τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 25. August 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge – Sonne III

Um 2010 herum machte in der Philosophie eine neue Richtung von sich reden, der es irgendwie nicht gelang, sich auf einen einheitlichen Namen zu einigen, was die Wucht ihres Durchbruchs eher minderte. Dabei hatten es ihre Protagonisten sehr wohl darauf abgesehen, mit großspurigen Namen das Interesse des Publikums zu erwecken. Das Ergebnis ist, daß sie nun mehrere Benennungen vorweisen kann, welche ihren Anspruch mit einer gewissen Breite und Unschärfe plakatieren – nämlich: Spekulativer Realismus, Objekt-Orientierte Ontologie, Dark Ecology, Transzendentaler Materialismus …

Die Richtung, die damit angegeben werden soll, ist tatsächlich eine sehr pauschale – nämlich eine Abwendung von der großen erkenntnistheoretischen Kehre der Moderne, die man die kantische oder die quasi-kopernikanische genannt hat. Eine Umkehrung zur Anerkennung von Phänomenen und Objekten, die unabhängig von einem Beobachter existieren und wirken. Also eine Umkehrung in einem objektivistischen, realistischen Sinn. Beinahe könnte man auch sagen in einem „altruistischen“ Sinn.

 

 

Dieser Neue Realismus hat sich in gleichmäßiger Distanz sowohl zur kontinentalen wie zur analytischen Philosophie profiliert; er kann sich aber kaum der Diagnose entziehen, daß er mit seiner Korrespondenz-Auffassung der Wahrheit der überwältigenden Mehrheit der vorkantischen Philosophen nahesteht – auch Aristoteles, für den diese objektivistische Position sozusagen selbstverständlich ist, auch wenn er sie gelegentlich gegen sophistische Behauptungen verteidigen muß.

 

 

Der Berliner Philosoph Samir Sellami hat in dem im Internet zugänglichen Aufsatz „Literatur als Kosmogonie. Francis Ponge und das zeitgenössische Interesse an der Ontologie“ die These vertreten, daß Francis Ponge, obgleich Dichter und nicht Philosoph, sich ziemlich genau in der Bahn dieser philosophischen Mode, die erst Jahre nach seinem Tod überhaupt aufgetreten ist, bewegt. Da Ponge zunächst als „Dichter der Dinge“ bekannt geworden ist, verwundert diese Zuschreibung kaum - aber die von Sellami durchgeführte Analyse ist geeignet, auf das Schaffen von Ponge einige Lichter zu werfen, die auch sein Sonnenwerk betreffen (obwohl ihm dieses in seiner Vollständigkeit nicht bekannt war).

 

Sellami analysiert einige Texte von Ponge, darunter auch solche, die keineswegs dingartige Phänomene zum Gegenstand haben, wie etwa den Regen, dessen räumlich-filigrane-kinetische Struktur eher mit dem Textgeschehen korreliert. Er suggeriert ein neomaterialistisches „Auch der Text ist Objekt, Materie, Ding.“ Bei der Besprechung der Auster geht der Dichter davon aus, daß man sie öffnen kann, wogegen sie sich allerdings zunächst hartnäckig wehrt – noch hartnäckiger hat sich meine Computer-Maus dagegen gewehrt, so wie ihre Vorfahren, etwa noch im Juni, von mir geöffnet zu werden. (Und diese Abwehr führte mich dann auch zur „Lösung“ meines Computerproblems. Gott sei Dank – denn wäre ich noch hartnäckiger gewesen, hätte ich diese neuartige Maus irreparabel zerstört.) Meine kleine Maus-Geschichte ist mit dem Austern-Gedicht von Ponge vergleichbar, obwohl sie nur Protokollliteratur darstellt. Ponges Dichten hat sich auf weite Strecken dem Protokollieren angenähert.

 

Durch die Konfrontation von Textwelt und Sprachwelt entsteht bei Ponge etwas Drittes, nämlich ein literarisches Werk, das zwar zu festen „Formeln“ gerinnt, welche jedoch ständig ersetzt oder vermehrt werden können, wie das vor allem beim Tisch und bei der Sonne exzessiv durchgeführt worden ist.

