τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 28. Juli 2021

In der Metaphysik lesen (1074b 15 – 1075a 4)

Im Buch XI (1064b 9ff.) hatte Aristoteles davon gesprochen, daß die physischen Wesen die ersten unter den Dingen seien, womit er für seine Kultur eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck gebracht hatte (und mit den physischen Wesen hat er auch die Menschen gemeint). Aber dann stellt er noch eine weitere, eine davon unterschiedene Natur zur Debatte, eine hetera physis, und wenn es von der auch eine Wissenschaft gäbe, dann wäre sie eine allererste. Und dann könnte man von einer „Heterophysik“ sprechen, die näher bei der Physik stehen würde als die „Metaphysik“, die mit dem Präfix meta eine Übersteigung, eine Fortbewegung suggeriert. Die Bezeichnung „Heterophysik“ würde die Frage nach der Beschaffenheit des Gegenstandes dieser anderen oder andersartigen Physik dringlicher stellen – etwa so wie „Paraphysik“. 

Die Beschaffenheit des speziellen Gegenstandes der Metaphysik im engsten, im theologischen Sinn, wird ja mit dem Wort „Gott“ kaum deutlich gemacht, zumal dieses Wort heute wohl noch weniger begrifflich-verständlich sein dürfte als in früheren Zeiten. 

Aristoteles bietet ja relativ viele Begriffe auf, um das Erste Prinzip in seiner Eigenart zu konturieren. Es sind allesamt ziemlich bekannte Begriffe: Denken, Lust, Wachen, Lebendigkeit. Der einzige neue Begriff war die diagoge, die Lebensführung, vielleicht derjenige Begriff, der der modernen Anthropologie besonders nahekommt, da er das Existenzielle andeutet. Die ontologischen Begriffe des Wesens und der Verwirklichung sind noch zu nennen. 

Die Aussagen gingen in die Richtung, daß bei dem Ersten Prinzip alle positiven Qualitäten ins Superlativische gesteigert sind. Ich habe daher von „Aktivismus“ gesprochen – besser wäre vielleicht von „Aktivistik“ zu sprechen, von aktiv geleisteter höchster Intensität. 

In einem Gespräch mit der FAZ hat Peter Sloterdijk am 10. Juli 2021 auch aus seiner Sporterfahrung heraus die These vertreten: „Menschen sind Hochgefühlssucher“. Hochleistung und Hochgefühl hat er als parallele Erfahrungen namhaft gemacht.

 

Meiner Vermutung nach läßt sich so etwas auch dem aus dem gelesenen Text bekannten aristotelischen Ersten Prinzip zuschreiben – aber nicht als Suche und nicht als relativ kurzzeitiger Ausnahmezustand sondern als dauerhaft aufrechterhaltener Optimal- und Maximalzustand. Wobei ihm die Aufrechterhaltung des Optimums keine Mühe macht, wie Aristoteles im Abschnitt 9 gleich bemerken wird (1074b 29). 

Und nun noch einmal zum Qualitativen des Ersten Prinzips. Wenn es nicht im Physischen liegt – welche Realitätsgattung kommt dann in Frage? Die Qualität des Psychischen haben wir für das Erste Prinzip bereits namhaft gemacht. In der Lehre von den Verursachungen hat Aristoteles neben die physischen oder natürlichen Ursachen die technischen oder künstlichen genannt, wofür sportliche Hochleistungen ganz passende Beispiele liefern, denn auch da geht es um Techniken bis hin zur Akrobatik. 

Schematisch können wir die beiden Alternativen zum Physischen so aufschreiben:

 

physisch                              psychisch

 

körperlich

 

materiell

 

 

 

physisch                          technisch

 

natürlich                         künstlich

                                

künstlerisch

                   

artistisch

 

Dann wäre das Erste Prinzip weniger ein Naturereignis nach Art der Sonne sondern eher mit einem Akrobaten zu vergleichen, der seine Tätigkeiten wie das Denken und das Faszinieren und das Attrahieren unaufhörlich durchführt und weitermacht und das seit jeher – wieso nicht?

Zumindest die psychischen Intensitätszustände können laut Aristoteles auch dem „Ersten Prinzip“ zugeschrieben werden – natürlich nicht im Modus der Suche sondern als Dauerzustand.

„Natürlich“ ? Nein, nicht ganz: eher als „paranatürlich“, als „heterophysisch“, als „künstlich“. 

Erstes Prinzip als Dauerhochgefühlsgenie und Dauerhochleistungsakrobat. Mit dem zweiten Ausdruck rücke ich das Erste Prinzip in die Nähe der Künstlichkeit. 

Ein Akrobat vollbringt und zeigt Körperhaltungen und -bewegungen, die sogenannten normalen nämlich ungeübten Menschen unmöglich sind vielleicht auch peinlich weil allzu auffällig und sonderbar wären. Er ist ein Übertreibungskünstler – wie sich ein auffälliger österreichischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts kokett selbst genannt hat. 

