τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 4. August 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge – Sonne I

Neulich haben wir gesehen – denn das Lesen ist hoffentlich ein Sehen, daß Aristoteles den Begriff der Erscheinung so weit faßt, daß er sogar das von ihm mühsam erwiesene Unbewegt-Bewegende (UBE) zu den Erscheinungen zählt (obwohl es ja unwahrnehmbar sein soll); da ist wohl einiges unklar. 

 

Im 20. Jahrhundert nach Christus hat der französische Schriftsteller Francis Ponge (1899-1988) von sich kokett behauptet, er wolle gar keine Dichtungen schreiben, sondern „nur“ eine Kosmogonie. Und seine Art von Kosmogonie will er damit zustandegebracht haben, daß er vielerlei Dinge, auch Undinge, jedenfalls Erscheinungen, penibel oder vergleichend beschrieben hat, mit einer Realistik, die über die Dinge noch hinausgeht und auch die Wörter, die er einsetzt, thematisiert oder litaneienhaft wiederholt. Dramatisierende Ultraphysik.

 

Zwischen den beiden weit voneinander entfernten Werken, der Metaphysik von Aristoteles und der Sonne von Ponge gibt es rein zufällig eine gewisse Analogie in der Erscheinungsgeschichte. Die im 4.Jahrhundert geschriebene Metaphysik ist nämlich erst im 1. Jahrhundert redigiert, tituliert, also in die heutige Form gebracht worden. Die Sonne ist zwischen den Zwanziger- und Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts auf viele Blätter notiert worden, dann in der Nachkriegszeit in mehreren kleinen Teilen publiziert worden, einer davon erschien 1999 im Band I der Pleiade-Ausgabe unter dem maliziösen Titel Le Soleil placé en abime.[1] Die Gesamtheit der zur Sonne gehörigen Entwürfe und Notizen erschien jedoch erst 2020 – und zwar in einer zweisprachigen (französisch und deutsch) Ausgabe, die von Thomas Schestag herausgegeben worden ist. 

 

Über Jahrtausende hinweg also eine ähnliche Erscheinungsgeschichte, die jeweils einige Jahrhunderte bzw. Jahrzehnte gedauert hat.

 

Zu dieser äußeren Analogie kommt jedoch eine thematische Entsprechung, die allerdings nicht nur Ähnlichkeit, sondern vor allem Kontrast einschießt. Denn während sich die aristotelische Metaphysik auf die Suche nach einer allgemeinsten und höchsten Gesamtursache macht und sie jenseits der Physik zu finden beansprucht, hat Ponge mit der Sonne die universale Ursache von vornherein im Auge, muß sich allerdings mit ihren Wechselfällen und Inkonsequenzen herumschlagen. Und mit Metaphysik oder gar Theologie will er gar nichts zu tun haben.

 

Deshalb schlage ich vor, das moderne der belletristischen Literatur zuzurechnende Buch von Ponge als „Gegenwerk“ zur aristotelischen Metaphysik zu lesen, die seit über 2000 Jahren als ein vielgedeutetes und umstrittenes Grundbuch der Philosophie gilt. 

 

Die Zahlenangaben in Klammern beziehen sich auf Francis Ponge: Le Soleil/Die Sonne. Herausgegeben, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Kommentar versehen von Thomas Schestag (Berlin 2020)

 

 

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Es beginnt ziemlich geozentrisch und natürlich auch anthropozentrisch mit dem „Mythos von Tag und Nacht“ (39) - also mit menschlichen Redensarten von hiesigen regelmäßigen Wechselfällen, die man nicht anders als über die Sonne erklären kann. 

 

„Julia, gold-braune Haut, die Schenkel leicht geöffnet, in einem luftigen Kleid, las in einer romantischen Anthologie. Er drängt sie vor einen Basar. Man sieht dort Teppiche wie Landschaften ausgelegt, auf ihnen Bronzen wie Felsen. Durchbrochene Schatullen gleichen Städten. Ein kleiner Teppich, von Ginstergold und Heideviolett durchwirkt.“ (44)

 

„Das Gedicht Der Tag und die Nacht entziffert im Wechsel von Tag und Nacht ein Machtverhältnis: es präzisiert den Unterschied von Tag und Nacht zur Hierarchie. Den Tag nennt es Tyrann, genauer tyrannische Lampe – die Nacht dagegen Märtyrer.“  (50)

 

Das französische Nomen raison und insbesondere das entsprechende Verb raisonner stehen in einem unübersehbaren, unüberhörbaren Verhältnis zur Sonne, im Deutschen: rai-sonn-er. Die sonne wohnt dem Räsonieren so ein, daß das Wort sich bei sich nicht wiederfindet, sondern aussetzt. (51)

 

Zu dem Gedicht Der Tag und die Nacht hat sich ein Kommentar von Armands Ponge, dem Vater des Dichters, der als ein aufmerksamer Leser der frühen Texte seines Sohnes 1922 (ein Jahr vor seinem Tod) festhält: Die Sonne ist für das Leben notwendig wie der Tyrann für die politische Organisation. Wir würden sie gern zum Archonten erwählen; doch einmal erwählt, übt er seine Tyrannei todbringend aus. Die Sonne aus seinem Leben zu entfernen und sich im künstlichen Licht am Leben erfreuen, ist Suizid.“ (51)

 

 

Und Ponge erlaubt sich einen Exkurs zu einer kleinen Sonne anderer Art, zur amerikanischen Artistin Evelyn Brent (1899-1975), der er ein Gedicht widmet:

 

„Der Star. (Gesicht eines Sterns in Großaufnahme)

 

Eingefaßt von einem schiefen Kranz aus spitzen Blütenblättern, die den Kopf vom Körper trennen vom Genick, ausgehend vom Schlußstein der Stirn aus glatter nackter Stärke, 

bis nach hinten, wo der Nacken zuerst den Klapp-

stuhl des Rückens berührt,

 

von den Wangen weder rund noch eckig,

oder von diesem Teint aus Kerzenschimmer, nachtwacher Seerose, mattem Glühbirnenglanz …“

 

 

 


 

 

Walter Seitter

 




[1] Man mag in diesem Titel eine Anspielung auf die 1913 uraufgeführte futuristische Oper Sieg über die Sonne sehen, die von fünf russischen Künstlern geschaffen worden ist. 

1 Kommentar:

  1. Ich verspreche mir nichts von Ponges ›Le Soleil placé en abime‹ als »Gegenwerk« zur aristotelischen ›Metaphysik‹, zumal das solare Mysterium im 20. Jahrhundert vom Griechen Odysseas Elytis ab 1943 mindestens ebenso fleissig und ebenso begriffslos ausgequetscht wurde wie von Ponge, Alexej Krutschonych und El Lissitzky.

    Ich schlage stattdessen vor, das Hauptwerk des Stagiriten mit einer philosophischen Modifikationen oder Gegenposition zu konfrontieren, die nicht von Heidegger stammt:

    Thomas von Aquin: Super Physicam Aristotelis, 1595
    René Descartes: Traité de l’homme, 1632
    Alfred North Whitehead: Process and Reality, 1927
    Christina Schües: Philosophie des Geborenseins, 2008

    Das macht intellektuell mehr Sinn und hat auch ein wenig mehr Würde, als im Kreis von erfahrenen Lese-Senioren über die »leicht geöffneten Schenkel« einer Julia zu diskutieren.

    Wolfgang Koch, August 2021

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