τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Mittwoch, 28. Oktober 2020

In der Metaphysik lesen (1065b 17 – 27)

In der Sitzung vom 28. Oktober 2020 kommen wir auf den qua-operator zurück, den Aristoteles in seiner Formel für den Gegenstand der Ontologie immer wieder einsetzt: „das Seiende als seiendes“. Eine Art Potenzierung des „Seienden“, das sein Grundwort bildet, welches er von vielen Vorgängern übernommen hat. Die als-Potenzierung oder –Zuspitzung scheint seine Erfindung zu sein und sie zeigt an, dass die aristotelische Ontologie eine ganz eigenwillige Unternehmung ist, die nicht einmal von der Definition der Metaphysik genau getroffen wird, welche nach „Prinzipien“ sucht, während der „Wissenschaft vom Seienden als seienden“ ein bestimmtes wenngleich abstraktes Objekt zugewiesen wird, das allerdings so eine als-Verdoppelung erfährt. 

 

In dem zuletzt öfter herbeizitierten Anfang von Kap. 10 von Buch IX setzt Aristoteles statt „Seiendes als seiendes“ ein: „das Seiende und das Nicht-Seiende“. Die Einsetzung erfolgt so, dass man in dieser Formel ein Synonym für die viel häufiger gebrauchte als-Formel sehen darf.

 

Schematisch angeschrieben schaut das so aus:

 

Seiendes als seiendes  =  Seiendes und Nicht-Seiendes

 

Ist diese Gleichsetzung irgendwie plausibel oder gar einsichtig?

 

Bernd Schmeikal stellt eindringlich die Frage nach der Qualität unseres Redens, Fragens, Wahrnehmens bei all diesem Reden von Ontologie. Wenn dieses mehr sein soll als eitles Getue, wenn es mit Erkenntnis irgendetwas zu tun haben soll, dann ist diese Frage ganz ernst zu nehmen.

 

Ich schreibe obige Gleichsetzung jetzt noch einmal und etwas anders an:

 

Seiendes als seiendes    Seiendes und Nicht-Seiendes

 

Der Pfeil in der Mitte, der von rechts nach links zeigt, sollte viel größer sein, wozu mein Computer anscheinend nicht in der Lage ist. 

 

Meine Behauptung ist, dass die rechte Formel, die das Seiende mit dem Nicht-Seienden konfrontiert, die linke Formel mit dem „als“ verständlich machen kann.

 

Als seiendes profiliert sich das Seiende durch die Absetzung vom Nicht-Seienden. In dieser Absetzung muß sich das Seiende behaupten, bewähren – eben seine Seiendheit unter Beweis stellen. 

 

Heidegger hat dafür die schon zitierte Formulierung „Ens qua ens ex nihilo fit“ gefunden.[1]

 

Meine zweite Formel verweist auf die „meontologische“ Richtung der Ontologie, welche sich auf die schwächeren Seinsmodalitäten wie Akzidenzien, Möglichkeit, falsch, vielheitlich, Vergehen einlässt bzw. sie immer noch auf die Seite des Seienden herüberzieht. Ich nenne diese Richtung auch die „minimalontologische“ und habe so etwas auch schon lange vor meiner Auseinandersetzung mit Aristoteles ins Auge gefasst. Hauptsächlich in meiner Beschäftigung mit Michel Foucault und Paul Cézanne und unter dem Titel der Erscheinungen, denen wir es ja überhaupt verdanken, dass wir zu Wirklichem Zugang haben, dass wir von Wirklichem sprechen können, ohne purer Einbildung ausgeliefert zu sein. Aber natürlich haben die Erscheinungen ihre Tücken.[2]

 

Die verblüffendste Geste in Richtung Minimalontologie, die uns bisher bei Aristoteles auffallen musste, die wir lesend sehen durften, weil wir versuchen, sehend zu lesen, ist wohl seine Aufnahme des Kaum-Begriffs „verstümmelt“ in das Begriffslexikon von Buch V.[3] Ein Begriff, der kaum einer ist und somit begriffspolitisch selber auf die Seite des Minimalismus gehört. Und ein Wort, das in jeder Nachkriegsgesellschaft ein normales ist. 

 

Haben wir von dieser Erkenntnisproblematik und –schwierigkeit im Zuge unserer bisherigen Ontologie-Lektüre schon gehört? Ja ganz massiv im Kapitel 5 und 6 von Buch IV, wo sich Aristoteles mit dem Phänomenalismus des Protagoras auseinandersetzt, der alle Erscheinungen für wahr halten möchte, und dann im oben erwähnten Kapitel 10 von Buch IX, wo erklärt wird, dass das Seiende und das Nicht-Seiende als das Wahre und das Falsche ausgesagt wird, wo also die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Erscheinungen thematisiert wird. Da wird die phänomenische oder kognitive Dimension der Ontologie angedeutet: auch sie keine einfache Linie, sondern eine Polarität oder Verzweigung, in der Minimal- und Maximalontologie sich voneinander abheben.

 

Die maximalontologische Richtung zielt auf Wesen, Verwirklichung, Werden, ein und wahr – und letzten Endes auf die „Theologie“, nach der Aristoteles die Metaphysik, also auch die gesamte Ontologie benennen möchte – obwohl das gar nicht stimmt, weil ja die Theologie auf ein „abgetrenntes“ Wesen zielt. 