Und das Erste Prinzip ist gewiß ein Übertreibungskünstler – diese Formulierung verdanke ich meiner Aristoteles-Lektüre, die den von den Liebhabern „des Stagiriten“ nie gesehenen Begriff der diagoge nicht nur sieht sondern auch ernst nimmt. 

Man könnte es einen Extrem-Diagogiker nennen. Es hält den höchsten Intensitätsgrad ständig aufrecht. Eine Höchstleistung, von der man sich fragen kann, ob sie mitsamt der ihr zugesprochenen Ewigkeit tatsächlich in den Rahmen dessen paßt, was „Natur“ genannt werden kann. Aristoteles ist da skeptisch und neigt dazu, die Leistung des Prinzips einer „verschiedenen Natur“ zuzuschreiben. Die moderne Physik ist da noch skeptischer und sie spricht allen Naturphänomenen so etwas wie „Ewigkeit“ grundsätzlich ab. 

Von Kunst hat Aristoteles auch gesprochen, als er die Überlieferungsleistungen erwähnte, mit denen die Menschen das Wissen vom Göttlichen artikulieren und gegen Vergessen und gegen Verderben fortsetzen und aufrechterhalten. 

Die Sammelbezeichnung für diese epistemischen Leistungen könnte lauten: Dianoetik oder Theoria oder Technik – aber im Sinne von Kunst, Poetik, Artistik. 

 

Artistik als menschliche, vielfältige, immer wieder erfundene und verlorene und wieder gefundene wie es in 1074b 10 heißt Tätigkeit (zu der auch die Philosophie gehört (damals erst seit 200 Jahren)).

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Aristoteles legt sich nun für das Erste Prinzip, welches auch als Göttliches bezeichnet wird, auf die begriffliche Bestimmung „Vernunft“ fest, im Griechischen der substantivische Träger des Denkens. 

Diese Identifizierung wird aber nun keineswegs als sofort plausibel akzeptiert oder gar begrüßt – etwa aufgrund eines ohnehin selbstverständlichen „Logozentrismus“, wie im 20. Jahrhundert unterstellt worden ist.

Sondern Aristoteles sieht in seiner eigenen Annahme sogleich einige Schwierigkeiten auftauchen. Zum einen soll sie angeblich das Göttlichste unter den Erscheinungen sein, womit sie im gewöhnlichen Erfahrungsraum mit seinen epistemischen Ungewißheiten angesiedelt wird. Hier wird das Göttliche nun doch zu den Erscheinungen gezählt – wie steht es dann mit seiner Unwahrnehmbarkeit, ist sie so strikt gemeint wie sie klingt? Ist seine Position doch nicht so „meta“physisch also transzendent – sondern eher heterophysisch und folglich auch heterophänomenal?

Und damit erhebt sich auch die Frage, „wie sich diese Vernunft als derartige verhalte“ (1074b 17). Aristoteles möchte also die Wesensbestimmung und die Rangbestimmung mit einer deskriptiven Charakterisierung des Verhaltens, das Agierens verbinden, also mit akzidenziellen und irgendwie wahrnehmbaren Bestimmungen verbinden, damit nicht mit bedeutsamen Begriffen jongliert werde, ohne daß man weiß, was eigentlich gemeint ist, was eigentlich los ist. Diesen Anspruch auf Erfüllung von Begriffen mit Anschauung stellt Aristoteles an seine eigenen Aussagen und damit versucht er immerhin, sein eigenes Denken (über das Denken, welches das Göttliche sein soll) so zu qualifizieren, daß es als seriöses Denken gegenüber seinen Vorläufern und womöglich auch als Annäherung an die Denkaufgabe gelten kann und den Lesern – in diesem Falle uns – zugemutet werden kann, denn wir wollen ja nicht nur irgendetwas Antikes lesen müssen sondern eine Aufklärung über eine Fragestellung bekommen, vielleicht sogar eine Weiterführung in einer Problematik bekommen, die auch heute noch verständlich ist, auch wenn sie uns fern liegt. 

Also wenn diese Vernunft nichts tut, wenn sie gar nicht denkt, sondern schläft, was wäre dann ihre Würde? Mit dieser Frage erinnert mich Aristoteles an eine Diskussion, die wir hier vor einem Jahr hatten und in der ein Leser-Kollege meinte, mit dem Wesensbegriff, der auf einen Menschen oder auf sonst eine Entität angewandt wird, werde immer auch eine Würde zugesprochen. 

Im hiesigen Fall können wir Aristoteles so verstehen, daß er meint, wenn diese angebliche göttliche Vernunft eh nur schläft, dann können wir uns diese ganze Annahme sparen, da sie nur so eine romantische Ahnung von etwas Unbestimmtem ist. So unbestimmte Aussagen macht Aristoteles eher nicht. Hier jedenfalls will er nicht durch understatement glänzen – sondern im Gegenteil. Die Vorstellung von der schlafenden Vernunft wird übrigens auch durch das “unbewegt“ nahegelegt – durch das „bewegend“ jedoch sofort dementiert. 

