Der Buchtitel Metaphysik geht
auf das 1. Jahrhundert vor Christus zurück, genauer gesagt auf Andronikos
von Rhodos, der die bis auf uns überlieferten Schriften des Aristoteles redigiert
und ediert hat. Der Titel wurde also erst 300 Jahre nach Aristoteles erfunden,
hat allerdings das Verständnis seiner Schriften stark geprägt. Im 17.
Jahrhundert haben dann einige deutsche Gelehrte den Begriff „Ontologie“ geprägt
– um eine bestimmte Untersuchungsrichtung innerhalb der Metaphysik zu
bezeichnen, die im Buch IV formell begründet wird und sozusagen wörtlich
an to on legetai pollachos (1003a 32) anschließt und die
mannigfachen Seinsmodalitäten innerhalb des „Seienden“ zum Thema macht. Das
strategische Ziel der Ontologie besteht darin, der dominanten Seinsmodalität,
nämlich dem Wesen, den Monopolanspruch aufs Sein zu bestreiten, und daneben
auch andere Seinsmodalitäten zur Geltung zu bringen, so die Akzidenzien, das
Entstehen und Vergehen. Aber auch die Möglichkeit – also eine Modalität, die
zwischen „seiend“ und „nicht-seiend“ oszilliert.
Die Möglichkeit wurde schon im Buch
IV erwähnt, aber erst in IX wird sie – mitsamt ihrem Gegenpol, der Wirklichkeit
- zum Hauptthema gemacht. Und damit verbindet sich eine andere, gewissermaßen
heimliche, Tendenz innerhalb der Metaphysik, nämlich das deutliche
Hervortreten der Wortart Zeitwort, der Wörter, die Tätigkeiten bezeichnen –
Tätigkeit ist ja auch eine passende Übersetzung für „Wirklichkeit“. Ich
erinnere an die Unterscheidung zwischen Bewegung und Handlung als spezifisch
menschlichen Tätigkeiten im Abschnitt 6.
So wird mit Entschiedenheit die Kontingenz
in die Ontologie eingeführt, die allerdings bereits mit den Akzidenzien als
nicht-notwendigen Modalitäten Platz gegriffen hat. Unter den Akzidenzien
befinden sich ja auch zwei elementare Tätigkeitsformen: poiein und paschein.
Im Abschnitt 9 vollzieht nun die Ontologie
eine weitere Neuorientierung, die man ihr nicht von Anfang an
zugetraut hätte: ein entschiedener Übergang zu Aussagen, die mit „gut“ oder
„schlecht“ operieren.
Besser, gut, schlecht – wenn derartige Prädikate
nicht beliebige Eigenschaften bezeichnen sondern notwendige – wenngleich
disjunktive – Qualifizierungen von Vermögen und Tätigkeiten, dann erreicht die
Ontologie eine neue Stufe, die noch dazu die Frage aufwirft, ob sie tatsächlich
ausschließlich auf die Seite der theoretischen Wissenschaften gehört, wie ihre
Zuordnung zur Metaphysik nahelegt. Oder ob sie nicht auch ein
Naheverhältnis zu den poietischen und praktischen Wissenschaften hat, die dem
Herstellen und Handeln zuarbeiten, also den zielgerichteten und
selbstzweckhaften Tätigkeiten, denen Streben, Vorziehen, Entscheiden zugrunde legen.
Qualifizierungen mit „gut“ und „schlecht“
nennt man heute oft „Werturteile“ und mit diesem Ausdruck verbindet sich die
Frage, ob solche Aussagen überhaupt wissenschaftlich sein können. Im großen und
ganzen hält man es für selbstverständlich, dass sich die Wissenschaften (und
auch die Philosophie) zunächst einmal um Sachlichkeit, um Objektivität und in
diesem Sinn um „Wertfreiheit“ bemühen sollen – weil sie sonst ihre
Eigenständigkeit gegenüber anderen Sprechweisen etwa politischer oder
religiöser Art verlieren würden. Auch außerhalb jeder Wissenschaft empfiehlt es
sich, mit Gelassenheit die Dinge zunächst einmal nur zu betrachten. Aber wenn
Wissenschaften mit ihren Forschungen und Problematisierungen in die Nähe
menschlicher Einschätzungen oder Handlungsnotwendigkeiten kommen, können sie
sich Fragen nach empfehlenswerten Handlungsmöglichkeiten kaum entziehen.
Aristoteles hat bekanntlich in der Poetik
und in der Rhetorik, in der Ethik und in der Politik und in der Ökomomik viele
Bereiche menschlicher Gütereinschätzung und –realisierung eingehend behandelt.
In dem jetzt von uns gelesenen Text haben wir es mit einer sehr speziellen
Problematik zu tun. Nämlich damit, wie die durchaus „theoretisch“ eingestellte
Ontologie aufgrund ihrer eigenen Problematik an die Frage nach dem Guten oder
weniger Guten angrenzt. Eine Themenstellung, der man auch den griechischen
Namen „Axiologie“ gegeben hat. Gehört die Axiologie in die Ontologie
hinein?