 

Aristoteles lesen, besser gesagt, den Text lesen und weiterlesen, obwohl er angeblich ständig irgendetwas wiederholt, heißt auch ihn zurechtrücken und weiterschreiben und umschreiben. So wie er selber mit seinem Weiterschreiben seine „Wissenschaft“ umschreibt.

 

Es stellt sich die Frage, ob die meontologische Minimalstufe der Ontologie die einzige Basis zur Verdeutlichung des Seienden als seienden darstellt, oder ob dieses auch aus sich selber, also positiv, einsichtig ist und formuliert werden kann. Minimum und Maximum klingen ja sehr quantitativ – aber was wird auf diese Weise quantitativ eingestuft? Die aristotelische Antwort wäre wohl: das seiend Sein, eine moderne Formulierung würde sagen: die Intensität, die Wirklichkeitsintensität.

 

Sagen wir also: die Seinsintensität. Und die wird zwischen dem maximalen Grad des Wesens, der Verwirklichung, des Wahren und dem minimalen Grad diverser angeblicher Nicht-Seiender wie Akzidens, bloß Mögliches, Falsches ... eingestuft.

 

Sophia Panteliadou betont, dass beim sogenannten Vermögen zwei Bedeutungen zu unterscheiden sind: das der Möglichkeit nach Seiende, das nenne ich das bloß Mögliche; und das Vermögen zu einer Tätigkeit, das der vorphilosophischen Bedeutung von Kraft oder Fähigkeit näherbleibt. 

 

Indem er für die Dimension Vermögen-Verwirklichung das Hausbauen als Beispiel einführt, rückt Aristoteles selber von der rein theoretischen Wissenschaftslinie ab, auf die er doch die gesuchte und ganz neue Wissenschaft bringen will.  

 

Das Hausbauen ist eine Kunstfertigkeit, deren Resultate so oder so, besser oder schlechter ausfallen, und die an sie anschließende Wissenschaft, die Baukunstlehre ist eine technische oder poietische Wissenschaft, die auch andere Fragen stellt als rein theoretische.

 

So stellt Bernd Schmeikal die „unmögliche“ Frage, ob man erdbebensichere Häuser bauen kann. Diese Frage kann eine ordentliche Baukunstlehre gar nicht vermeiden, wenn sie ihrem Anspruch gerecht werden will; und sie geht sogar über das Technische hinaus, sie reicht in die praktischen Wissenschaften hinein, denn es geht um das Wohl und Weh von Bewohnern. Wie ja schon die ausführliche Behandlung des Komplexes Vermögen-Verwirklichung im Buch IX Grundbegriffe der Ethik berührt hat, nämlich die Unterscheidung zwischen zielorientiertem und selbstzweckhaftem Tun (siehe 1050a 30ff.).  

 

In unserer Stelle vermehrt der Text die Grade der Seiendheit, indem er über dem Vermögen nicht bloß die Verwirklichung sondern auch die Vollendung platziert. 

 

Zwischen Minimum und Maximum erstreckt sich die Ontologie gewissermaßen vertikal: von unten nach oben. Aber ihre unterschiedlichen Dimensionen bilden mehr oder weniger parallele Stränge und zeichnen – metaphorisch – eine Struktur aus schwächeren und stärkeren sowie verschiedenartigen Seinsmodalitäten. Diese Stränge sind insofern parallel, als sie verschiedenartig sind; aber insofern auch weniger parallel, als sie ineinandergreifen – wie etwa die Veränderung und die Kategorien. 

 

Wenn mit den Veränderungen menschliche Tätigkeiten gemeint sind, und das dürfte zumeist der Fall sein, siehe die obige Aufzählung, die mit Lernen, Heilen ... (1065b 19) beginnt, dann dürfte die rein theoretische Richtung ins Wanken kommen und die gesuchte Wissenschaft müsste einen anderen Charakter annehmen. 

 

Walter Seitter

 


[1] Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 80.

[2] Siehe Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997)

[3] Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 210ff.

Mittwoch, 21. Oktober 2020

In der Metaphysik lesen (1065b 5 – 25)

  Verena Stauffer ist eine Schriftstellerin, die in Wien Philosophie studiert hat und vor kurzem einen Gedichtband herausgegeben hat, der den Titel Ousia trägt. Es ist anzunehmen, dass mit dem Wort der Begriff gemeint ist, der vor allem bei Aristoteles zu einem Hauptbegriff geworden ist und der, wiewohl er in späteren Jahrhunderten auch in die Formulierung christlicher Dogmen eingegangen ist, keineswegs als ein „durchschlagender theologischer Begriff“ gelten kann (auch wenn ein Rezensent in der FAZ das gemeint hat).

 

Aber Unkenntnis oder Erkenntnisverweigerung findet sich sogar bei ausgewiesenen Fachleuten. So bei Christof Rapp, dem Mitherausgeber des umfangreichen Werks Aristoteles-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung (Stuttgart-Weimar 2011). Darin hat er den Artikel zur Metaphysik, also zu dem so genannten Buch verfasst. In der Kommentierung der Einzelbücher I bis XIV hat das Buch XI das Pech, mit folgender Inhaltsangabe abgespeist zu werden. Ich zitiere vollständig: „Buch K (Kappa bzw. Buch XI) enthält lediglich Dubletten, Nachschriften, Zusammenfassungen (s.o)“ (S. 130). 