 

Da die Übersetzung des Tisches von mir angefertigt worden ist und ich damit halb gescheitert bin bzw. halb kapituliert habe, weiß ich, wovon ich spreche. Ich meine nicht nur – das ist unvermeidlich, daß man etwas meint. Ich mache etwas, folglich kann ich etwas – und ich mache vieles nicht, nicht-wollend oder nicht-könnend. Die Aufforderung, die Tisch-Sache zu vollenden, bedrängt mich immer noch – obwohl sie mir unmöglich scheint.

 

Mit der Sonne steht es anders, da ist die vollständige Sammlung der Notizen erst im Vorjahr, also ein halbes Jahrhundert nach dem Tod von Ponge, erschienen und da haben der Verlag und der Übersetzer in einem Kraftakt sondergleichen den Exzess des Werks, der jedem Ponge-Text innewohnt, durch die Sprachen-Verdoppelung noch gesteigert und so ein gelbes Ungetüm fabriziert, das über Ponge noch hinausgeht – typisch Sonne.

 

Einen ausführlichen Essay hat Ponge einem ganz anderen Ding oder vielmehr Unding gewidmet, das seit über hundert Jahren die energetische Allzuständigkeit der Sonne zu ersetzen, jedenfalls zu verdrängen scheint und sich eine andere Art von Allgegenwärtigkeit erobert hat und damit unseren gesamten Lebensstil umgewälzt hat: der Elektrizität. Den Einbruch dieses Leitungs-, Schalt- und Effizienzdispositivs habe ich selber analysieren können, weil es in meinem Leben von 1945 bis 1950 gefehlt hat. Solange es gefehlt hat, wurde es von denen, denen es gefehlt hat, „das Licht“ genannt.

 

„Licht“ nennt man immer noch das, was den Tag von der Nacht unterscheidet. Als sich die Nacht noch stärker vom Tag unterschieden hat (als heute), hat man der Nacht den Plural von Licht, nämlich die Lichter, zugeordnet. Inzwischen bevölkern die Lichter den 24-Stunden-Tag - man sehe nein man sieht sie ununterbrochen an Geräten aller Art, z. B. auf meiner Maus und auf meiner Tastatur links auf der Umschalttaste zum Dauergroßschreiben – etwa UBE (Unbewegtes Bewegendes).

 

Die verschiedenen Namen für den neuen Philosophischen Realismus könnten auch den Charakter der Ponge-Unternehmung bezeichnen. Ich selber habe im Nachwort zum Tisch von Poetischer Physik gesprochen, die ich von der Wissenschaftlichen und von der Philosophischen Physik unterscheide. Natürlich ist es auch interessant, zu erfahren, wie Ponge selber sein Unternehmen charakterisiert. Er tut es mehrfach.

 

 

*

 

 

In dieser deutsch-französischen Ausgabe sind die beiden Sprachen keineswegs gleich stark vertreten. Sofern das französischsprachige Werk von Ponge präsentiert und in Facsimilia und Transkriptionen dokumentiert wird, überwiegt das Französische bei weitem. Längst nicht alle Texte sind auch übersetzt – und zwar keineswegs aufgrund augenscheinlicher Unübersetzbarkeit (insofern muß mich die Unvollständigkeit meiner Tisch-Übersetzung nicht allzu sehr grämen). Der Kommentar ist in deutscher Sprache verfaßt und er schlägt viele Brücken zwischen den beiden Sprachen, aber manche Ponge-Perlen bleiben nur-französisch – man kann sie oft und oft anschauen.

 

Die Gesamtedition hat also zwei Autoren. Gegenüber den vielen Fragmenten, die von Ponge stammen, stellt sie ein „zweites“, ein anderes Buch dar, eigentlich das erste und einzige Buch. 

 

Das Wirken und die Wirksamkeit der Sonne wird als ein zweiseitiges Ja verstanden – das exklamatorische Ja der Sonne selbst und das akklamierende Ja ihrer Geschöpfe oder Untertanen. Allerdings ist diese Akklamation, die in Tempeln und Kulten stattgefunden hat, in unserer Kultur nicht mehr an der Tagesordnung.

 

„Was ist die Sonne als Objekt? Sie ist das glänzendste der Objekte der Welt. Ja! Dermaßen glänzend, wir haben es gesehen … Es braucht ein ganzes Orchester: die Trommeln, die Hörner, die Pfeifen, die Tuben. Und die Tamburine und das Schlagzeug. Und all das nur um eine einzige Silbe, einen einzigen Einsilber zu orchestrieren. Die Sonne kann durch keine logische Formel ersetzt werden - denn sie ist kein Objekt. Sie ist das Gegenteil von einem Objekt. Sie ist das Loch. Der metaphysische Abgrund.

