τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 5. Februar 2020

In der Metaphysik lesen (1054b 14 – 27)


Ein kurzer Rückblick auf das bisher im Buch X Gelesene zeigt, daß das Thema dieses Buches nicht einfach das Eine ist, sondern das Eine mitsamt seinem Gegenteil, also dem Vielen. Diese erweiterte Gegenstandsbestimmung läßt sich auch so ausdrücken: Gegenstand ist das mehr oder weniger Eine, das mehr und das weniger Eine. Also ein Parameter, eine Skala, die vom mehr Einen zum weniger Einen reicht, vielleicht vom am meisten Einen zum am wenigsten Einen, vom stärksten Einen bis zum schwächsten Einen (bei dem die Einheit in Vielheit aufgelöst ist). 

Doch schon vor dieser skalierenden Gegenstandbestimmung, die sich aus dem Text ablesen läßt, steht die programmatische Aussage, daß das Eine in mehreren, in vier Bedeutungen auftritt. Diese vier Bedeutungen werden mit vier Begriffen benannt und diese Mehrdeutigkeit des Einen wird von Aristoteles in ähnlcher Weise dekretiert wie die noch berühmtere Mehrdeutigkeit des Seienden. Tatsächlich sind diese beiden allgemeinsten Begriffe in unserem Text auch schon ausdrücklich  paralellisiert worden (was dann im lateinischen Aristotelismus zur Formel „ens et unum convertuntur“ geführt hat) und es steht zu erwarten, daß die kategoriale Vieldeutigkeit des Seienden direkt auf das Eine durchschlägt, sodaß dessen Mehrdeutigkeit sich komplizieren dürfte. 
Zu dieser Vieldeutigkeit des Einen kommt nun die zunächst erwähnte, welche den Gegensatz zwischen dem Einen und dem Vielen in eine tendenziell stetige Skala zum Vielen hin transformiert. Hat Aristoteles eine ähnliche Skala auch in die Heterogenität des Seienden eingeführt? Der Abschnitt 1 von Buch IV liefert nur einen geringfügigen Hinweis auf eine solche Parallele: dort wird das Wesen als primäre Version des Seienden den anderen Kategorien vorangestellt, zusammen mit den Kategorien werden auch Entstehen und Vergehen erwähnt und zuletzt wird sogar das Nicht-Seiende als eine Version des Seienden genannt: denn ist es ist ja nicht-seiend. (1003b 10)
Damit können wir zu dem am 23. Oktober und am 6. November 2019 festgestellten Ontologie-Polaritäten oder –Achsen

1                   seiend:   Wesen             Akzidenzien
2                   Werden            Vergehen
3                   Vermögen          Verwirklichung
4                   wahr              falsch

als fünfte noch hinzuschreiben:

5                   ein           viele
Der Parameter 5 hat auf seiner positiven Seite die Superlative „unzerlegbar“ und „selbes“. Den Gegensatz zum Selben bildet das Andere, welches es folglich nur von jenem aus, also vom Einen oder Selben aus gibt. Allerdings muß sich dieses Eine gar nicht nennen, es kann so tun, als gäbe es nur das Andere, als ginge es nur um das Andere. Was freilich eine arge Verkennung wäre – Verkennung der Grundtatsache, daß es Alterität nur innerhalb einer Pluralität geben kann, also einer Vielheit, zu der mindestens ein Eines gehört. 

Auch wenn diese Zusammenfassung dem Duktus des aristotelischen Denkens in der Metaphysik entsprechen sollte, eröffnet sie mir kaum ein Verständnis des zuletzt gelesenen Abschnittes. Der mit dem Satz endet - „denn das Seiende und Eine ist von Naur aus entweder Eines oder Nicht-Eines“. Liegt hier eine selbstwidersprüchliche Aussage vor oder sagt Aristoteles, daß jedwedes Eine ein mehr oder weniger Eines ist?
Wir sollten also den Abschnitt noch einmal lesen und verschiedene Lektüren aufeinander abstimmen. 

Walter Seitter

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