 

Kein anderes Einzelbuch wird so abgefertigt bzw. dem Interessenten madig gemacht. Ich kann natürlich nicht behaupten, dass Rapp das Buch gar nicht gelesen hat und dass er diese Auskunft nur überall abgeschrieben hat, denn die kann man überall abschreiben. Ein solches Handbuch ist ja auch dazu da, Leuten, die vielleicht Aristoteles lesen wollen, Hinweise zu geben. So aber wird nur das Nicht-Lesen von Buch XI propagiert und weiterverbreitet. Wiederholung des Nicht-Lesens. Eine pädagogische Katastrophe. 

 

Noch eine andere ähnlich gravierende Fehlleistung von Rapp ist mir aufgefallen. Beim Buch IX macht er kurze Angaben zu jedem Kapitel: von 1 bis 9. Das Kapitel 10 fällt einfach weg. Vielleicht weil dieses Kapitel einen Themenwechsel vollzieht: es handelt nicht mehr von Vermögen-Verwirklichung – sondern nach einer kurzen und originellen Zusammenfassung des ontologischen Erkenntnisprogramms – handelt es von einer neuen Dimension innerhalb der Ontologie, nämlich von der Polarität wahr-falsch. Damit gibt Rapp zu erkennen, dass er, obwohl er das aristotelische Schwanken zwischen Ontologie und Theologie einigermaßen richtig einschätzt, die komplexe Durchführung der Ontologie mit ihren verschiedenen vier oder fünf Polaritätsachsen überhaupt nicht genau erfasst. Auch eine Art Offenbarungseid.

 

Aus seiner pauschalen Fehlleistung in bezug auf Buch XI können wir aber, wenn wir schlau sind (oder François Jullien folgen), profitieren, indem wir als Leser ein zusätzliches Erkenntnisinteresse entwickeln und diese so genannte Metaphysik als Text betrachten, als Textoperation, als mehr oder weniger, vor allem weniger geordnete Textmasse - die tatsächlich mit „Dubletten, Nachschriften, Zusammenfassungen“ arbeitet, den Text ausbaut, in die Länge zieht, speziell die in Aussicht gestellte Theologie hinausschiebt und hinausschiebt, obwohl doch wie es scheint das ganze riesige Gesamtwerk so genannt wird. Die Ontologie, die von ihm nicht, noch nicht titulierte, ist offensichtlich auch noch gar nicht halbwegs vollständig entfaltet worden und darum zieht sie als Erkenntnisaufgabe oder -problem den Text hinaus, damit vielleicht noch die eine oder andere Wiederholung oder Abwandlung, Variation oder Modulation einen Wörterfunken oder Geistesblitz erzeugt, der vielleicht sogar die Ontologie aus dem Prokrustesbett einer sogenannten theoretischen Wissenschaft herausreißt und ihr noch andere, noch anderere Dimensionen eröffnet. Aristoteles weiterschreiben durch langsames, diskussives und notfalls polemisches Weiterlesen.

 

Das Buch XI, das von Christof Rapp dermaßen auf Null reduziert worden ist, wird hier seit dem 27. Mai 2020 in bisher elf Sitzungen gelesen und zum Nachlesen dokumentiert und zuletzt dürfte sich gezeigt haben, dass der Text, obwohl er nein weil er altbekannte Begriffe und Fragestellungen wieder und wieder hin und her wendet, sehr wohl neue Klarstellungen, auch neue Begriffsbildungen erzeugt.

 

In Abschnitt 7 ist ausgehend von der Gesamtklassifikation der Wissenschaften die Frage ventiliert worden, wie die „dritte“ theoretische Wissenschaft zusätzlich zu Physik und Mathematik zu bestimmen sei. Offenbar reichen Physik und Mathematik nicht aus, um die ersten Prinzipien und Ursachen aller Seienden zu erkennen, und da entstand bei Aristoteles der Eindruck, es müsse eine Wissenschaft von einem Göttlichen produziert werden, um dem Streben nach Wissen auf die Sprünge zu helfen. So ist schon im Buch I das Projekt einer „gesuchten Wissenschaft“ skizziert worden, die später als „Theologie“ bezeichnet wird. 

 

Aber seine Fragestellung ist so weit gespannt, dass sie mit einer Wissenschaft von einem noch so hohen Gegenstand keine befriedigende Antwort finden kann. Daher baut Aristoteles das Projekt der neuen, der zusätzlichen Wissenschaft so um, dass sie näher an die schon bestehenden Wissenschaften angeschlossen wird und da gibt es ja nicht nur Physik und Mathematik sondern auch völlig andere Wissenschaftsgattungen, die nicht auf die Betrachtung von Gegenständen festgelegt sind, sondern sich mit der Problematisierung, womöglich mit der Steigerung menschlicher Tätigkeiten beschäftigen. Mit dem  Denken beschäftigen sich die logischen Wissenschaften, die von Aristoteles auch die analytischen oder topischen genannt werden (dazu gehört die Kategorienlehre); mit dem Hervorbringen schöner und nützlicher Dinge, zum Beispiel guter Reden und Dichtungen und Häuser und Gesundheit beschäftigen sich die verschiedenen poietischen Wissenschaften; mit Überlegungen und Entscheidungen, die zu erträglichem oder gar erfreulichem Menschenverhalten führen, beschäftigen sich die praktischen Wissenschaften Ethik, Politik, Ökonomik.