 

Das glänzendste aller Objekt der Welt ist die notwendige Bedingung aller anderen Objekte. Die formelle und unverzichtbare Bedingung der ganzen Welt. Sogar die Bedingung für den Blick.

 

Und das ist ihre Grausamkeit, ja ihre Geschmacklosigkeit. Was uns sogar daran hindert, sie anzubeten.

 

Diese Bedingung für alle Objekte zeigt sich in der Welt. Sie hat die Stirn, sich darin zu zeigen, sie besteht darauf, sie erscheint da.

 

Und sie zeigt sich so, daß sie es untersagt, daß man sie anblickt, daß sie den Blick zurückstößt …

 

wahrhaft welcher Tyrann!

 

Nicht nur zwingt er uns zu existieren, zwingt er uns, ihn zu betrachten,

 

gleichzeitig hindert er uns daran , untersagt uns, ihn zu fixieren.

 

Er ist ein Tyrann und ein Künstler. Ein Feuerwerker, ein Schauspieler. Nero. Ahenobarbus.

 

Das ist, kurz gesagt, passiert.

 

Die Sonne, die nicht das Leben ist, die viel mehr ist als das Leben ,

 

die vielleicht der Tod ist, die zweifellos jenseits von Leben und Tod ist,

 

sie hat einige ihrer Teile von sich weggestoßen, hat sie verbannt und

 

auf eine gewisse Distanz weggeschickt, um sich von ihnen betrachten zu lassen.

 

Auf eine gewisse Distanz geschickt. Eine genau kalkulierte Distanz. Ausreichend, damit sie abkühlen. Ausreichend, damit sie genügend Abstand haben, um sie zu betrachten. Ungenügend um nicht ihrer Anziehung unterworfen zu sein und nicht aufhören dürfen, um sie herum ihren Betrachterdienst zu leisten.

 

So kühlen sie ab, denn sie hat sie dem Tod ausgeliefert, indem sie sie von sich abgesondert hat und zum Dienst ihrer Betrachtung ins Exil geschickt hat.

 

 

 

Aber bevor sie sie dem Tod ausgeliefert hat, hat sie sie, weit schlimmer noch, dieser Krankheit ausgeliefert, dieser lauen Wärme, die man das Leben nennt. So den Menschen seinen 37 Grad Celsius. Ach wieviel näher ist das Leben, diese laue Wärme, dem Tod als der Sonne mit ihren Milliarden Grad Celsius.

 

Dasselbe gilt für die Formen und Farben,

 

welche die jeweilige Verdammung eines jedes Wesens,

 

eines jeden von der Sonne exilierten Betrachters ausdrücken.

 

So sind die Körper und das Leben selber nichts anderes als eine Degradierung der Sonnenenergie mit dem Ziel ihrer Betrachtung und Vermissung und schließlich des Todes.

 

 

So ist die Sonne eine Geißel

 

- nicht wie die Dreschflegel,

 

die die Schalen zersprengen -

 

eine Geißel, eine sadistische Geißel

 

Eine Geißel und ein Arzt. Eine

 

Geißel, die ihre Opfer am Leben hält

 

und sich von ihnen begehren läßt.

 

 

So glänzend dieses Objekt auch ist – die geringste Wolke, die sie hervorbringt, verbirgt sie und weckt das Verlangen nach ihr. Und daran fehlt es nicht. Und so vollzieht sich die Hälfte des Lebens im Schatten und im Wunsch nach der Wärme und dem Licht, also nach der Zwangsarbeit des Blau.

 

Indessen birgt auch diese Geschichte eine Lehre für uns. Durch den Eigensinn und die sadistische Koketterie der Sonne in die Nacht getaucht sehen die dafür bestimmten Objekte plötzlich den Himmel. Die Sonne mußte sie von sich entfernen, damit sie sie betrachten können. Auf einmal sehen sie jedoch Myriaden von Sternen, von anderen Sonnen.

 

Und es hat nicht lang gedauert, bis sie sie zählen und bis sie ihre eigene Sonne nur mehr unter den anderen zählen und nicht mehr als die wichtigste von ihnen. Die nächste und die tyrannischste gewiß. Aber doch nur mehr als eine der Sonnen.

 

Und ich sage nicht, daß eine solche Betrachtungsweise sie beruhigt – aber sie rächt sie.

 

Solchermaßen ins Unerhörte der Nächte gestoßen, in die Unordnung, in die absurde Unordnung und in den schlechten Geschmack der Welt

 

zählt der Mensch immerhin die Sonnen.

 

Schließlich behauptet sich sein Überdruß und er hört sogar auf zu zählen.“ (242ff.)

 

 

In diesem Text geht Ponge von der Bewunderung der Sonne zu einer anderen Einstellung über: aus der Konstellation Erde-Sonne erschließt er ein Abhängigkeitsverhältnis, in dem der Sonne quasi-menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Sie habe die Erde und ihre Bewohner einerseits ausgestoßen und zu ihren Betrachtern herabgewürdigt, auf lange Sicht sie aber dem Kältetod ausgeliefert – woran auch die lächerlichen 37 Grad Celsius Lebenstemperatur nichts ändern würden. Immerhin wird damit der schmale Temperaturkorridor angedeutet, in den wir eingesperrt sind.

 

Der Text nimmt zwar eine Wendung ins Pessimistische, trotzdem erinnert er an die erotisch-kinetische Fassung des Verhältnisses zwischen Unbewegt-Bewegendem und Beweglich-Bewegten in der aristotelischen Metaphysik – obwohl Ponge bekanntermaßen weder mit Aristoteles noch mit Metaphysik etwas zu tun haben wollte. Aber diese antikische Denkweise setzt sich auch bei ihm durch.

 

Die folgenden Notizen kehren allmählich zum Sonnenlob zurück, nennen die Sonne einen freigebigen Greis, ja einen geilen Greis, dessen Hände alles, was sie betasten, zum Leben erwecken, in sexuelle Erregung versetzen, zur Fortpflanzung antreiben, dann aber verkommmen, verwelken und sterben lassen. Die perversen Zärtlichkeiten – denn der allmächtige Greis macht sich an seinen Nachkommen zu schaffen – treiben Mißbrauch mit allem, was am Leben ist. Alle Lebenden treiben, weil die Sonne scheint, Mißbrauch an- und miteinander, Mißbrauch (in der Lust) zum Tode. Das Erscheinen der Sonne legt Schatten über die Dinge. Ein jedes Ding trägt am Schatten, den es wirft und über andere legt. Die Wahrnehmung des Schattens an ihm zeichnet jedes Ding zum zweiseitigen, zwiespältigen aus. (286)

 

Ponge bemüht die Heraldik, um dieses Zwie- zu bemühen: Jedes Ding ist halb weiß, silberfarben, und halb schwarz, zobelfarben. Was diesen Zwiespalt zwischen Licht und Schatten halbwegs erträglich macht, ist seine Wandelbarkeit. Was Schatten wirft, ist gegen Schatten, den andere werfen, nicht gefeit. (287)

 

 

„Die Sonne

 

 

 

Tag für Tag, über alle Gipfel der Welt,

 

steigt eine hoch aufgerichtete Blume

 

deren Glanz

 

ihre Pracht tilgt ihren Stiel,

 

der kletternd zwischen den beiden Augen

 

der zu engen Natur,

 

um ihre Stirn auseinander zu reißen,

 

in unsere Herzen eingewurzelt ist.“ (290)


 

Was Ponges Zeichnung (291) vor Augen legt, ist eine X-Strahlen-Skizze oder Röntgenaufnahme: Radiographie. Denn vom Stiel der Sonnen-Blume heißt es, daß deren Überhelle seinen Anblick verwehrt. Erst ein vom Glanz der Sonne ungetrübter Blick nähme die Sonne als Blume, die in unseren Herzen wurzelt, wahr und nähme wahr, daß der erigierte eklipsierte Stiel einen Riß durchs Antlitz der Natur legt. Die Zeichnung legt ein Weltbild vor Augen, das sowohl vom heliozentrischen wie vom kopernikanischen abweicht. (357)

 

Durch dieses korrespondierende Gefüge aus Naturanschauung und sprachlicher Natur im Zeichen der Sonne - heliozentrischer Phänomenologie – legt das Radiogramm mit der emporgereckten Blüte seinen Riss.

