τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 24. Dezember 2022

  In der Metaphysik lesen * Zusammenschau und Eingebung

21. Dezember 2022

 

Das letzte Protokoll hat eine Rückschau und Perspektive auf die Metaphysik-Lektüre versucht und eine solche kann von jeder Stelle aus versucht werden. Von einer frühen Stelle aus wird der Rückblick kurz und konkret ausfallen, der Vorblick weit und unbestimmt.

 

Bereits mit seinem allerersten Satz vom Streben aller Menschen nach Wissen hat Aristoteles selber einen nicht ganz unbestimmten Vorblick getan.

 

Ähnlich mit der frühen Formel von der „gesuchten Wissenschaft“, mit der Aristoteles die Gattungsbezeichnung „Wissenschaft“ für sich selber vorzieht und gleichzeitig der Dynamik eine wichtige Rolle zuspricht. Diese anthropologische Konstante teilt er mit der Psychoanalyse und der Vergleich mit der ist nicht deswegen unzulässig, weil Aristoteles kein Psychoanalytiker ist. Freud erfand und verstand die Psychoanalyse als Wissenschaft und nicht als esoterische Geheimlehre, daher teilt er die generische Ebene der Wissenschaft.

 

Die Stelle, die zunächst als „zentrale“ ausgewählt worden ist, XI 1064a 29 – 1064b 14, rückt vier Wissenschaften zusammen, von denen drei in der Wissenschaftsordnung ohnehin benachbart sind, nämlich die drei theoretischen Wissenschaften, sowie eine, die weit entfernt scheint und eher auf der Meta-Ebene angesiedelt ist und daher leichter als die allgemeinste gelten zu können scheint. Doch die dritte theoretische Wissenschaft, macht ihr Konkurrenz, weil sie ein Wesen aufweist, das in der Ursachenordnung das „erste“ ist. Und die Ursachenordnung wird von Aristoteles mit der Physik eingeleitet. Die Physik nennt die nächsten (eigentlich die „letzten“) Ursachen, Vater und Mutter und Lehrer zum Beispiel. Die ferneren und noch ursächlicheren sind die Gestirne. Mit der ersten Ursache kippt die Sache ins Unkörperliche und Permanente. (Nebenbei: jede Sache ist auch eine Ursache)

 

Doch ihre Beschreibung des Unbewegten Bewegenden fällt erstaunlich anthropomorph, also menschenförmig aus.

 

Wir lesen noch einmal XII 1072b 14ff. - den Anfang der aristotelischen Theologie. Es handelt sich um das Prinzip, von dem der Himmel und die Natur abhängen - es wird also zunächst kosmologisch bestimmt. Seine „Lebensführung“ – ein sehr anthropologischer Begriff! – besteht darin, daß es das Beste auf Dauer stellt, weil ihm die Aktivierung Lust bereitet.

 

Das heißt die Lust setzt sich durch, verwirklicht sich ohne Einschränkung, weil sie Lust ist.(Ein sehr bekannter Nietzsche-Satz drängt sich hier auf, als spätes Echo, als späte, aber nicht zu späte Bestätigung.) So wirkt sich dieses Prinzip bei dem einen soll ich sagen (?) „Superwesen“ aus – im Unterschied zu uns Menschen, die „natürlich“ von demselben Prinzip leben, aber mit Einschränkungen.

 

Das „Lustprinzip“ ist ein wichtiger Begriff bei Sigmund Freud. Da er sich fast ausschließlich für die Menschenschicksale interessiert und nicht nur als Seelenarzt sehen mußte, daß es bei den Menschen nicht hundertprozentig lust- und freudvoll zugeht, hat er zur Erklärung dieses Umstandes ein zweites, ein Gegenprinzip erfunden, das dem ersten zuwiderläuft und seine Wirksamkeit reduziert.

Wie bei Freud diese beiden gegenläufigen Prinzipien die wechselhaften Menschenschicksale mit- oder gegeneinander zuwegebringen, das kann hier nicht ausgeführt werden.

 

Aristoteles scheint nur das eine, das Lust- und Freudprinzip gekannt und aufgestellt zu haben, das bei den Menschen wechselhaft und unsicher am Werk ist. Nur bei dem nur gedachten und dennoch existierenden Wesen anderer Natur soll es ungestört und konsequent zum Zug kommen. Aber beide Wissenschaftler sehen den Menschen als gemischtes, als Lust-Unlust-Wesen.

 

Eine andere Konstellation als bei Freud. Welcher Graphiker könnte die beiden unterschiedlichen Lust-Unlust-Ordnungen übersichtlich zeichnen und gegenüberstellen?

 

Da äußert Maximilian Perstl eine Eingebung: kraft seines Namens ist auch Freud ein permanentes Freud-Wesen.

 

Die Person Sigmund Freud mit allem, was dazugehört, wird in eine Position gerückt, die derjenigen des Bewegenden Denkenden qualitativ und funktional nahekommt.

 

Der Name „Freud“ ist ihm zweifellos schon vor seiner Geburt zugefallen und seit der Traumdeutung (Leipzig und Wien 1900) ist dieser Name, dem ja auch eine begriffliche Bedeutung eingeschrieben ist, millionenfach gesprochen, geschrieben, gedruckt worden. Der Name überlebt ihn nach seinem Tod bis zu uns her und noch weiter – ein Höchstmaß an Permanenz.

 

Eine Eingebung von freudschem Format, die dem Wort eine entscheidende Mächtigkeit zur Vergegenwärtigung einer Sache einräumt. In der Psychoanalyse sammelt das „freie Assoziieren“ auch Buchstaben-, Silben- und Wortstücke und -manipulationen ein, um Vorstellungs-, Wunsch-, Denkelemente zu finden, die zur Sache gehören könnten.

 

Der Begriff „Freude“ ist ein Denk-, natürlich auch Wunschelement, das mit der Person Sigmund Freud fest verbunden ist und das er als Wissenschaftler und Schriftsteller weitergedacht, -formuliert, präsentiert, angeboten, vorgeschlagen hat, um die Menschen anzusprechen und sie an sie zu erinnern. Keineswegs nur an ihre Kindheit, sondern an sie in ihren aktuellen Situationen zwischen Lust und Unlust und so weiter.

 

Aristoteles hat mit seiner Begriffskonstruktion und Eigenschaftenbeschreibung, für die ich bereits mehrere Übersetzungen und Abkürzungen vorgeschlagen habe, den einen Pol in Worte gefaßt, der das Leben und Denken der Menschen in Bewegung versetzen kann, in zusätzliche Bewegung zu den ohnehin gewohnten und üblichen.   

 

Mit der oben zitierten Aussage betreffend Lust oder Freude beginnt die Beschreibung, ich sage Beschreibung des Ersten Bewegenden, und in meinem Protokoll vom 9. März 2022 habe ich die Protokollsprache in einen anderen Ton gesetzt – wie es sich gehört, denn die Sprache hat sich dem Objekt anzupassen.

