Entgegengesetzten.
Das ist der Unterschied
zwischen zwei äußersten Enden, zwischen zwei Vollendungen. Obwohl die
Vollendung an jedem der beiden Enden angesiedelt ist, spricht Aristoteles
die Vollendung hier dem Gegensatz oder dem Abstand zu – also der Relation.
Der Vorrang, der im Buch X
zunächst dem Pol der Einheit zuzufallen scheint, geht nun unter dem Titel der
Vollendung auf Verhältnisse wie Unterschied, Gegenteil, Gegensatz, Abstand
über.
Man könnte dem oben
zitierten scholastischen Spruch einen neuscholastischen hinzufügen:
Ens et multum – a fortiori
multa - convertuntur.
Bisher ist allerdings kaum
deutlich geworden, dass die hier thematisierte Vielheit, Abständigkeit,
Gegensätzlichkeit über die Logik hinausgeht, wie das ja in der Ontologie der
Fall sein sollte.
Walter Seitter
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