 

Walter Seitter

 

Mittwoch, 18. August 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge – Sonne II

Da es bei diesen heliographischen Exkursen zu Ponge und Sonne um Poesie geht, füge ich nun sozusagen in Klammern einen Extrabericht von einer Erfahrung ein, die sich wie ein sprunghaftes Ansteigen von Können ausnahm.

 

Nach einer einwöchigen Abwesenheit fand ich meinen - nur wenige Wochen alten – Computer gänzlich unbeweglich und unbrauchbar vor. Mehrere angerufene Computer- und Apple-Kenner konnten meine Blockade weder erklären noch irgendwie mir heraushelfen. Ich beschloss, am nächsten Montag zur Apple-Zentrale in der Kärntnerstraße zu gehen, wo ich dieses allzu avantgardistische Gerät gekauft hatte, um dort eine Lösung zu finden.

 

Den ganzen Sonntag ging ich immer wieder zum Computer, versuchte einzuschalten und auszuschalten, versuchte, die anscheinend irgendwie neuartige Maus zu öffnen und an ihr herumzudrücken - wie man es wohl mit einem unentbehrlichen aber widerspenstigen Haustier oder dergleichen macht. Kein Ergebnis. 

 

Damit war mir natürlich auch die Möglichkeit genommen, dieses Protokoll zu schreiben, in dem ich die Aristotelographie mit einer bestimmten Heliographie, einem Nachschreiben der Heliopoesie von Ponge unterbrechen, aufschieben, vielleicht ergänzen will. 

 

Das Aristoteles-Lesen ist zwar nur ein Lesen, aber damit auch eine Aktivität, zu deren Zustandekommen eine Reihe von diversen Möglichkeiten, Vermögen, Fähigkeiten, Kräften, womöglich auch außerordentlichen Kräften oder unwahrscheinlichen Zufällen notwendig sind. 

 

Anstatt mich allzu selbstquälerisch in meine unbotmäßigen Haustiere zu verbeißen, griff ich zu einem sehr kleinen und unscheinbaren Ausstellungskatalog des MAK, den mir Sebastian Hackenschmidt kürzlich geschenkt hatte und der Fotografien – auch sie sind Graphien! – von Evi Quaid enthält, der amerikanischen Foto-, Film- und Aktionskünstlerin, die ebenfalls zu dem gehört, was ich in Analogie zum Ernst Kantorowicz Kreis als Helmut Newton Kreis bezeichne.[1]   

 

Den Fotografien ist ein Gespräch beigegeben, das Evi Quaid mit Weston Naef, Kurator am Getty Museum in Kalifornien, geführt hat. 

 

Weston Naef meint zur Zusammenarbeit zwischen Helmut Newton und Eva Quaid, daß sie als Modell ein bestimmmender Faktor gewesen sei. Und er zitiert Kant: eine Genie sei im Wesentlichen ein Mensch, der imstande ist, vollkommen zu verstehen, wie die Natur der Kunst die Regel gibt. Er fragt Evi Quaid, ob sie ihre eigene Weiblichkeit als Natur in so einem Sinn verstehe, als machtvolle Naturkraft. Evi Quaid hat bestätigt, daß sie dabei den Teil ihres Körpers im Auge hat, durch den das Leben aus- und eingeht. Auf den komme es an und den hat sie auch in ihrer bildnerischen Produktion aktiv vorgestreckt, vorgerückt . . .

 

Diese Sätze und die dazugehörigen autofotografischen Aktionen, die mit meinem Computer-Problem nur anscheinend nichts zu tun haben, gaben mir plötzlich die Fähigkeit, die drei Körperteile des Computers neu zu sehen und neu anzugreifen. Ich trennte sie voneinander und steckte sie neu zusammen und das Problem war gelöst und ich auf einmal ein Technik-Genie! Denn mein Computer und vor allem die extrem futurische, weithin unbekannte Maus, weisen mit der „Natur“, wie sie von Evi Quaid präsentiert und auch hartnäckig um nicht zu sagen penetrant definiert worden ist, strukturelle Homologien auf, die offensichtlich sind – aber erst wenn sie aktiv „vollzogen“ werden.