 

Zwischen allen diesen Wissenschaften, die zu einem erheblichen Teil von Aristoteles selber begründet worden sind, irgendwo zwischen und unter und über ihnen schwebt ihm das Desiderat einer zusätzlichen Wissenschaft von den ersten Prinzipien vor. Eine neuen Wissenschaft, die allerdings auch an viel ältere Wissensbestände wie Göttergeschichten, Mythen und Weisheit anknüpfen soll, jedenfalls deren Wissensleistungen nicht einfach vergessen und verwerfen sondern womöglich erneuern und bewahren soll.

 

Diese Wissenschaft ist so neu, dass sie gerade erst jetzt, im Verlauf dieser jetzt von uns gelesenen Textmasse entsteht und in deren Buch XI anscheinend noch nicht abgeschlossen ist. Denn wir sehen ja, aber nur wenn wir lesen und sehen, dass hier wieder einmal, wie schon im Buch VI, der Name „Theologie“ für diese Wissenschaft vorgeschlagen wird. Aber es ist offensichtlich, dass dieser Name kaum passt, da die umfangreichsten Ausführungen des Gesamtwerks keineswegs in die Richtung eines höchsten und stärksten Wesens gehen sondern eher in die gegenteilige Richtung vielfältigster Seinsmodalitäten, die insgesamt so allgemein sind, dass sie bis zum Niedrigsten, zum Gemeinen, zum Nichtigen gehen. 

 

Diese Erkenntnisrichtung, die später den Namen „Ontologie“ bekommen hat, nimmt es auf sich, auch die schwächsten Seinsmodalitäten, und zu denen gehören die Akzidenzien, die sogar von Aristoteles dem Nicht-Seienden zugerechnet und aus der Wissenschaft ausgeschlossen worden sind, in eine neuartige Wissenschaft zu integrieren. Die Ontologie lässt sich zur Meontologie herab, verwandelt sich partiell in sie. Diese revisionäre Wissenschaft mutet Aristoteles sich selber zu, wenn er sich vornimmt, „zu versuchen zu sehen, was eigentlich das Akzidens ist“ – von dem es gar keine Wissenschaft geben kann. (1964b 30f.) Das Wissensstreben muß so einen paradoxen Sehversuch auf sich nehmen, damit so eine komplexe Wissenschaft realisiert werden kann, für die der Titel „Theologie“ bestimmt nicht ausreicht.

 

 

Auch in dem oben erwähnten weil von Rapp ignorierten Kapitel 10 von Buch IX bekommt die Programmatik der Ontologie eine deutliche Schlagseite zur Meontologie – denn da heißt es, dass „das Seiende und das Nicht-Seiende teils nach den Formen der Kategorien, teils nach deren Vermögen oder Verwirklichung oder deren Gegenteil, teils aber das Seiende im eigentlichsten Sinne das Wahre oder Falsche ist ...“ (1051b 34ff.)

 

Die Wissenschaft vom Seienden als seienden ist so großzügig und subtil, dass sie diverse Formen des Nicht-Seienden ebenso einbezieht wie das Falsche (was immer das sein mag, siehe dazu das Stichwort im Begriffslexikon im Buch V).

 

Im Abschnitt 9 kommt Aristoteles auf eine andere Dimension der Ontologie zurück, nämlich auf die im Buch IX ausführlich entfaltete Polarität von Wirklichkeit und Möglichkeit, wobei diese im Kontrast zu jener ebenfalls in die Nähe oder den Anschein von Nicht-Seiendem gerät. Daß Aristoteles diese Modalität extra ins Auge fasst und mit einem positiven Begriff, nämlich Möglichkeit, bezeichnet, darin sehen viele – so auch Rémi Brague (wie Gerhard Weinberger bemerkt) – eine der entscheidendsten Leistungen von Aristoteles, der gerade nicht wie Parmenides oder Platon oder wohl auch manche Moderne bloß einen bloß negativen Begriff eingesetzt hat, womit jedenfalls in der Moderne ein Faszinationseffekt erreicht werden könnte.

 

Hier geht es allerdings um Wirklichkeit und Möglichkeit als Bedingung für Bewegungen, d. h. für Veränderungen, die immer an Dingen stattfinden und somit in den Formen der Kategorien des Seienden. Hier werden also zwei Dimensionen der Ontologie zusammengeführt, was der Struktur dieser mehrdimensionalen Wissenschaft vollkommen entspricht.