 

Alles dies ist ins Protokoll vom 14. Dezember 2022 eingeflossen. Sophia Panteliadou sagt, sie habe die Adresse der Hermesgruppe der Klagenfurter Philosophin Alice Pechriggl mitgeteilt und Maximilian Perstl stellt in Aussicht, das Protokoll vom 14. Dezember 2022 in den Weihnachtsferien über Mark Zuckerberg, Chief Executive Officer von Meta (!), in die ganze Welt zu versenden. Natürlich in deutscher Sprache.

 

Am Schluß stellt sich heraus, daß ich auch in diesem Dezember Geburtstag gehabt habe, und nachträglich gratuliert man mir. Das Prinzip der Nachträglichkeit ist ein berühmtes Prinzip bei Lacan.

 

Walter Seitter

 

 

Nächste Sitzung am 11. Jänner 2023:  Hermann-Lektüre.

Sonntag, 18. Dezember 2022

In der Metaphysik lesen * Rückblick und Perspektive

14. Dezember 2022

 

Das hiesige Aristoteles-Lesen insgesamt dauert jetzt seit Anfang 2007 an, das hiesige Metaphysik-Lesen seit Anfang 2011, also seit 12 Jahren. Recht viel länger dürfte Aristoteles an diesem Text, dessen schriftliche Überlieferung von derartiger Unsicherheit gezeichnet ist, daß allgemein angenommen wird, er sei vom Autor gar nicht fertigredigiert worden, vielleicht nicht geschrieben haben.

Die im Buch enthaltene Angabe, es handle sich dabei um eine „Theologie“, trifft nur ganz geringfügig zu; die den meisten Platz einnehmende Ontologie wird zwar begrifflich definiert (Anfang von Buch IV), aber nicht auf die Teile begrenzt, in denen sie tatsächlich zur Ausführung kommt. Das Buch enthält zwar zwei längere Listen, eine Aporienliste und ein Begriffsverzeichnis, aber es fehlt ihm eine stimmige Angabe seines Gesamtinhalts.

 

Zur neulich aufgeworfenen Frage, ob Aristoteles Wissenschaft macht oder Philosophie, kann gesagt werden, daß er mit Platon zu denen gehört, die die abendländische Wissensordnung in dem Sinn begründet haben, daß jemand, der Kunsthistoriker ist, aus logischen Gründen notwendigerweise „auch“ Wissenschaftler ist. Speziell ist er Kunsthistoriker, generisch ist er Wissenschaftler. Der logische Aufbau aus Gattung und Art hat sich nun einmal im Abendland und das heißt – vorläufig – weltweit durchgesetzt.

 

Wenn wir Philosophen sind und das zur Kenntnis nehmen, sind wir gewissermaßen „Analytische Philosophen“ (wenn wir wollen).

 

Ich selber bezeichne mich als Philosoph und daher logisch vorrangig als Wissenschaftler. Daß ich mich innerhalb der Philosophie als Physiker bezeichne, Philosophischen Physiker, das ist eine Sache meiner persönlichen und philosophischen Idiosynkrasie.

 

Daß das Buch XIII unvermittelt mit einer hartnäckigen Kritik an der pythagoreischen bzw. platonischen Geometrie- und Algebra-Auffassung einsetzt, bestätigt den Eindruck einer mangelhaften Organisation des dargebotenen Stoffs.

 

Was nun diese Kritik selber betrifft, so habe ich im letzten Protokoll die Ansicht geäußert, ihre Stoßrichtung ziele auf eine Aussage, die weit über die Mathematik hinausgehe. Meine Rede von der „Stoßrichtung“ verdeutlicht dabei etwas, was mit „Kritik“ eigentlich schon gesagt ist: daß nämlich die Aussagen, die auf der Ebene des Kognitiven liegen, auch mit dem Volitiven zu „tun“ haben: sie sind selber Wollungen, Handlungen, Aktionen und sie begnügen sich nicht damit, irgendwelche Aussagen zu kritisieren. Vielmehr affirmieren sie andere schon gemachte Aussagen, nämlich den Aussagenkomplex im Buch XI 1064a 29 – 1064b 14.

 

Darin werden vier bestimmte Wissenschaften – für Aristoteles zählen nur Wissenschaften (mit allerdings sehr unterschiedlichen und grundsätzlich wichtigeren Themen) – aneinander gerückt und in ihrem Verhältnis zueinander festgelegt.

Nämlich die drei theoretischen Wissenschaften (Physik: bewegliche und abgetrennte Dinge; Mathematik: Bleibendes und nicht Abgetrenntes; Theologie: Unbewegtes und Abgetrenntes) und dazu noch die Wissenschaft, die gewissermaßen jenseits der aristotelischen Wissensordnung steht (oder vielmehr in ihrem jenseitigen Diesseits), nämlich die im Buch IV sorgfältig definierte Wissenschaft vom Seienden als Seienden, die allgemeinste Wissenschaft.

 

Wie verhalten sich diese vier Wissenschaften zueinander? Mit ihren positiven bzw. negativen Eigenschaften gehören die drei ersten logisch gesehen eng zusammen, während die Ontologie alle diese Eigenschaften thematisiert und ordnet. Es sieht so aus, als wäre sie die Metawissenschaft in dem neulich besprochenen Sinn (der übrigens von Alfred Tarski (1901-1983) maßgeblich definiert worden ist).

 

Physik, Mathematik, Theologie bilden eine Reihe. Wenn die Physik als die erste Wissenschaft von den existierenden Dingen und Ursachen sich als unvollständig erweisen sollte, stellt sich die Frage, welche der anderen Wissenschaften als notwendige Ergänzung oder Vollendung in Frage kommt. Die Mathematik mit ihren bekannten Formen und Gesetzen oder aber die Theologie mit einer mehr oder weniger aus der Religion übernommenen Lehre von einer noch höheren Wirklichkeit oder aber die Ontologie mit ihrem Überblick über sämtliche Wirklichkeitsstufen?

Oder etwa eine poietische Wissenschaft als Anleitung zur Anfertigung von vollkommenen Dingen oder eine praktische Wissenschaft zur Verbesserung zwischenmenschlicher Verhältnisse?

 

Wohlgemerkt die beiden zuletzt genannten Möglichkeiten werden von Aristoteles gar nicht, jedenfalls hier nicht, in Erwägung gezogen – da müßte man sich vielleicht bei Nietzsche oder Kant oder ? umschauen.

 

Aristoteles entscheidet sich dann für die sogenannte Theologie, und zwar deswegen, weil sie ihm auf der Linie der Physik zu liegen scheint: beide sind Wissenschaften von real Existierendem. Auf dieser Linie hält er es sogar für angemessen, abermals von „Natur“ zu sprechen: es würde sich dabei um eine „andere Natur“ handeln: eine stofflose, körperlose, unwahrnehmbare. Wohl aber eine denkbare, das heißt eine erkennbare, ja wissbare und höchst gewisse. Ja, um eine denkende Natur. Cogitatio cogitationis. Und um eine begehrbare, bewunderbare, erstrebbare Natur. Ja, um eine permanent lustvolle, eine mangellos begehrende, eine durch und durch sich freuende Natur. Außerdem um eine lebendige. Also um eine ziemlich anthropomorphe (aber ich weiß nicht, ob Aristoteles das gern hören würde).