 

*

 

„Die Nacht ist nicht nur ein optisches Abenteuer“ – unter diesem Titel reflektiert Ponge auf die Tatsache, daß die Betrachtung der Sterne, gewissermaßen die Urszene menschlicher Kontemplation, eine Verhaltensmodifikation der irdischen Wesen, eine bestimmte „Aktionseinheit“ zur Voraussetzung hat: daß sie nämlich darauf verzichten, sich laut und deutlich auszusprechen, sich mit ihren Umrissen und Farben zu profilieren und so ihre Existenz auf Distanz kundzutun. Das heißt aber nicht, daß sie aufhören zu sein und dazusein. Sie modifizieren ihr Verhalten und machen so die Wahrnehmung der „großen Zeichen am Himmel“ möglich. Die allerdings sind nicht nur unbeweglich sondern bieten auch ein „Schauspiel unerhörter, unverschämter Unordnung.“(78ff.)

 

„Meer … stürmische See, von der dunklen Kammer aus gehört“ scheint aus dem Rahmen zu fallen, verzeichnet jedoch eine besonders banale Erfahrung der Nacht, die nur aus Geräuschen, regelmäßig anrollendem Gedonner besteht, zu dem der Schlafende oder Schlafenmöchtende visuelle Vorstellungen hinzufügen muß, egal ob er sich je dem „Anblick“ des nächtlichen Meeres ausgesetzt hat. (93ff.)

 

 

„Der Prozess der Morgenröten

 

Während der Tag sich rottet an den grauen Ufern der Levante, ergreift die schwarze Bache mit ihren Frischlingen die Flucht. Die Sternbilder erblassen und zerstreuen sich. Die Diener des Tages rücken geordnet vor, rollen mit dem Fuß über Ebenen und Berge einen Teppich aus, in den Farben der Gegenden und Jahreszeit. Zwischen den Rängen der Zuschauer, Lebewesen und Dinge, hin- und hergehend, nehmen sie ihnen die dunklen Mäntel ab, entfernen die Schoner und machen, eines nach dem andern, alle Zimmer der Natur.

 

Das ist die kurze und gute Zwischenzeit – Epoche -, um zu sprechen. Zugleich mit den Dingen vor Augen kommt das Wort in den Sinn, und nichts erscheint noch anders als im Vergleich mit dem grenzenlosen Universum, das die Kontemplation der Nacht darbot.

 

usw.“ (140)

 

Diese Eintragung stammt aus dem Jahr 1953, also aus der Nachkriegszeit, die ich bereits als Schüler, Latein- und Griechischschüler, erlebt habe. Ponge scheint die damalige Zeit ebenfalls als die „alte“ Zeit erlebt zu haben, in der die Nacht vom Tag noch streng geschieden war, der 24-Stunden-Tag für die meisten Leute noch keine gelebte Realität war und die nächtliche Nacht noch nicht unter Natur- (oder Denkmal- ?)schutz gestellt werden mußte.[2]

 

Auf den Seiten 148ff. zwei Seiten Text, die von Armand Ponge, dem Vater des Dichters (1870- 1923), im Jahr 1922 über dessen erste Gedichte Der Tag und die Nacht verfaßt worden sind. Er sieht in jenen eine neue Kunstform, welche von der neuen Wissenschaft, der Semantik, angeregt worden sein soll. Dabei hat er wohl die Wissenschaftsbewegung im Auge, die seit der vorletzten Jahrhundertwende im Gang ist und um die Mitte des 20. Jahrhunderts die Bezeichnung linguistic turn bekam. Die neue Poesie verbinde die präzise Sprache der Wissenschaft mit den emotionalen Ausdrucksformen, welche die Menschen von ihren animalischen Vorläufern übernommen haben. Das künstlerische Denken bringe separate Wesen, die zu natürlicher Vereinigung unfähig sind, zusammen und erzeuge so mit unbelebten Stoffen die Illusion des Lebens. Die Dichtung nähere sich der Prosa an. Die alten Werke würden wieder verständlich, indem man den Worten ihre Bedeutungsvielfalt zurückgebe – auch indem man mit ihnen ernst spielt (wie oben mit der Tyrannei der Sonne). 