Innerhalb der Wirklichkeits-Möglichkeits-Problematik
hält Aristoteles axiologische Aussagen auf zwei Ebenen für notwendig. Erstens
sagt er, die Verwirklichung ist in jedem Fall besser oder wertvoller als das
entsprechende also ebenfalls gute Vermögen. Abgesehen davon, dass mit dem
Vermögen das Gute noch gar nicht verwirklicht ist, steht das Vermögen auch
qualitativ weit hinter der Verwirklichung zurück – denn es ist immerzu gemischt
mit dem Vermögen zum Gegenteil, und das heißt, mit dem Vermögen zum Schlechten.
Das Vermögen ist auf mehrere Gegenteile ausgerichtet, es enthält gewissermaßen
beide gegenteiligen Qualitäten. Insofern könnte man sagen, es ist stärker,
sagen wir genialer als die Verwirklichung, die dem Prinzip des ausgeschlossenen
Selbstwiderspruchs folgt. Und daher vielleicht die moderne Höherschätzung der
Möglichkeit. „Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit.“ heißt es bei Heidegger
in Sein und Zeit.
Die zweite Ebene der axiologischen
Aussagen ist die Polarität zwischen dem Guten und dem Schlechten, auf der das
Gute dem Schlechten vorgezogen, das Schlechte gegenüber dem Guten diskriminiert
wird – also die eigentliche Qualitätsunterscheidung.
Schauen wir uns die aristotelischen
Beispiele für die Gut-Schlecht-Unterscheidung an: gesund sein – krank sein,
Ruhe – Bewegung, erbauen – abreißen, gebaut werden – einstürzen. Aristoteles
behauptet, in allen diesen Paaren sei ein Gegenteil gut, das andere
schlecht. Folgt man der Reihenfolge innerhalb der Paare, so scheint Aristoteles
die Ruhe auf die Seite des Guten zu stellen, was allerdings seinen Ausführungen
über die Himmelskörper im Abschnitt 8 widerspricht.
Für die Seite des Schlechten gilt
übrigens symmetrisch das über die Seite des Guten Gesagte: die Verwirklichung
des Schlechten ist noch schlechter als das Vermögen zum Schlechten.
Eine Ausweitung aufs Kosmologische, die
wiederum an die Ausführungen über die Himmelskörper anschließt, liefert
Aristoteles, wenn er sagt, dass es bei den ewigen Dingen kein Schlechtes,
keinen Fehler, keine Zerstörung gibt.
Die Zerstörung wird von Aristoteles als
Prototyp für das Schlechte eingesetzt, wohl auch als seine Ursache. Insofern
kommt dem Schlechten eine sekundäre Position zu, während das Primäre, das seit
jeher Bestehende, für das Gute steht. Somit wird das Gute auch kosmologisch
eingeordnet. Und ebenso wird es praxeologisch mit Konstruktion, mit Produktion
assoziiert wenn nicht gleichgesetzt. Und daraus können wir vermutungsweise die
Schlussfolgerung ziehen, dass bei Aristoteles die Axiologie ganz eng mit
der Ontologie verbunden ist: das Gute als innere Qualität, als Bestandteil des
Seienden als solchen. Wie es später die Scholastik lateinisch gesagt hat: ens
et unum convertuntur.
Für diese Einführung der Axiologie
in die Ontologie verwendet Aristoteles nur 18 Zeilen - kann man sie
wirklich als eine entscheidende Etappe betrachten? Der Rest des Abschnittes 9
ist einem ganz anderen Thema gewidmet, das sich durch seine Darstellungsweise
stark unterscheidet. Aristoteles behauptet, dass man die Gesetze der Geometrie,
die dem Vermögen nach existieren, durch Verwirklichungen sichtbar macht,
die er als zeichnerische Operationen beschreibt bzw. präskribiert. In diesen
Operationen realisiert sich Verwirklichung als Zerlegung und Denkung, die
zur Auffindung führt. Tun führt zur Erkenntnis. Die Tüchtigkeit der
Verwirklichung zeigt sich da insofern, als sie etwas als Möglichkeit
Zugrundeliegendes aktualisiert.
Insofern setzt Aristoteles mit diesem
geometrischen Lehrstück sein Plädoyer für die Exzellenz der Verwirklichung
fort. Die Ontologie performiert und deklariert ihre eigene Tüchtigkeit – und
muss sich nicht durch „Wertfreiheit“ anpreisen. Was im ersten Satz der Metaphysik von
allen Menschen behauptet wird, dass sie von Natur aus nach Wissen streben, das
vollzieht die Ontologie, indem sie nicht bloß „von Natur aus“ sondern hier und
jetzt operativ und tatsächlich Wissenserzeugung vorführt.
Und das, indem sie der Weisung folgt,
welche Platon über den Eingang in seine Akademie plakatiert haben soll – und
Geometrie macht. Und so trifft er den Platon, der die Lehre vom Guten oder
vielmehr zum Guten entschiedener und radikaler als Aristoteles formuliert
hatte.
Walter Seitter
Seminarsitzung vom 19. Juni 2019