 

Da es sich dabei um eine frühere Natur handelt, nennt Aristoteles die entsprechende Wissenschaft eine allgemeine Wissenschaft, obwohl sie doch nur von einer einzigen Natur handelt. Aber diese Natur ist derart früher, ursächlich wirksam, Mitursache aller Dinge überhaupt, daß die entsprechende Wissenschaft auch eine allgemeine ist. Frage, welche Wissenschaft die allgemeinere ist: die vom Seienden als Seienden oder diese von der früheren, von der frühesten, also ersten Natur?

 

Diese „andere Natur“ wäre nicht irgendeine andere, nicht eine ganz und gar andere Natur. Sondern eine „Heteronatur“ – eine Steigerung der Natur, eine gesteigerte Natur. Eine Natur mit ungefähr gleichen Eigenschaften, Vorzügen, Leistungen – aber eben gesteigerten.

 

Diese Natur wäre eine suchbare weil schon gesuchte.

 

Gesucht ist sie, da Aristoteles ihre Erkenntnis im Buch I zunächst der „gesuchten Wissenschaft“ (983a 20) zuordnet, womit er die bescheidenste, die minimalste, aber doch schon ordentliche Bezeichnung wählt.

 

„Gesuchte Wissenschaft“ statt oder als „Metaphysik“.

 

Mit der Bezeichnung als Wissenschaft stellt er sie neben alle schon bekannten Wissenschaften, die vorhin genannten und die anderen.

 

Als „gesuchte Wissenschaft“ stellt er sie unter die schon gegebenen Wissenschaften wie Medizin, Astronomie und so weiter. Sie hingegen muß erst zusammengebastelt, entwickelt, durch Aporien, Irrtümer, Sackgassen, Illusionen hindurch durchgekämpft werden. Sie sollte schließlich, um den Titel „Wissenschaft“ zu verdienen, übersichtlich, kohärent, irgendwie vollständig durchgeführt werden. Auf jeden Fall muß sie erarbeitet werden. Als wir im Buch III die Liste der Aporien gelesen haben, ist uns, wenn wir aufmerksam gelesen haben, aufgefallen, daß Aristoteles darauf insistiert, die Aporien sollten durchquert, durchgearbeitet und so „aufgelöst“ werden, und nicht handstreichartig erledigt werden. Damit hatte sich Aristoteles, trotz seines Verständnisses für die Sklavenhaltung auf die Seite der Arbeitenden gestellt (allerdings der denkenden, also der sehenden, der sagenden und schreibenden Arbeiter).

 

Immerhin setzt die gesuchte Wissenschaft voraus, daß es Suchende gibt. Zumindest den einen, der von gesuchter Wissenschaft spricht bzw. schreibt. Aber der – nämlich Aristoteles – hat zumindest einen gefährlichen illusionären Irrweg schon vermieden. Nämlich den solistischen, monopolistischen und fanatischen, der die gewünschte oder versprochene Erkenntnis allein für sich und von sich beansprucht, allein sich selber als Erkenntnisträger anpreist. Mit dem ersten Satz des Buches werden alle Menschen als Erkenntnissucher behauptet und mit schlichten geradezu kindlichen Beispielen auch an ihre eigenen Erfahrungen erinnert. Der Leser des ersten Satzes darf sich direkt angesprochen fühlen und sich selber fragen, ob es stimmt, daß auch er nach Wissen strebt. Und er wird eingeladen, durch sein Lesen und Weiterlesen die Frage performativ zu bejahen.

 

Womöglich durch hartnäckiges, aber auch geduldiges Lesen mit Weiterfragen, Nachdenklichkeit oder und Gesprächigkeit.

 

Der Protokollschreiber kann, sofern er auch sonst schon philosophisch geschrieben hat, jetzt eine andere, vielleicht banalere, eine niedrigere philosophische Schreibweise erproben. Die es ihm erlaubt, die Nacherzählung philosophischer Lektüre und Lektüregespräche mit anderen Eindrücken und Erfahrungen zu komponieren.

 

Immerhin habe ich am 9. März 2022 die niedrigere Schreibweise des Aristoteles-Protokolls zu einer litaneiartigen Paraphrase seiner Beschreibung des Permanenten Motors (UB) erhoben.

Mag sein, daß da noch weitere postprotokollarische oder paraprotokollarische Schreib- oder Zeichenarbeiten, also Graphiken oder Graphismen, nachgeliefert werden müssen, die das Verständnis der Paranatur, auch ihre Assoziierung mit dem Wort „Gott“, plausibilisieren könnten.

 

An dieser Stelle ein Einschub zu einem real schon existierenden Paraprotokoll. Das ist dasjenige, das Karl Bruckschwaiger seit über einem Jahr zu Hermann von Kärnten anfertigt. Eine Parallelaktion, die ich vorgeschlagen habe, damit die Aristoteles-Lektüre nicht zu schnell „fertig“ wird. Und obendrein liefert sie die Kenntnis von einer ungefähren Aristoteles-Rezeption ungefähr in der zeitlichen Mitte zwischen jenem und uns.)

 

Allerdings wissen diejenigen, die da seit dem Jahre 2011 lesen und diskutieren, daß es nicht leicht ist, das Streben wirklich durchzuhalten. Das Buch macht einem das Lesen nicht leicht. Es endet in einem Höhepunkt oder in einer Kadenz oder in noch einer.

 

Protokolle schreiben und lesen – das ist das Mindeste, was man dazu tun muß, um nicht das Meiste wieder und wieder zu vergessen. Wie zum Beispiel die minimalistische Formel von der „gesuchten Wissenschaft“.

 

Die möglichen Illusionen, Täuschungen und Selbsttäuschungen bestehen darin, daß man sich mit vornehmen Wörtern wie „Philosophie“ oder „Metaphysik“ über die dürren und wenig zusammenhängenden Begriffsanalysen hinwegschwindelt.

 

Buch XIII und XIV warnen davor, auf die denkerischen Möglichkeiten der Mathematik auszuweichen und darin die Erkenntniserfüllung zu sehen, zu der Aristoteles herausfordert und die wohl nicht ohne Mühe und existenzielle Erschütterung zu haben ist. Man muß sich von etwas bewegen lassen, man muß sich selber bewegen. Motivieren, agitieren, agieren. All das ohne die von der Moderne angepriesene Beherrschung der Natur, Weltveränderungsleidenschaft, Allmachtsphantasie und Vermenschlichung von allem und jedem. Innerhalb einer vita contemplativa, die sich mit geringfügigen Handlungsmöglichkeiten begnügt.

 

Andere schon vorliegende Parallelprotokolle sind diejenigen zur aristotelischen Poetik. Diejenigen zur Lektüre der Sonne von Francis Ponge sowie die noch nicht vollendeten zur Lukrez-Lektüre von Michel Serres.