 

 

 

Das Schlagen der Sonne, wie Münzen geschlagen werden – ihnen ein Gesicht, eine Sonne, eine Ziffer einzuprägen-, wird als Aufgabe und Forderung entworfen. Doch durch den Vergleich von Sonne und Münze gehen Risse. Die Sonne ist nicht nur, wie Münzen, einer unter anderen glänzenden Gegenständen, sondern sie ist (vor allem) keiner: unumgängliche Bedingung für das Glänzen, Zum-Vorschein-kommen aller Gegenstände, ja Bedingung der Existenz aller belebten; und nicht nur Licht, auch Wärme geht von ihr aus: mit einem Wort das Leben. (202)

 

Die Sonne will, daß ihre Schöpfung die Sonne will. Die Selbstzufriedenheit der Sonne ist, sosehr sie legitim und rechtens heißt, kein Faktum, sondern Ziel eines Begehrens, das die Sonne in jedem ihrer Geschöpfe zu wecken begehrt: das Überleben der Sonne (im Glanz des Widerscheins ihrer Bewunderer) hängt nicht nur von der Wiederbelebung dessen, was von ihr abhängt, ab, sondern davon, in jedem der belebten Dinge das Begehren ihrer Wiederbelebung, Tag für Tag, durch die Sonne zu wecken. Die Sonne, unter diesem Winkel wahrgenommen, kämpft gegen das Erlöschen des Begehrens, die Sonne selbst wiederkehren und am und als Ursprung aller Dinge wiederbelebt zu sehen. (206)

 

Die Sonne heißt Tyrann und Künstler: Sie ist Nero. Geißel und Arzt. Ihr Untergang eine Inszenierung, ihr Tod Theatertod, der die Sehnsucht nach ihrer Wiederauferstehung wecken soll, um ihren Untergang sowohl zu fürchten wie herbeizusehnen. (206)

 

Die Ablösung der Überschrift DAS SONNENRÄTSEL durch eine andre: DAS SONNENSIMULAKRUM. Die eine Sonne sieht andern Sonnen - und also auch sich selbst – nur ähnlich. Die eine Sonne – alles andere als eine, ein und dieselbe, geht aus der Fassung zum Zentralgestirn. (207) 

 

Walter Seitter

 

 

 




[1] EVI UNTITLED. Photographs by Evi. With contributions by Helmut Newton, Peter Noever, Ed Ruscha and an interview by Weston Naef (Wien 2004). Eine ausführliche Eviographie soll andernorts erscheinen.

[2] Siehe Thomas Posch und Walter Seitter: Nacht und Kampf gegen die Nacht aus kulturhistorischer Perspektive, in Th. Posch u. a. (Hg.): Das Ende der Nacht. Lichtsmog: Gefahren – Perspektiven – Lösungen (2. erweiterte Auflage, Weinheim 2013)

Mittwoch, 4. August 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge – Sonne I

Neulich haben wir gesehen – denn das Lesen ist hoffentlich ein Sehen, daß Aristoteles den Begriff der Erscheinung so weit faßt, daß er sogar das von ihm mühsam erwiesene Unbewegt-Bewegende (UBE) zu den Erscheinungen zählt (obwohl es ja unwahrnehmbar sein soll); da ist wohl einiges unklar. 

 

Im 20. Jahrhundert nach Christus hat der französische Schriftsteller Francis Ponge (1899-1988) von sich kokett behauptet, er wolle gar keine Dichtungen schreiben, sondern „nur“ eine Kosmogonie. Und seine Art von Kosmogonie will er damit zustandegebracht haben, daß er vielerlei Dinge, auch Undinge, jedenfalls Erscheinungen, penibel oder vergleichend beschrieben hat, mit einer Realistik, die über die Dinge noch hinausgeht und auch die Wörter, die er einsetzt, thematisiert oder litaneienhaft wiederholt. Dramatisierende Ultraphysik.

 

Zwischen den beiden weit voneinander entfernten Werken, der Metaphysik von Aristoteles und der Sonne von Ponge gibt es rein zufällig eine gewisse Analogie in der Erscheinungsgeschichte. Die im 4.Jahrhundert geschriebene Metaphysik ist nämlich erst im 1. Jahrhundert redigiert, tituliert, also in die heutige Form gebracht worden. Die Sonne ist zwischen den Zwanziger- und Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts auf viele Blätter notiert worden, dann in der Nachkriegszeit in mehreren kleinen Teilen publiziert worden, einer davon erschien 1999 im Band I der Pleiade-Ausgabe unter dem maliziösen Titel Le Soleil placé en abime.[1] Die Gesamtheit der zur Sonne gehörigen Entwürfe und Notizen erschien jedoch erst 2020 – und zwar in einer zweisprachigen (französisch und deutsch) Ausgabe, die von Thomas Schestag herausgegeben worden ist. 