 

Das Beispiel, das Aristoteles jetzt wählt, ist das des Hausbauens, das sich auffallend häufig durch die Metaphysik zieht, womit er die bei uns verbreitete Vorstellung von antiker Architektur eher enttäuscht. Daß es nur ein Beispiel ist, unterstreicht er sofort mit der Bemerkung, er könnte ebenso gut vom Lernen, vom Heilen, vom Gehen, vom Springen, vom Altern, vom Reifen sprechen. Alles dies läuft bei ihm unter „Bewegung“, womit keineswegs nur Ortsveränderung gemeint ist, sondern auch Quantitäts-, Qualitäts-, Wesensveränderung. Wenn das Erbaubare, das ein Mögliches ist, einen Verwirklichungs-, oft sagt Aristoteles auch einen Vollendungsanstoß bekommt, setzt die Bautätigkeit ein, die eine Bewegung, eine Veränderung ist. Dann ist die Bewegung selber eine Vollendung. Eine vorherige Vollendung liegt aber bereits in der Existenz der Baumaterialien, welche die Möglichkeit zur Bautätigkeit enthält. Werden die Baumaterialien, sofern sie bewegbar sind, der Vollendung nach verwirklicht, kommt es zum Bauen. 

 

Dieses „sofern“, das in anderen syntaktischen Konstruktionen durch „als“ ausgedrückt wird, bezeichnet eine wichtige Analyse-Funktion im aristotelischen Denken, heute wird sie auch „qua-operator“ genannt.

 

Was dieser qua-operator in der Formel das „Seiende als seiendes“ bedeutet, lässt sich vielleicht mit der Ersetzung durch die Formel das „Seiende und Nicht-Seiende“ klären.

 

 

Walter Seitter

Mittwoch, 14. Oktober 2020

In der Metaphysik lesen (1063b 35 – 1065b 4)

   Der momentane amerikanische Wahlkampf hat auch ein erfreuliches Detail zustandegebracht, indem der amtierende Vizepräsident in Anspielung auf Hautfarbengeschichten der demokratischen Gegenkandidatin zur „historischen Natur“ ihrer Kandidatur gratuliert hat. Ein hohes Maß an Höflichkeit und scholastischer Eleganz.

 

Am vergangenen Montag hat Gerhard Weinberger in der Montag-Reihe der Neuen Wiener Gruppe/Lacan-Schule einen Vortrag unter dem Titel „Emmanuel Levinas und François Jullien: Das Genießen (jouissance) als Durchgang zur Ethik oder als Inbegriff des Metaphysischen“ gehalten. Beide französischen Philosophen setzen den Begriff „metaphysisch“, der seit dem 19. Jahrhundert eher in Verruf geraten ist, für ihre Überlegungen ein. 

 

Das neue Buch des Wiener Philosophen Alfred Dunshirn heißt zwar Aristoteles. Wegbereiter der Metaphysik (Halle 2020), aber er vermeidet es, aus der Tatsache, dass dieses aristotelische Hauptwerk 300 Jahre nach seinem Tod den Titel „Metaphysik“ bekommen hat, den Schluss zu ziehen, dem Autor die Bedeutungslast des Begriffs zuzuschieben. Der Ausdruck betreffe Probleme, die „nach der Physik“ kommen; Fragen der Physik und der Metaphysik seien aufs Engste miteinander verwoben; terminologisch gesehen sei Aristoteles jedenfalls kein Metaphysiker gewesen. 

 

Es trifft sich, dass die hiesige Lektüre im Juli 2020 bis zu den Abschnitten 7 und 8 von Buch XI gelangt ist, in denen Aristoteles auf seine Gesamtklassifikation der Wissenschaften zurückkommt und endlich klarstellen will, was nun eigentlich der Gegenstand dieses Buches, nämlich des Gesamtbuches namens Metaphysik, gewesen ist und sein soll.[1]

 

Die Aufzählung der unterschiedlichen Wissenschaften wird recht locker in Angriff genommen. Es werden die poietischen Wissenschaften wie die Heilkunde oder Gymnastik genannt, sowie die mathematischen. Jede dieser Wissenschaften umschreibt eine Sorte von Seiendem – aber da erinnert sich Aristoteles daran, dass er schon ziemlich oft irgendwo in früheren Büchern einen ganz anderen  Wissenschaftstyp  genannt und entfaltet und einmal sogar formell gegründet hat; einen Wissenschaftstyp, der mit einem enzyklopädischen Überblick gar nicht zu erfassen ist, weil er nicht auf irgendein weiteres Seiendes abhebt, sondern auf das Seiende als seiendes. Diese Wissenschaft, die das Seiende „objekt-reflexiv“ auf seine Seiendheit hin untersucht, wird hier nur kurz erwähnt und wie eine rätselhafte Angelegenheit gleich wieder verabschiedet.

 

Aristoteles setzt die lockere Aufzählung der vergleichsweise normalen Wissenschaften wieder fort – aber auch innerhalb dieser sind gewaltige Unterschiede zu konstatieren: eine Wissenschaft von der Natur ist eine theoretische Wissenschaft und sie hebt sich scharf ab von den praktischen und den poietischen Wissenschaften, bei denen das Bewegungsprinzip ganz woanders anzusetzen ist. (1063b 35ff.)

 

Aristoteles treibt seine Überlegung weiter, indem er die obige Reminiszenz an die Wissenschaft vom Seienden als seienden aufgreift aber gleich wieder modifiziert und nun eine „Wissenschaft vom Seienden, insoferne es ist und abgetrennt ist“, behauptet. Die Abgetrenntheit der Gegenstände war ja das Kennzeichen der Naturwissenschaft, also der Wissenschaft von den „objektiven“ Dingen. Jetzt wird mühselig eine andere Wissenschaft ins Auge gefasst, deren Gegenstand ebenfalls abgetrennt, andererseits „objektiv-reflexiv“ sein soll. Ist sie mit der Naturwissenschaft identisch oder nicht?

 

Und wie verhält sie sich zur Mathematik, die bleibende aber nicht abgetrennte Dinge betrachtet?

 

Sie unterscheidet sich von beiden, da sie vom abgetrennten und unbewegten Seienden handelt – aber nur wenn ein solches Wesen überhaupt existiert – „was aufzuzeigen wir noch versuchen werden“. Und wenn es eine derartige Natur in den Dingen gibt, dann dürfte es wohl auch das Göttliche geben, und sie wäre wohl das erste und herrschendste Prinzip. Also gibt es drei Sorten von theoretischen Wissenschaften: die Physik, die Mathematik und die Theologie. 

 

Demnach ist die Gattung der betrachtenden Wissenschaften die beste, von diesen aber wiederum die zuletzt genannte; denn sie befasst sich mit dem Ehrwürdigsten aller Dinge. Besser oder schlechter aber nennt man eine Wissenschaft ja nach ihrem eigentümlichen Gegenstand. (1064a 3ff.)

 

Man sieht, dass Aristoteles die Existenz eines solchen Höchsten nur vorsichtig behauptet und zum anderen eröffnet er nun die Frage, ob die Wissenschaft vom Seienden als seienden als allgemeine anzusetzen ist. Er beantwortet sie keineswegs direkt, sondern er weicht auf die Naturwissenschaft aus, die die erste unter den Wissenschaften ist, insofern die naturhaften Wesen die ersten unter den Dingen sind. Falls es aber noch eine andere, eine andersartige Natur und ein abgetrenntes unbewegtes Wesen gibt, muss die Wissenschaft davon eine von der Naturwissenschaft verschiedene Wissenschaft sein und eine vorrangige und deswegen auch eine allgemeine. (1064b 6ff.)

 

Karl Bruckschwaiger stellt fest, dass die hier von Aristoteles gesuchte „dritte“ betrachtende Wissenschaft aufgrund ihres Gegenstandes, nämlich der „anderen Natur“, auch „Heterophysik“ heißen könnte. Damit wäre ihr enges aber paradoxes Verhältnis zur Physik direkt aus dem Text abgeleitet. Aber die Suche nach dieser Wissenschaft verläuft aporetisch oder zickzackwegig. Einmal wird sie auf das Seiende als seiendes ausgerichtet – so würde sie von vornherein als allgemeine Wissenschaft bestimmt, dann wieder wird sie auf eine höchste Natur ausgerichtet - so wäre nur durch deren Primat ihre Allgemeinheit begründet.

 

Auf diese Weise verdient sie den Titel „Theologie“ – natürlich im Sinne einer natürlichen oder philosophischen Theologie. 

 

Die Reminiszenz an die „Wissenschaft vom Seienden als seienden“ setzt sich nicht so richtig durch. Obwohl diese eigentümliche Untersuchungsrichtung die Bücher IV und VII und VIII und IX und X vollkommen ausgefüllt hat, weitgehend auch die Bücher III und V. Und zwar ohne jeden theologischen Bezug. Der Formalismus der Seinsmodalitäten, der unter dem Vorzeichen des „Seienden als seienden“ hartnäckig und geduldig am Werk gewesen ist, wird in der Nomenklatur durch das „Göttliche“ verdrängt. Politische Korrektheit?  

 

Der Abschnitt 8 bringt die momentan halb vergessene Untersuchungsrichtung doch wieder an die Oberfläche. Und zwar nicht mit der genau passenden Bezeichnung, die noch viel später als der 300 Jahre nach Aristoteles erfundene Buchtitel Metaphysik (welcher das bruckschwaigerische Komplement antizipiert), also nicht mit der 1900 Jahre nach Aristoteles konstruierten Untersuchungsbezeichnung, die ich jetzt einmal nicht nenne, um die aporetische Situation spürbar zu machen.

 

Die formalistische Untersuchungsrichtung wird mit der typischen aristotelischen Themenangabe angedeutet und sogleich extrem unvollständig durch ihren schwächsten Punkt vorgestellt, wobei dieser schwächste Punkt, tatsächlich ihr stärkster, ausdrücklich und mithilfe des Sophistenfeindes Platon noch schwächer gemacht wird, lächerlich schwach gemacht und ganz und gar auf nichts reduziert.

 

Da ich diese Passage bereits am 22. Juli hier zitiert habe, komme ich gleich zu der von Aristoteles produzierten Selbstwidersprüchlichkeit oder zusätzlichen Aporie, die darin besteht, dass er die Akzidenzien aus den überkommenen Wissenschaften und sogar aus jedweder Wissenschaft ausschließt – er aber gerade zur Erklärung dieses Ausschlusses versuchen will, „zu sehen, was eigentlich ein Akzidens ist.“ (1064b 34).

 

Sehen wollen, was ein Akzidens eigentlich ist. Klarer kann man nicht ausdrücken, dass hier, genau hier, versucht wird, Wissenschaft zu machen genau darüber, dass da sich etwas der Wissenschaft entzieht. Ein solcher Versuch von Wissenschaft über eine bestimmte Unmöglichkeit von Wissenschaft begibt sich einerseits auf die Meta-Ebene und andererseits eröffnet er neuerlich und auf eigenwillige Weise die erwähnte Untersuchungsrichtung, die im Buch IV formell begründet und um 1600 nach Christus als „Ontologie“ bezeichnet worden ist. Aber jetzt wird diese Untersuchung nicht wie üblich von der Seite des Wesens her, sondern von der Seite der Akzidenzien her in Angriff genommen.

 

Dass die Akzidenzien sehr wohl wissenschaftlich behandelt werden können, hat Aristoteles selber tätig bewiesen, als er sie in seiner Frühschrift Die Kategorien ausführlich abgehandelt hat. Dort in der Gegenüberstellung zur Hauptkategorie des Wesens.

 

Hier wird das Akzidens eher im Singular dem an sich oder wahrhaft Seienden entgegengestellt und als Sonderfall einer Grundkategorie behandelt, die als Vorkommnis, Geschehnis, Ereignis widergegeben werden kann. Die griechischen Ausdrücke sind verbaler Natur und lauten gignesthai, symbainein. Wenn man unbedingt will, könnte man sagen, dass die modernen Ereignis-Ontologen hier abschreiben haben können. Oder hat Aristoteles abgeschrieben? Abschreiben ist erlaubt.

 

Was geschieht, geschieht entweder immerzu und notwendig oder zumeist oder aber selten und ausnahmsweise. Also in einer Skala zwischen Regularität und Rarität. Akzidenziell wird genannt, was sich rar macht. Dabei kann es sich um Wetterkapriolen handeln oder aber um menschliche Außerordentlichkeiten – weshalb die von Aristoteles in der Poetik behandelte Tragödie ihre Höhepunkte erreicht, wenn das Geschehen ins Unwahrscheinliche oder gar Unmögliche kippt.[2] . 

 

Die irregulären oder akzidenziellen Ereignisse sind nicht etwa ursachenlos. Sie zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass sie „zu viele“ Ursachen haben: nicht bloß die ordentlichen wie Natur oder Vernunft, sondern auch die unordentlichen wie den tychischen oder den spontanen Zufall.

 

Das geht so weit, dass Aristoteles tyche und automaton sogar für den kosmischen Gesamtzusammenhang als mögliche Ursachen in Betracht zieht: aber doch nur als supplementäre Ursachen, denen Vernunft und Natur vorausgehen müssen. (1065b 4)




[1] Die Anfänge der hiesigen Metaphysik-Lektüre sind niedergelegt in Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018).

[2] Siehe Walter Seitter: Poetik lesen (Berlin 2010 und 2014); ders.: Accidentalism in Aristotle? Poetics and Ontology, in: Archiwum Historii Filozofii. 61/2016. Während in dem jetzt gelesenen Abschnitt der Metaphysik ein epistemologischer Akzdenzialismus zutagetritt, tendiert Aristoteles in der Poetik dazu, die Akzdenzien als Realfaktoren den Wesen vorzuziehen (aber nur in den plots der Tragödien).

 

 

Walter Seitter

Mittwoch, 7. Oktober 2020

Aristoteles ein Rassist?

 maybe just not being is simply enough

 

                                            (Louise Glück)

                               

 

 Wolfgang Koch stellt aus dem neuen Buch von Christian Reder Mediterrane Urbanität. Perioden vitaler Vielfalt als Grundlagen Europas (Wien 2020) einige Aristoteles-Erwähnungen vor, die zeigen, dass der Philosoph ausdrücklich einen hellenischen Überlegenheitsanspruch gegenüber den nichtgriechischen, den „barbarischen“ Völkern formuliert hat. Bei denen fehle es an der natürlichen Herrschaftsfähigkeit, insofern seien sie alle Sklaven und deswegen habe, wie der Dichter sagt, der Grieche das Recht, über sie zu herrschen (siehe Pol. I, 1252b 15ff.). Im ersten Teil dieser Aussage wird den Nicht-Griechen pauschal die Politikfähigkeit im aristotelischen Sinn abgesprochen, nämlich diejenige, die sich über die Familiengemeinschaften erhebt. 

 

Auf der anderen Seite hat Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik die Erfindung der theoretischen Wissenschaft, insonderheit der Mathematik, in Ägypten verortet und damit die pauschale Abwertung der „Barbaren“ durchbrochen (siehe Met. I, 981b  23). 

 

Die kulturelle Überlegenheit der Griechen ist durch den Aristoteles-Schüler Alexander den Großen imperial exekutiert worden und dann von den Römern durch deren eigentümliche „Sekundarität“ zeitlich und räumlich ausgeweitet worden. Diese römische Attitude hat nach Rémi Brague dann auch zur Übernahme des noch östlicheren Christentums geführt und das westliche Europa geriet damit in die Position einer „exzentrischen Identität“.[1]

 

Im Laufe des Mittelalters kippte die Ex-oriente-lux-Polarität zwischen Athen, Konstantinopel, Jerusalem auf der einen Seite und Rom, Aachen, Paris auf der anderen Seite. Christian Reder nennt dafür Patricia Fara: 4000 Jahre Wissenschaft (2010), wo auch der scholastische Aristotelismus als ein historischer Faktor in Rechnung gestellt wird. Die Folge war eine dauerhafte Schieflage zwischen einem siegreichen und modernen Nordwesten und einem niedergehenden Südosten.[2]

 

Zum Text der Metaphysik bemerkt Wolfgang Koch, dass er strikt monolingual verfasst ist und trotz seiner ständigen Sprachreflexion keinerlei Interesse an irgendeiner fremden Sprache aufweise. Karl Bruckschwaiger ergänzt dazu, die Griechen hätten auch exotische Tiere immerzu griechisch benannt: nur für den Elefanten habe man den ägyptischen Namen übernommen. Also wieder die ägyptische Ausnahme und zwar auf einem Sachgebiet, das Aristoteles professionell bearbeitet hat.

 

Wie aber hätte der Text der Metaphysik plurilingual werden können? Wenn Aristoteles auch nicht-griechische Vorläufer oder Kollegen seiner Unternehmung zur Kenntnis genommen hätte?

 

Die Philosophie (unter dieser Bezeichnung) hat wohl erst damit angefangen, plurilingual zu werden, dass griechische Texte ins Lateinische übersetzt worden sind und dann auch lateinische Autoren Texte verfassten. Diese beiden Vorgänge setzten ungefähr gleichzeitig im 1. Jahrhundert vor Christus ein (dieser Name ist die latinisierte Form eines griechischen Wortes, das ab dem 1. Jahrhundert nach Christus ein Bestandteil des Neuen Testamentes werden sollte). Im 1. Jahrhundert vor Christus spielt noch ein dritter Vorgang: gewisse griechische Texte, so die aristotelische Metaphysik haben erst damals ihre uns vorliegende Form bekommen (und man weiß nicht genau, ob die Redaktionsarbeit in Athen oder in Rom erbracht worden ist).

 

Wolfgang Koch erwähnt die interessante Tatsache, dass in der Metaphysik die Akzidenzien zwar aus der wissenschaftlichen Behandelbarkeit ausgeschlossen werden, sie tatsächlich aber sehr wohl immer wieder zum Thema werden. Als Standard-Eigenschaft für den Menschen wird die weiße Hautfarbe sehr oft genannt – als ob sie die einzig mögliche wäre. Das ist sie aber nicht, sie ist ja nur ein Akzidens, das heißt, sie gehört nicht notwendig zum Menschen. Bedeutet ihre auffällige Präferierung im Text, dass sie als reale (wenn auch nur approximativ wahrnehmbare) Hauterscheinung den bevorzugten Menschentyp auszeichnet?

 

Nichts im Text weist direkt darauf hin – aber eine andere Begriffspräferenz könnte die Vermutung bestätigen. Ebenso häufg wie „weiß“ wird die Menscheneigenschaft „musisch“ oder „gebildet“ als Beispiel angeführt – wohlgemerkt nur als Beispiel für die Kategorie „Akzidens“. Und bei dieser Eigenschaft darf man sehr wohl annehmen, dass Aristoteles sie als eher erwünscht betrachtet als das Gegenteil „ungebildet“. Mit dieser plausiblen Vermutung berühren wir übrigens einen Punkt in der ganzen von Reder, Fara oder Koch aufgebrachten Menschenkritikproblematik: kann es legitim oder gar gewissermaßen notwendig sein, empirisch feststellbare Unterschiede zwischen Menschen mit Einschätzungen bzw. Abschätzungen zu verbinden? 

 

Ich würde sagen: ja. Aber dieses Ja ist mit vielerlei Problematisierungen, Differenzierungen, Präzisierungen zu verbinden.

 

Eine „wesentliche“ betrifft genau den Unterschied zwischen Akzidens und Wesen. Die Eigenschaften „gebildet“ und „ungebildet“ – in welcher Richtung, in welchem Sinn, in welcher Steigerung auch immer sie auftreten: sie ändern nichts an der Konstanz des Wesens. 

 

Für die andere Menscheneigenschaftsdimension, nämlich weiß, schwarz, nicht-weiß, wie auch immer, hat Aristoteles selber das ausdrücklich festgestellt. Im bereits gelesenen (6. Mai 2020) Abschnitt 8 von Buch X heißt es: „Daher bewirkt Weißheit und Schwarzheit beim Menschen keinen Unterschied der Art nach, und es gibt beim weißen Menschen gegenüber dem schwarzen Menschen keinen Unterschied der Art nach, auch dann nicht, wenn man jeden mit einem besonderen Ausdruck bezeichnet.“ (1058b 3)

 

 

 

Sollen Philologen nachforschen, welche „besonderen Ausdrücke“ damit gemeint sein könnten? 

 

 

Walter Seitter

 

 

 

 

 

 

 




[1] Siehe Rémi Brague: Europa. Eine exzentrische Identität (Frankfurt 1993); ders.: Die Geschichte der europäischen Kultur als Selbsteuropäisierung, In: Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 22: Europas Grenzen. 

[2] Zur architektur- und religionshistorischen Seite dieses Vorgangs siehe Walter Seitter: Reaktionäre Romanik. Stilwandel und Geopolitik (Wien 2012)