 

Walter Seitter

 

 

Nächste Sitzung: 21. Dezember 2022.

Aristoteles: Metaphysik, Buch XIII, ab 1084b 3

 

Dienstag, 13. Dezember 2022

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 21 (69vF - 70vB) Seite 160, Z 18 bis Seite 166, Z 19 bei Burnett

Mittwoch, den 07. Dezember 2022

 

 

Am Beginn der Sitzung stand wie schon häufig eine Diskussion über den Gegenstandsbereich der Physik und die Wichtigkeit der Physik bei Aristoteles, im Gegensatz zur Mathematik und besonders zur Theologie, die immerhin auch theoretische Wissenschaften sind. Die aristotelische und auch die hermannische Physik beschäftigt sich mit Körpern, die einen Raum einnehmen und sich bewegen können. Nun hat sich die Bedeutung von Körper seit den cartesianischen Zweifeln und der Einteilung in res extensa und res cogitans gewandelt. Bei Hermann spielt res noch keine besondere Rolle, sondern Körper, der eine Lage und Grenzen seiner Ausdehnung haben muss. Selbst die unkörperlichen Dinge haben einen begrenzten Raum, den des Körpers, oder doch der Welt.

 

Wenn auch jede Grenze der Welt ein Ort ist, so hat jedoch die Welt keinen eigenen Ort. Das würde das Gesamte einer anderen Menge zuordnen, wo dieses Gesamte wiederum nur ein Teil wäre, also nicht das Gesamte. Hermann bringt das Beispiel, dass man das Tier als Gattung bezeichnet und dann entgegnet, dass das Tier zu keiner Gattung gehört, das würde den Gattungsbegriff absurd machen, der ja alle Tiere umfassen sollte. So ist jeder Raum in der Welt in einem bestimmten Ort und nicht in irgendeinem oder in allen Orten. Dann kommt ein Beispiel, das etwas an verschiedenen Orten dasselbe ist, und das bringt einen Abstand zu der Antike, der vorher nicht so spürbar war, dass der Rhein in Mainz derselbe ist wie in Köln. Auch die Erde in Italien und Griechenland als dieselbe zu bezeichnen, und dass Paris und Rom nicht durch einen Ort getrennt sind sondern nur einen Abstand im Ort, weist Hermann als Weitgereisten aus, der immerhin kein Kaufmann war.

 

Zeit

 

Der Grundsatz bei Hermann lautet: „Die Zeit aber ist ein Teil der Ewigkeit einer immerwährenden Kreisbewegung.“ Da die Ewigkeit von Hermann eigentlich als einfacher Zustand, ungeteilt, ein und derselbe und unbegrenzt bestimmt wird, ist diese Teilung der Ewigkeit zunächst überraschend, denn die Verschiedenheit, die die Zeit zum Heraustreten aus der Ewigkeit veranlasst, muss zuallererst in der Ewigkeit enthalten gewesen sein. Die Verschiedenheit führt zu einer Bewegung und die Bewegung führt alle Zeit aus der Ewigkeit heraus, ohne das die Ewigkeit weniger vollständig werden würde. Diese Bewegung hat zu einem bestimmten Zeitpunkt begonnen und dadurch erst die Zeit zur Erscheinung gebracht und wird auch wieder enden, ohne dass die Fülle der Ewigkeit davon betroffen ist.

Aber die Zeit kehrt nicht in die Ewigkeit zurück, sondern setzt diese Kreisbewegung fort, indem ähnliche Unterschiede immer wieder ähnliche Gestalten hervorbringen, die von kreisförmigen Umläufen zurückgebracht werden.

Damit eröffnet Hermann eine vielfache Einteilung dieser Unterschiede, was als Beschäftigung mit den Essenzen verstanden wird.

Die erste Einteilung ist eine in Bereiche wie Bekanntheit, Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit, in Latein celebris, probabilis und necessaria, wobei der Gegenstand im ersten die Anwendung des geprüften Wissens ist, in der zweiten den bekannten Personen und die dritte den Prognosen des Weltenlaufs durch den Umlauf der Gestirne gilt. Die Bekanntheit ist noch eingeteilt in jährlich, monatlich und täglich, die Wahrscheinlichkeit fünfteilig nach den Planeten Saturn, Jupiter, Mars, Venus, Merkur, die wieder dreigeteilt in der deren Punkt ihrer exzentrischen Umlaufbahn wie Perigäum, Apogäum und Drachenknotenpunkt (wo die Planetenbahn die Ekliptik kreuzt). Das Notwendige wird nach Abu Ma´shar in vier Zeiträume eingeteilt, wo die Umläufe und die Rückkehr bestimmter Planeten gemessen wird. Daraus werden dann die Überschwemmungen und Verbrennungen oder Dürren der Welt hergeleitet. Hermann bringt einige Beispiele aus der Mythologie und Dichtung, aber auch die Sintflut aus den heiligen Schriften.

Alle diese Einteilungen werden auch für die Geburts- und Jahreshoroskope verwendet, wobei der Aufenthalt bestimmter Planeten im Tierkreis Hinweise auf die Endpunkte und Erfolge des menschlichen Lebens geben. Über diese vielfältige prognostische Spekulation durch verschiedene Orte und wechselnde Bewegung der Zeit sieht Hermann die Astrologen auch imstande über verschiedene Zeitalter hinweg verschiedene Zustände des Menschengeschlechts und der Weltreiche zu beurteilen. So fällt die Regierung der Juden unter den Saturn, die Araber herrschen unter Venus und Mars, während das römische Imperium unter Sonne und Jupiter steht. Hermann merkt zu der römischen Herrschaft an, dass sie alle dem christlichen Glauben unterworfen sind und von der arabischen Sprache als Römer oder Nazarener bezeichnet werden.

 

Karl Bruckschwaiger

 

Nächste Sitzung: 14. Dezember 2022

Aristoteles, Metaphysik, Buch XIII, ab 1083b, 7

Mittwoch, 7. Dezember 2022

In der Metaphysik lesen (1083b 7 – 1084b 2)

 30. November 2022

 

Das Protokoll vom letzten Mal hat versucht, anhand der aristotelischen Auseinandersetzung mit der pythagoreischen sowie mit der platonischen Zahlenlehre eine Stoßrichtung zu formulieren, die über die engere Thematik dieser Auseinandersetzung hinausreicht und die vielleicht für die gesamte aristotelische Unternehmmung typisch ja entscheidend ist.

 

Man darf sich ja fragen, wieso nach den knappen aber dennoch beeindruckenden Ausführungen zur Theologie (XII, 6-10) die Bücher XIII und XIV das theoretische Niveau anscheinend abstürzen lassen und sich hartnäckig in einer bestimmten Kritik festbeißen, die nicht leicht verständlich ist.

 

Letztes Mal habe ich gemeint, daß Aristoteles damit – wenn auch mehr indirekt bzw. negativ - den Pluralismus seiner Ontologie bekräftigen will, wo schwächere und stärkere, überhaupt unterschiedliche Seinsgrade oder -tropen, nebeneinander zugelassen und behauptet werden.

 

Sophia Panteliadou hat zu meinen Ausführungen die Frage aufgeworfen, ob meine Rede vom „einai“ als schwächerer Seinsart gegenüber dem „hyparchein“, das ziemlich genau unserem „existieren“ und damit dem aristotelischen „abgetrennt sein“ entspreche, ob nicht diese Rede die aristotelische Auffassung von „einai“ verkürze und insofern entstelle.

 

Ich glaube, meine diesbezügliche Aussage war unzureichend. „Einai“ besagt nicht eine einfach schwächere Seinsart als „hyparchein“, es deutet auf ein größeres Spektrum von Seinsarten – von schwächeren bis zu stärkeren und überhaupt von mannigfaltigen. Es inkludiert auch die Bedeutung von „hyparchein“ sowie diejenige aller schwächeren, etwa der akzidentellen. Es legt einen flexiblen Charakter der Seiendheit nahe – der in dem berühmten Satz „to on pollachos legetai“ klar ausgedrückt wird.

 

Es geht also wirklich um das Spezifische der aristotelischen Ontologie.

 

Und dennoch kann die Stoßrichtung im Buch XIII auch noch einfacher und common sense - näher bestimmt werden.

 

Als Affirmation derjenigen Wissenschaft, die als die erste Wissenschaft innerhalb der theoretischen Wissenschaften genannt worden ist – und das ist die Physik.

 

Die Wissenschaft von den wahrnehmbaren, materiellen Dingen. Die abgetrennt, also extra sind, also „existieren“. Die Wichtigkeit der Dinge, auch ihre „Notwendigkeit“ für uns Menschen, die selber solche Dinge sind - also Körper, die hängt die sogenannte Metaphysik mit geradezu eifernder Eindringlichkeit ans Buch XII an. Und zwar in Auseinandersetzung mit Theorien, die den mathematischen Gegenständen eine höhere Seinsweise zusprechen als den gewöhnlichen Dingen.

 

Die Affirmation der Physik – nach den endlosen Ausführungen zur Ontologie und nach dem kurzen Abriß der Theologie, stört in gewisser Weise den Anspruch des Buches, über die bisherigen Bücher hinauszugehen. Diese Störung rückt jene zurecht.

 

Wenn diese Lektüre stimmt und wenn der Text auch noch im Buch XIV diese Stoßrichtung aufrechterhält, dann würde das Buch namens Metaphysik nicht nur die angekündigte Theologie relativ kurz ausführen, sie würde nicht nur die erst 2000 Jahre nach ihrer prekären Fertigstellung mit einer eigenen Benennung ausgezeichnete Ontologie einigermaßen ausführlich darstellen, sie würde auch den „Fortschritt“ oder den „Aufstieg“ oder die „Transzendenz“ von der Physik zur Metaphysik von jenem Überschwang freihalten, den das Präfix „meta“ bis heute immer wieder plakatiert (vor kurzem hat man das Universum durch ein sogenannte Metaversum überboten).

 

Sie würde auch das Schwungrad der Mathematisierung abbremsen, mit dem das Physische auf andere Weise aufgehoben oder ersetzt zu werden droht.

 

Unser Text bestätigt so eine Sicht.

 

„Die Pythagoreer jedoch setzen die Zahl mit den Dingen gleich; wenigstens wenden sie ihre Theorien in einem solchen Sinne auf die Körper an, als bestünden diese aus jenen Zahlen. Wenn es nun notwendig ist, daß die Zahl, sofern sie etwas von dem Seienden an sich ist, es in einer der erörterten Weisen ist, wenn sie es aber doch in keiner dieser Weisen sein kann, so ist offenkundig, daß es eben keine derartige Natur der Zahl gibt, wie sie diejenigen aufbauen, die die Zahl als getrennt annehmen.“ (1083b 17ff.)

 

Er wendet sich gegen die Ansicht, daß die Körper aus Zahlen zusammengesetzt seien.

 

Auch andere pythagoreische Ansichten führen zu selbstwidersprüchlichen Aussagen.

Eine besonders groteske Vermischung verschiedener Ebenen liegt dort vor, wo unterschiedliche Wesen wie die Arten der Lebewesen jeweils mit einer Zahl identifiziert werden und nur die Zahlen bis zur Zehn dafür in Frage kommen – obwohl doch die Arten der Lebewesen weit mehr sind. Hier wird deutlich, daß solche Theorien die Gesamtrealität einem Schema unterwerfen wollen, das „früher“ ist, das „apriori“ festlegt, was und wie geschieht.

 

Ein Machtanspruch der Theorie, den Aristoteles weder erhebt noch akzeptiert. Seine Physik ist eine Erfahrungswissenschaft – folglich auch eine diskutierbare und kritisierbare.

 

 

Walter Seitter

 

Montag, 28. November 2022

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 20 (69vB - 69vF) Seite 158, Z 14 bis Seite 160, Z 18 bei Burnett.

Mittwoch, den 23. November 2022

 

Zuerst erging an mich die Frage, ob sich Hermann als „physicus“ bezeichnen würde und ich bejahte die Frage, denn Hermann würde sich eher als astrologus denn als philosophus oder theologus betrachten. Da er sich mit Bewegungen von Körpern, seien sie auch von der Größe von Planeten, beschäftigt, kann man das Gebiet seiner Beschäftigung wohl zurecht mit Physik bezeichnen.

 

Der vorgelesene Text beginnt mit einer Verortung des Körpers im Raum. Jeder Körper muss einen Ort im Raum einnehmen und seine Grenzen selber müssen auch örtlich sein. Der Körper scheint daher eine umschreibbare oder eingrenzbare Substanz zu sein, die einen Sitz in einem Ort hat. Alle eingrenzbaren Körper oder Dinge sind Teile der Welt. Diese Teile der Welt sind durch Raum oder Zahl bestimmbar. Wenn man mit der Zahl zu den kleinsten Teilchen gehen will und mit dem Raum zu den größten Teilen, dann kommt man zum Unendlichen. Um das Unendliche zu vermeiden, wo es möglich ist, muss bei der Menge die Größe eingesetzt werden und bei der unendlichen Größe kann die Menge zu Hilfe kommen.

 

Damit scheint sich Hermann nicht nur mit Makrophysik und den Himmelskörpern zu beschäftigen, sondern auch mit der Mikrophysik der kleinsten Teilchen. Aber er kann sie nur postulieren, den es fehlt ihm der Zugang über das Sichtbare. Walter Seitter spricht dabei intervenierend von der Notwendigkeit eine Mesophysik einzuführen, eine Physik der sichtbaren Körper. Auch in der Mikrophysik und in der Makrophysik müssen die nicht-sichtbaren Körper durch Instrumente sichtbar gemacht werden.

 

Hermann besteht als Physiker auf den Ort und die bestimmbaren Grenzen alles Gemachten, und das gilt auch für körperlose Dinge wie die Seele, die sich im begrenzten Raum des einzelnen Körper aufhält und nach dem Tod im begrenzten des Himmels und der Erde. Aber es scheint daher, dass unkörperliche Dinge selbst keinen Ort haben, weil der Ort ein Akzidens des Körpers ist.