 

Über Jahrtausende hinweg also eine ähnliche Erscheinungsgeschichte, die jeweils einige Jahrhunderte bzw. Jahrzehnte gedauert hat.

 

Zu dieser äußeren Analogie kommt jedoch eine thematische Entsprechung, die allerdings nicht nur Ähnlichkeit, sondern vor allem Kontrast einschießt. Denn während sich die aristotelische Metaphysik auf die Suche nach einer allgemeinsten und höchsten Gesamtursache macht und sie jenseits der Physik zu finden beansprucht, hat Ponge mit der Sonne die universale Ursache von vornherein im Auge, muß sich allerdings mit ihren Wechselfällen und Inkonsequenzen herumschlagen. Und mit Metaphysik oder gar Theologie will er gar nichts zu tun haben.

 

Deshalb schlage ich vor, das moderne der belletristischen Literatur zuzurechnende Buch von Ponge als „Gegenwerk“ zur aristotelischen Metaphysik zu lesen, die seit über 2000 Jahren als ein vielgedeutetes und umstrittenes Grundbuch der Philosophie gilt. 

 

Die Zahlenangaben in Klammern beziehen sich auf Francis Ponge: Le Soleil/Die Sonne. Herausgegeben, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Kommentar versehen von Thomas Schestag (Berlin 2020)

 

 

*

 

 

Es beginnt ziemlich geozentrisch und natürlich auch anthropozentrisch mit dem „Mythos von Tag und Nacht“ (39) - also mit menschlichen Redensarten von hiesigen regelmäßigen Wechselfällen, die man nicht anders als über die Sonne erklären kann. 

 

„Julia, gold-braune Haut, die Schenkel leicht geöffnet, in einem luftigen Kleid, las in einer romantischen Anthologie. Er drängt sie vor einen Basar. Man sieht dort Teppiche wie Landschaften ausgelegt, auf ihnen Bronzen wie Felsen. Durchbrochene Schatullen gleichen Städten. Ein kleiner Teppich, von Ginstergold und Heideviolett durchwirkt.“ (44)

 

„Das Gedicht Der Tag und die Nacht entziffert im Wechsel von Tag und Nacht ein Machtverhältnis: es präzisiert den Unterschied von Tag und Nacht zur Hierarchie. Den Tag nennt es Tyrann, genauer tyrannische Lampe – die Nacht dagegen Märtyrer.“  (50)

 

Das französische Nomen raison und insbesondere das entsprechende Verb raisonner stehen in einem unübersehbaren, unüberhörbaren Verhältnis zur Sonne, im Deutschen: rai-sonn-er. Die sonne wohnt dem Räsonieren so ein, daß das Wort sich bei sich nicht wiederfindet, sondern aussetzt. (51)

 

Zu dem Gedicht Der Tag und die Nacht hat sich ein Kommentar von Armands Ponge, dem Vater des Dichters, der als ein aufmerksamer Leser der frühen Texte seines Sohnes 1922 (ein Jahr vor seinem Tod) festhält: Die Sonne ist für das Leben notwendig wie der Tyrann für die politische Organisation. Wir würden sie gern zum Archonten erwählen; doch einmal erwählt, übt er seine Tyrannei todbringend aus. Die Sonne aus seinem Leben zu entfernen und sich im künstlichen Licht am Leben erfreuen, ist Suizid.“ (51)

 

 

Und Ponge erlaubt sich einen Exkurs zu einer kleinen Sonne anderer Art, zur amerikanischen Artistin Evelyn Brent (1899-1975), der er ein Gedicht widmet:

 

„Der Star. (Gesicht eines Sterns in Großaufnahme)

 

Eingefaßt von einem schiefen Kranz aus spitzen Blütenblättern, die den Kopf vom Körper trennen vom Genick, ausgehend vom Schlußstein der Stirn aus glatter nackter Stärke, 

bis nach hinten, wo der Nacken zuerst den Klapp-

stuhl des Rückens berührt,

 

von den Wangen weder rund noch eckig,

oder von diesem Teint aus Kerzenschimmer, nachtwacher Seerose, mattem Glühbirnenglanz …“

 

 

 


 

 

Walter Seitter

 




[1] Man mag in diesem Titel eine Anspielung auf die 1913 uraufgeführte futuristische Oper Sieg über die Sonne sehen, die von fünf russischen Künstlern geschaffen worden ist.