Ein kurzer Rückblick auf
das bisher im Buch X Gelesene zeigt, daß das Thema dieses Buches nicht einfach
das Eine ist, sondern das Eine mitsamt seinem Gegenteil, also dem Vielen. Diese
erweiterte Gegenstandsbestimmung läßt sich auch so ausdrücken: Gegenstand ist
das mehr oder weniger Eine, das mehr und das weniger Eine. Also ein Parameter,
eine Skala, die vom mehr Einen zum weniger Einen reicht, vielleicht vom am
meisten Einen zum am wenigsten Einen, vom stärksten Einen bis zum schwächsten
Einen (bei dem die Einheit in Vielheit aufgelöst ist).
Doch schon vor dieser
skalierenden Gegenstandbestimmung, die sich aus dem Text ablesen läßt, steht
die programmatische Aussage, daß das Eine in mehreren, in vier Bedeutungen
auftritt. Diese vier Bedeutungen werden mit vier Begriffen benannt und diese
Mehrdeutigkeit des Einen wird von Aristoteles in ähnlcher Weise dekretiert wie
die noch berühmtere Mehrdeutigkeit des Seienden. Tatsächlich sind diese beiden
allgemeinsten Begriffe in unserem Text auch schon ausdrücklich paralellisiert
worden (was dann im lateinischen Aristotelismus zur Formel „ens et unum
convertuntur“ geführt hat) und es steht zu erwarten, daß die kategoriale
Vieldeutigkeit des Seienden direkt auf das Eine durchschlägt, sodaß dessen
Mehrdeutigkeit sich komplizieren dürfte.
Zu dieser Vieldeutigkeit
des Einen kommt nun die zunächst erwähnte, welche den Gegensatz zwischen dem
Einen und dem Vielen in eine tendenziell stetige Skala zum Vielen hin
transformiert. Hat Aristoteles eine ähnliche Skala auch in die
Heterogenität des Seienden eingeführt? Der Abschnitt 1 von Buch IV liefert nur
einen geringfügigen Hinweis auf eine solche Parallele: dort wird das Wesen als
primäre Version des Seienden den anderen Kategorien vorangestellt, zusammen mit
den Kategorien werden auch Entstehen und Vergehen erwähnt und zuletzt wird
sogar das Nicht-Seiende als eine Version des Seienden genannt: denn ist es ist ja
nicht-seiend. (1003b 10)
Damit können wir zu dem am
23. Oktober und am 6. November 2019 festgestellten Ontologie-Polaritäten oder
–Achsen
1 seiend: Wesen Akzidenzien
2 Werden Vergehen
3 Vermögen Verwirklichung
4 wahr falsch
als fünfte noch
hinzuschreiben:
5 ein viele
Der Parameter 5 hat auf
seiner positiven Seite die Superlative „unzerlegbar“ und „selbes“. Den
Gegensatz zum Selben bildet das Andere, welches es folglich nur von jenem aus,
also vom Einen oder Selben aus gibt. Allerdings muß sich dieses Eine gar nicht
nennen, es kann so tun, als gäbe es nur das Andere, als ginge es nur um
das Andere. Was freilich eine arge Verkennung wäre – Verkennung der
Grundtatsache, daß es Alterität nur innerhalb einer Pluralität geben kann, also
einer Vielheit, zu der mindestens ein Eines gehört.
Auch wenn diese
Zusammenfassung dem Duktus des aristotelischen Denkens in der Metaphysik
entsprechen sollte, eröffnet sie mir kaum ein Verständnis des zuletzt gelesenen
Abschnittes. Der mit dem Satz endet - „denn das Seiende und Eine ist von Naur
aus entweder Eines oder Nicht-Eines“. Liegt hier eine selbstwidersprüchliche
Aussage vor oder sagt Aristoteles, daß jedwedes Eine ein mehr oder weniger
Eines ist?
Wir sollten also den Abschnitt
noch einmal lesen und verschiedene Lektüren aufeinander abstimmen.
Walter Seitter
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen