τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 7. Oktober 2020

Aristoteles ein Rassist?

 maybe just not being is simply enough

 

                                            (Louise Glück)

                               

 

 Wolfgang Koch stellt aus dem neuen Buch von Christian Reder Mediterrane Urbanität. Perioden vitaler Vielfalt als Grundlagen Europas (Wien 2020) einige Aristoteles-Erwähnungen vor, die zeigen, dass der Philosoph ausdrücklich einen hellenischen Überlegenheitsanspruch gegenüber den nichtgriechischen, den „barbarischen“ Völkern formuliert hat. Bei denen fehle es an der natürlichen Herrschaftsfähigkeit, insofern seien sie alle Sklaven und deswegen habe, wie der Dichter sagt, der Grieche das Recht, über sie zu herrschen (siehe Pol. I, 1252b 15ff.). Im ersten Teil dieser Aussage wird den Nicht-Griechen pauschal die Politikfähigkeit im aristotelischen Sinn abgesprochen, nämlich diejenige, die sich über die Familiengemeinschaften erhebt. 

 

Auf der anderen Seite hat Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik die Erfindung der theoretischen Wissenschaft, insonderheit der Mathematik, in Ägypten verortet und damit die pauschale Abwertung der „Barbaren“ durchbrochen (siehe Met. I, 981b  23). 

 

Die kulturelle Überlegenheit der Griechen ist durch den Aristoteles-Schüler Alexander den Großen imperial exekutiert worden und dann von den Römern durch deren eigentümliche „Sekundarität“ zeitlich und räumlich ausgeweitet worden. Diese römische Attitude hat nach Rémi Brague dann auch zur Übernahme des noch östlicheren Christentums geführt und das westliche Europa geriet damit in die Position einer „exzentrischen Identität“.[1]

 

Im Laufe des Mittelalters kippte die Ex-oriente-lux-Polarität zwischen Athen, Konstantinopel, Jerusalem auf der einen Seite und Rom, Aachen, Paris auf der anderen Seite. Christian Reder nennt dafür Patricia Fara: 4000 Jahre Wissenschaft (2010), wo auch der scholastische Aristotelismus als ein historischer Faktor in Rechnung gestellt wird. Die Folge war eine dauerhafte Schieflage zwischen einem siegreichen und modernen Nordwesten und einem niedergehenden Südosten.[2]

 

Zum Text der Metaphysik bemerkt Wolfgang Koch, dass er strikt monolingual verfasst ist und trotz seiner ständigen Sprachreflexion keinerlei Interesse an irgendeiner fremden Sprache aufweise. Karl Bruckschwaiger ergänzt dazu, die Griechen hätten auch exotische Tiere immerzu griechisch benannt: nur für den Elefanten habe man den ägyptischen Namen übernommen. Also wieder die ägyptische Ausnahme und zwar auf einem Sachgebiet, das Aristoteles professionell bearbeitet hat.

 

Wie aber hätte der Text der Metaphysik plurilingual werden können? Wenn Aristoteles auch nicht-griechische Vorläufer oder Kollegen seiner Unternehmung zur Kenntnis genommen hätte?

 

Die Philosophie (unter dieser Bezeichnung) hat wohl erst damit angefangen, plurilingual zu werden, dass griechische Texte ins Lateinische übersetzt worden sind und dann auch lateinische Autoren Texte verfassten. Diese beiden Vorgänge setzten ungefähr gleichzeitig im 1. Jahrhundert vor Christus ein (dieser Name ist die latinisierte Form eines griechischen Wortes, das ab dem 1. Jahrhundert nach Christus ein Bestandteil des Neuen Testamentes werden sollte). Im 1. Jahrhundert vor Christus spielt noch ein dritter Vorgang: gewisse griechische Texte, so die aristotelische Metaphysik haben erst damals ihre uns vorliegende Form bekommen (und man weiß nicht genau, ob die Redaktionsarbeit in Athen oder in Rom erbracht worden ist).

 

Wolfgang Koch erwähnt die interessante Tatsache, dass in der Metaphysik die Akzidenzien zwar aus der wissenschaftlichen Behandelbarkeit ausgeschlossen werden, sie tatsächlich aber sehr wohl immer wieder zum Thema werden. Als Standard-Eigenschaft für den Menschen wird die weiße Hautfarbe sehr oft genannt – als ob sie die einzig mögliche wäre. Das ist sie aber nicht, sie ist ja nur ein Akzidens, das heißt, sie gehört nicht notwendig zum Menschen. Bedeutet ihre auffällige Präferierung im Text, dass sie als reale (wenn auch nur approximativ wahrnehmbare) Hauterscheinung den bevorzugten Menschentyp auszeichnet?

 

Nichts im Text weist direkt darauf hin – aber eine andere Begriffspräferenz könnte die Vermutung bestätigen. Ebenso häufg wie „weiß“ wird die Menscheneigenschaft „musisch“ oder „gebildet“ als Beispiel angeführt – wohlgemerkt nur als Beispiel für die Kategorie „Akzidens“. Und bei dieser Eigenschaft darf man sehr wohl annehmen, dass Aristoteles sie als eher erwünscht betrachtet als das Gegenteil „ungebildet“. Mit dieser plausiblen Vermutung berühren wir übrigens einen Punkt in der ganzen von Reder, Fara oder Koch aufgebrachten Menschenkritikproblematik: kann es legitim oder gar gewissermaßen notwendig sein, empirisch feststellbare Unterschiede zwischen Menschen mit Einschätzungen bzw. Abschätzungen zu verbinden? 

 

Ich würde sagen: ja. Aber dieses Ja ist mit vielerlei Problematisierungen, Differenzierungen, Präzisierungen zu verbinden.

 

Eine „wesentliche“ betrifft genau den Unterschied zwischen Akzidens und Wesen. Die Eigenschaften „gebildet“ und „ungebildet“ – in welcher Richtung, in welchem Sinn, in welcher Steigerung auch immer sie auftreten: sie ändern nichts an der Konstanz des Wesens. 

 

Für die andere Menscheneigenschaftsdimension, nämlich weiß, schwarz, nicht-weiß, wie auch immer, hat Aristoteles selber das ausdrücklich festgestellt. Im bereits gelesenen (6. Mai 2020) Abschnitt 8 von Buch X heißt es: „Daher bewirkt Weißheit und Schwarzheit beim Menschen keinen Unterschied der Art nach, und es gibt beim weißen Menschen gegenüber dem schwarzen Menschen keinen Unterschied der Art nach, auch dann nicht, wenn man jeden mit einem besonderen Ausdruck bezeichnet.“ (1058b 3)

 

 

 

Sollen Philologen nachforschen, welche „besonderen Ausdrücke“ damit gemeint sein könnten? 

 

 

Walter Seitter

 

 

 

 

 

 

 




[1] Siehe Rémi Brague: Europa. Eine exzentrische Identität (Frankfurt 1993); ders.: Die Geschichte der europäischen Kultur als Selbsteuropäisierung, In: Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 22: Europas Grenzen. 

[2] Zur architektur- und religionshistorischen Seite dieses Vorgangs siehe Walter Seitter: Reaktionäre Romanik. Stilwandel und Geopolitik (Wien 2012)

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