Ein Satz, der stark nach der Kategorienlehre des Aristoteles klingt.

Jetzt unterscheidet Hermann bei den unkörperlichen Dingen zwischen Substanz und Essenz, wobei letztere nur im Intellekt ist und dort nur der Möglichkeit nach besteht, während sie in Wirklichkeit nur im Subjekt bestehen kann. Ein unkörperliches Subjekt, wenn es nicht an einem Ort besteht, ist entweder nirgendwo oder überall. Hermann kennt nur ein einziges Subjekt, das als unkörperliche Substanz und Ganzes überall existiert.

 

Halten wir fest, das die Substanz durch sich selbst besteht, die Essenz durch das Subjekt. Die körperlichen Dinge sind durch ihre Lage im Raum bestimmt, während die unkörperlichen Dinge frei von der Menge und dem Ort sind, sind sie dennoch eine Grundlegung des körperlichen Sitzes.

Für Walter Seitter scheint diese Bestimmung der Essenz in den Gegenstandsbereich der Logik zu gehören, als Bestimmungen einer Substanz, die ohne Substanz oder Subjekt nur der Möglichkeit nach existiere.

 

Eigentlich hätte Hermann sein Werk Essentiis et Substantiis nennen sollen. Denn die Essenzen scheinen nur logische Möglichkeitsbedingungen für die Existenz von Substanzen festzulegen.

 

 

Karl Bruckschwaiger

 

Nächste Sitzung: 30. November 2022

Aristoteles, Metaphysik, Buch XIII, ab 1083b,7

Sonntag, 20. November 2022

In der Metaphysik lesen (1082b 25 – 1083b 7)

16. November 2022

 

Von den Zahlen geht eine starke Faszination aus. Einerseits auf solche, für die das Geld ein wichtiger Realitätsbereich ist, denn sie scheinen dem Wesen des Geldes sehr nahe zu stehen. Andererseits für solche, die sich für Theorie interessieren, denn man kann mit den Zahlen komplexe Fragestellungen konstruieren, die das Denken herausfordern und überprüfbare Lösungen zulassen.

 

Das war wohl in der Antike auch so und eine Philosophenschule wie die pythagoräische hat ihre gesamte Lehre mit Zahleneigenschaften und -operationen assoziiert, etwa indem sie den Gegensatz zwischen geraden und ungeraden Zahlen zum Grundgerüst der Welt gemacht hat oder die Zahlen von Eins bis Vier, deren Summe Zehn ergibt, zum Wesen des Menschen erklärt hat.

 

Eine mildere Form der engen Verschränkung von Zahlenwissen und Realitätserkenntnis liegt bei Platon vor und mit ihr setzt sich Aristoteles hauptsächlich auseinander – der selber die Physik für realitätshaltiger eingeschätzt hat, welche die selbständig existierenden Körper untersucht. Und doch gibt es auch bei ihm gewisse Inkonsequenzen, wenn er die Musik mit ihren unterschiedlichen Tönen und die Planeten mit ihren Bahnen zu Gegenständen der „angewandten Mathematik“ erklärt. Die neuzeitliche Physik ist auf diesem Weg weiter gegangen, indem sie das Messen zu ihrer privilegierten Beobachtungsmethode gemacht hat. Dies erst recht, als sie die von anderen antiken Physikern spekulativ erdachte Mikrophysik durch mikroskopische Beobachtungen operationalisiert hat, womit dann auch die Beherrschung der Natur, also die Steigerung der Menschenmacht einer angeblich trägen Materie gegenüber verstärkt wurde. Mit erwünschten Erfolgen und schließlich auch mit weniger erwünschten Nebenwirkungen. 

 

Wissenschaft ist nämlich in jedem Fall ein menschliches Agieren, das Zwecke verfolgt und erreichen kann.

 

Welche Zwecke das sein können - diese Frage hat Aristoteles klarer als andere gestellt und mit ihr in seine Tätigkeit und in ihre Gliederung eingebaut.

 

Er hat drei Zwecksetzungen namhaft gemacht und dementsprechend die poietischen (oder technischen), die praktischen und die theoretischen Wissenschaften unterschieden.

Innerhalb der theoretischen Wissenschaften unterschied er die Physik, die Mathematik und die Theologie.

Das später „Metaphysik“ genannte Buch hat er zumeist der Theologie zugerechnet, obwohl diese Thematik nur einen ganz geringen Teil ausmacht. Immerhin führt dieser Teil die in der Physik aufgeworfene Frage nach den Ursachen weiter und angeblich auch zu einem Ende, verläßt jedoch den Bereich der physischen Ursachen und kippt in eine psychisch-noetische Ursachenangabe, die allerdings mit interessanten qualitativen Angaben wie Lustrealisierung, Gutheit und Schönheit, Lebendigkeit angereichert wird

 

Allerdings versäumt es Aristoteles bzw. der auf uns gekommene Texttorso, die Themenverteilung der sogenannten Metaphysik zwischen Ontologie und Theologie explizit anzugeben. Die Ontologie wird zwar mit dem Leitsatz von der vielfachen Bedeutung des Seienden oder des Seins inhaltlich charakterisiert, aber als eigene Untersuchungsrichtung wird sie nicht statuiert. Die weitläufigen Ausführungen über die Seinsmodalitäten Wesen und Akzidenzien, Vermögen und Verwirklichung, Eines und Vieles, wahr und falsch bilden faktisch die Ontologie, die jedoch weder von der Physik noch von der Theologie abgegrenzt wird. Auch nicht von der Logik, aus der sie unmittelbar hervorzugehen scheint – man könnte sie sogar als „objektorientierte Logik“ bezeichnen. 

Ihr pluraler Charakter ist so entscheidend, daß man von einem „ontologischen Pluralismus“ bei Aristoteles sprechen kann - nicht zu verwechseln mit dem Meinungspluralismus, den es in der Philosophie wie auch anderswo gibt.

 

Der ontologische Pluralismus steht in scharfem Kontrast zur Charakterisierung des Unbewegten Bewegenden, auch Denkungsdenkung genannt – die einzige explizite aristotelische „Singularität“. Welche allerdings wesentliche Aspekte aller Seinsmodalitäten und sogar fast aller Realitätsbereiche in sich vereint. Die Seinsmodalitäten sind die diversen gerade genannten Dimensionen der Ontologie. Die Realitätsbereiche werden mit solchen Bezeichnungen wie Natur und Kunst, beseelt und unbeseelt, Tier und Mensch, vielleicht auch Mensch und Gott gefaßt.

Nun aber die hartnäckigen Kritiken an überzogenen Zahlentheorien, die wir im Buch XIII lesen – zu welcher Untersuchungsrichtung gehören sie? Am ehesten wohl doch zur Ontologie, zur Klärung der in den tatsächlichen Gegebenheiten vorliegenden Spannung Einheit-Vielheit.

 

Allerdings betätigt sich hier die ontologische Untersuchung weniger direkt als Betrachtung dieser Spannung bei den Objekten sondern sozusagen intersubjektiv oder intertheoretisch als Kritik an bestimmten Auffassungen von Einheit und Vielheit, als Kritik von Verständnissen der Zahlen, Verständnissen bei bekannten Theoretikern von sogenannten Vorsokratikern bis zum bekanntesten Nach- bzw. Hauptsokratiker Platon, bei dem Aristoteles selber zwanzig Jahre lang als Schüler dann wohl auch als wissenschaftliche Hilfskraft oder gar als jüngerer Kollege dazugehört hat. Sodaß er selber als Platoniker gelten müßte, wäre da nicht der große Dissens über die Ideenlehre, der auch auf das Zahlenverständnis übergreift. 

Es handelt sich also um Darstellung und Kritik bestimmter Lehrmeinungen, wobei die Kritik manchmal ins Polemische gerät.

Läßt sich erahnen, warum Aristoteles bei dieser anscheinend rein abstrakten Thematik ins Polemisieren gerät, obwohl er doch kaum als aggressiver Typ bekannt ist.

 

Warum diese Hartnäckigkeit und dieser scharfe Ton gegen eine Überhöhung und Sakralisierung der Zahlen, die unbestreitbar irgendwie gegeben sind und vielfach wiederholt und gebraucht werden? 

Er wendet sich dagegen, daß man den Zahlen eine höhere oder auch nur gleichwertige Seinsweise zuspricht – als oder wie den Entitäten, die allein (oder fast allein) im vollen Sinn des Wortes „abgetrennt“ existieren, also „existieren“ im strengen Sinn (der im lateinischen Wort sehr gut zu hören ist, wenn man hören kann). Das präzise und deutliche griechische Wort dafür würde am ehesten lauten hyparchein und vielleicht auch noch energein, wenn dieses medial oder intransitiv verstanden werden könnte. Hingegen das Grundwort der Ontologie, das einai, das ist ein eher schwaches sein, gegeben sein - und daher als flexibles Grundwort geeignet, das unterschiedliche Modalitäten, Intensitäten, Versionen oder Wendungen oder Tropen des „seins“, das ich hier lieber klein schreibe, um es richtig anzuschreiben. Richtig in seiner Bescheidenheit, Wendigkeit, Resilienz.

 

Wem aber kommt das starke Sein, das Existieren, das selbständige Vorkommen und Auftreten zu? Das Wirklichsein, das Seiendsein, wie Platon sagen würde, der es aber gerade nicht so zuteilt wie Aristoteles. Der nämlich verleiht den Ehrentitel des starken „Seins“ den – Körpern. Den Pflanzen, den Wassern, den Lüften, den Erden (und zwar allen, nicht nur den sogenannten seltenen, die jetzt in der Zeitung stehen, weil sie knapp werden, sondern allen, es werden nämlich alle knapp, die Sande und die fruchtbaren Böden und so weiter)[1] und so weiter. Und den Tieren und Menschen und Sternen.

 

Nur solchen komplizierten Dingen, die aus Stoff und Form zusammengesetzt sind, aus Wesen und Akzidenzien, aus Einheit und Vielheit, aus Möglichem und Wirklichem und so weiter – spricht er die Leistung des vollen Seins zu. 

 

Den zusammengesetzten Dingen, den physischen oder materiellen Dingen. Das können zur Not auch künstliche Dinge sein – wie Statuen, Häuser, vielleicht sogar Dingen, die hauptsächlich aus Sprache bestehen, wenn sie gut gemacht sind, zum Beispiel Tragödien. Vielleicht sogar Büchern, wenn sie gut komponiert sind – wie etwa die Poetik. Die allerdings ist schwer beschädigt, da das sogenannte Zweite Buch verloren gegangen ist. Aristoteles hat die Beschädigten in sein Begriffslexikon aufgenommen und von den Zerstörten unterschieden, welche nur noch aus Zusammensetzungsteilen bestehen, die auf einer niedrigeren Stufe auch noch existieren, nämlich als Tonscherben, Inschriftreste oder so. Nur mit Nachsicht kann das Buch namens Metaphysik als Gesamtwerk als seiend betrachtet werden. 

 

Wenn wir dem Buch diese Nachsicht nicht schenken durch Nachlesen, Nachschauen, Nachdenken und Nachreden, wenn es nur so herumliegt als unverständliches langweiliges Buchstaben- und Wörterkonglomerat, das trotz Vorlesung der Protokolle immer wieder vergessen wird, oder gar nur als fliegendes Blätterchaos, das nicht mehr geordnet werden kann, dann ist es eben nur so ein Materialienkonglomerat - aber immer noch wirklicher als irgendeine pure Zahl oder eine bloße Form.

 

Das heißt das endlose Herumkritisieren an überzogenen Zahlentheorien wird von zwei Motiven bewegt hervorgerufen und erzeugt: 

 

erstens von einem positiven Motiv nämlich von der Überzeugung, daß die materiellen Dinge realer aktueller und akuter sind als alle rein gedanklichen Dinge mögen die auch noch so rein und erhaben und großartig sein (nur ein einziges Ding stellt Aristoteles über die materiellen Dinge (stattet es jedoch mit fast allen positiven Eigenschaften materieller Dinge aus – was für eines?)).

 

Dieses Motiv könnte man als „Materialismus“ bezeichnen – wäre nicht dieser Ausdruck seit dem 18. oder 19. Jahrhundert nach Christus von modernen das heißt einseitigen und fanatischen Theorien angeeignet und mißbraucht worden. Man sollte es eher als „Materialistik“ bezeichnen – das ist kein weltanschauliches Meinen sondern ein Ensemble von kognitiven Vorgangsweisen (so wie der Zugang zum Deutschen nicht durch einen „Germanismus“ erreicht werden kann sondern eher durch Methoden der „Germanistik“). 

 

Zu den materiellen Dingen gehören allerdings nicht nur armselige, beschädigte oder abfallartige, sondern auch schöne: also schöne Statuen oder schöne Frauen oder schöne Landschaften, Seeschaften.

 

Als negatives Motiv der aristotelischen Zahlentheorie-Kritik vermute ich einen polemischen Widerspruch, eine zornige Ablehnung, ja eine vorausschauende Angst vor einer erkenntnispolitischen Einstellung ja Weichenstellung, welche das menschliche Denken, auch das genialste, gerade das genialste, über alles stellt, was gedacht, erforscht, untersucht und erkannt werden kann, also auch über die möglichen Objekte, insbesondere die real existierenden Objekte. 

 

 

In unserem Text nimmt diese verkehrte und verhängnisvolle Weichenstellung die Form des Zahlenfetischismus oder Mathematismus an. Der mag sich bei Pythagoras und eventuell bei Platon noch relativ harmlos, weil eingebettet in ein grosso modo  richtiges Wirklichkeitsverständnis ausnehmen. Aber wenn die Mathematik – oder jede andere Wissenschaft – ihren speziellen Realitätszugang oder auch nur ihre spezifischen Objekte unverhältnismäßig überwertet, ist die Bahn in schwerwiegende Illusionen, Irrtümer und sogar Leugnungen offen.

 

„Mathematismus“ – dieser Ausdruck ist mir jetzt gerade für die bei Aristoteles auftauchende Problematik eingefallen. Vermutlich in Anlehnung an den Begriff „Szientismus“, der am Anfang des 20. Jahrhunderts für die Option eingeführt worden ist, wonach alle Probleme, die theoretischen, die technischen und die praktischen, von den Wissenschaften, vornehmlich von den Naturwissenschaften, gelöst und zwar endgültig gelöst werden können und weil können auch sollen und womöglich müssen.

 

Damit beziehe ich die aristotelischen Ausführungen des Buches XIII auf eine größere Problemstellung, die sich durch die Mathematisierung der Naturwissenschaften seit der frühen Neuzeit aufgebaut hat und von vielen Naturwissenschaftlern, Wissenschaftstheoretikern, Philosophen zum Thema gemacht wird. So auch von meinem Lehrer Eric Voegelin. Neuerdings von Bruno Latour, der in der Moderne ein großes Reinemachen am Werk gesehen hat. 

 

Die Mathematisierung der Naturwissenschaft ist keineswegs eine rein theoretische oder „akademische“ Angelegenheit. Sie ging Hand in Hand mit einer Abwertung, einer Entmächtigung des Objekts „Natur“. Und mit einer korrelativen Steigerung der Menschenmacht – wie sich zeigt, eine teilweise illusorische Unternehmung.

 

Man muß aber nicht unterschlagen, daß die aristotelische Theorietradition, die seit der Spätantike eine abwechselnd starke Rolle gespielt hat, auch erkenntnisblockierend gewirkt haben dürfte. Im Rahmen einer Gelehrsamkeit, die das Bücherwissen über die Sachkennntnis gestellt hat: „Biblizismus“ auch außerhalb der christlichen Religion und „Logizismus“ als Verabsolutierung der Logik, ein verhängnisvoller Irrweg, dem mathematizistischen nicht unähnlich.

 

Walter Seitter

 




[1] Siehe I. Gurschler, A. L. Hofbauer, A. Klose (Hg.): Erden. Naturphilosophische Brocken (Wien 2022)

Sonntag, 13. November 2022

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 18 (69rF - 69vB) Seite 156, Z 7 bis Seite 158, Z 14 bei Burnett.

Mittwoch, den 9. November 2022 

Zu Beginn der Sitzung gab es ein Gespräch über Musik, insbesondere was notwendig sei, um Musik hören zu können. Zum einen bedarf es einen Körper der hören kann, der die Laute unterscheiden und aufnehmen kann. Während Maximilian einen tieferen und höheren Ton anstimmte, lenkte Walter die Diskussion auf die räumliche Metaphorik unserer Sprache über Musik. Wir sprechen von höher und tiefer, obwohl der räumliche Aspekt nicht in den Tönen liegt, sondern in unserer Gewohnheit, es derart einzuordnen. Vielleicht auch von der Notenschrift selbst herkommend, wo tiefere Töne weiter unten angeschrieben werden im Notationssytem. Aber ich bin nicht die Person, die dazu viel beitragen kann, denn, obwohl ich die räumliche Rede über die Töne verstehe, ist für mich die Tonhöhe nicht so leicht zu hören und ich muss darüber immer nachdenken, bevor ich es entscheiden kann, während für andere das fast intuitiv klar zu sein scheint.

 

Der vorgelesene Abschnitt aus „De Essentiis“ hat von Burnett den Zwischentitel „die verschiedenen Bewegungen der zweiten Zeugung“ erhalten.

Diese sekundäre Zeugung ist die universelle Bewegung des vergänglich Gezeugten. Das ist der Leitsatz dieses Abschnitts und von da aus beginnt Hermann mit den Aufteilungen und Differenzierungen der Bewegungen und des vergänglich Gezeugten, occidua genitura. Es beginnt mit einer Unterscheidung der Bewegungen in Verschiebung und Veränderung, alteritate. Während Verschiebung sich zwischen der ersten und zweiten Zusammensetzung abspielt, betrifft die Veränderung den Habitus und den Affekt. Hier auch wieder die Schwierigkeit Habitus so zu übersetzen, dass die Übersetzung zu den anderen Verwendungen im Text passt. Während sich Verschiebung auf das Entstehen und Vergehen von Körpern selbst bezieht, wie aus Materie durch Information eine Substanz hervorgeht, ist die Veränderung ein Ab- und Zunehmen von Quantitäten und Qualitäten, wobei auch Ort und Zeit eingeschlossen sind.

Wenn Hermann vom Habitus als einer Veränderung zwischen Extremen und Mittleren spricht und ein Verhältnis zu den Affekten herstellt, fühlt man sich deutlich an das 2. Buch der Nikomachischen Ethik erinnert, wo es heißt:

„Mit Dispositionen (hexis/habitus) schließlich ist das gemeint, kraft dessen wir den Affekten gegenüber gut oder schlecht disponiert sind.“[1]

 

Ross übersetzt habitus mit „state“, Burnett belässt habitus immer unübersetzt.

Im Deutschen übersetzt Dirlmeier hexis mit „Grundhaltung“, Gigon mit „Eigenschaft“, Rolfes mit „Beschaffenheit“ und Wolff mit „Disposition“.

Eine Regulation der Affekte durch eine ethische hexis oder habitus interessiert Hermann nicht so sehr, sondern eher der Ablaufplan der Zeugungen. So wird das vergänglich Gezeugte, in Imitation der Natur, die sie hervorgebracht hat, in dreifacher Anordnung/habitudine aufgestellt. Hier würde auch Disposition passen.

Die Dispositionen sind der Schoß der Mutter, im lateinischen Original steht: infra gremium parentis, im Schoß des Elternteils, parentis ist Singular, Walter plädiert zuerst für Mutter, dann für Gebärende, ist alles richtig. Die beiden anderen Dispositionen sind Ort und Zeit.

 

Womit wir beim Ort als eine der Bedingungen des sekundär Gezeugten wären. So spricht Hermann zunächst davon das Ort und Zeit als Quantitäten gefasst werden, nämlich des Raumes und der Bewegung. Es folgt eine Definition des Raumes, die stark an Körper und seine Grenzen angelehnt ist. Das erweckt das Interesse von Walter ganz besonders und er korrigiert meine Übersetzung auch dahingehend, und sie stimmt durchaus besser mit dem lateinischen Original überein. Sie lautet:

„Wir nennen einen Raum das ganze Intervall des Körpers, das sich zwischen seinen Grenzen erstreckt.“

 

Karl Bruckschwaiger

 

 

Nächste Sitzung: 16. November 2022

Aristoteles, 13. Buch, ab 1082b,24



[1] Aristoteles, Nikomachische Ethik 1105b, Z 25f. Übers. v. Ursula Wolff