Denkt hingegen diese Vernunft tatsächlich, stellt sich die Frage, ob sie selber oder ob etwas anderes darüber entscheidet, was sie denkt, worauf sie ihr Denken richtet; ist es etwas anderes, so wäre ihr Wesen nicht das Denken selber, der Denkvollzug, sondern ein Vermögen, das von außen bestimmt wird. Dann aber wäre sie nicht das beste, das vollkommenste Wesen aufgrund eigener permanenter Initiative. 

Dann stellt sich die Frage, ob jene Vernunft sich selber oder etwas anderes denkt. Und im zweiten Fall, ob sie stets dasselbe denkt oder einmal das und einmal jenes. Denkt sie ständig das Schöne, Richtige, Vollkommene oder denkt sie, was gerade daherkommt? Ist es unzutreffend anzunehmen, daß sie über diese und über jene Gegenstände denkt? 

Diese Fragen werden im Text als Suggestivfragen gestellt und verstanden, sodaß er zum Schluß kommt, daß die Vernunft offensichtlich das Göttlichste und Würdigste denkt und daß sie sich nicht verändert.

Für uns dürfte dieser Schluß kaum offensichtlich sein, aber wir können sehen, wie er ihn erläutert und absichert.

Er behauptet, eine Veränderung ginge zum Schlechteren und das ginge mit Bewegtheit einher – was Aristoteles von dieser Vernunft gerade fernhalten will. Außerdem will er von ihr fernhalten, daß sie Vermögen ist, denn in diesem Fall würde ihr das ununterbrochene Denken Mühe machen – womit Aristoteles wieder auf den Vergleich mit dem Menschen zurückkommt, der möglich ist, weil auch der Mensch mit Vernunft ausgestattet ist – aber in geringerer Weise.  

Eine andere Problematisierung der Vernunft stellt Aristoteles an, indem er behauptet, es gebe sehr wohl etwas Ehrwürdigeres als die Vernunft: nämlich das von ihr Gedachte. Und zwar mit der paradoxen Begründung: sie könne auch das Schlechteste denken – dies aber soll man vermeiden (wie es besser ist, manche Dinge nicht zu sehen als sie zu sehen): daher kann das Denken nicht schlechterdings das Beste sein. Also ist die Vernunft in der stärksten Position, wenn sie sich selber denkt und ihr Denken ist Denken des Denkens (1074b 34). 

Heißt das nun, daß sich Aristoteles mit der göttlichen Vernunft einen absoluten Narziß ausgedacht hat? Der einfach nur in Selbstreflexion besteht, nur aus Identität mit sich selbst besteht oder nur wie ein Punkt existiert, der bekanntlich so klein ist, daß er nicht einmal mit einem spitzen Bleistift gezeichnet werden kann?

Das könnte man denken, wenn man es unterläßt, weiterzulesen, welche Unterlassung ein Hauptfehler beim Lesen dieser Metaphysik wäre, welche sich nämlich als eine mehr oder weniger geordnete Textmasse ausbreitet und hinzieht und in ihrer Hin-und Hinausziehung liegt die Chance, daß man ihre „Bedeutung“ nicht vorschnell verkürzt und abschließt (weil „immer schon“ gewußt hat). 

Da das göttliche Denken das Denken in Reinkultur darstellt, intensivst aktualisiert und schönst darstellt, greift Aristoteles zu seiner Erläuterung wiederum wie schon bei der ersten Hinführung im Abschnitt 7 zu einer anthropologischen Spektralanalyse und nennt eine kleine Reihe von menschlichen und hoffentlich bekannten Denk- oder Erkenntnisformen als da sind die Wissenschaft und die Wahrnehmung und die Meinung und die Überlegung (er begnügt sich mit diesen). 

Diese Erkennntisformen oder -modalitäten haben jeweils ihren eigenen Charakter, ihr eigenes Prestige; keine von ihnen wird von Aristoteles als unwichtig oder nur fehleranfällig abgetan, keine von ihnen mit irgendeinem Monopolanspruch ausgestattet – man ist weit entfernt von den Absolutsetzungen, die sich im 20. Jahrhundert in der einen oder anderen Richtung wichtig gemacht haben, etwa von der Absolutsetzung der Wissenschaft, auf die in jüngster Zeit eine antiwissenschaftliche Besserwisserei reagiert.

Und von denen behauptet er, was hoffentlich auch schon bekannt ist (sei es aus Platon oder aus Aristoteles oder aus eigener Erfahrung), daß die Erkenntnisformen sich jeweils auf irgendeinen Gegenstand beziehen, daneben aber auch auf die Erkenntnis selber. Dieses Sich-beziehen-auf nennt man seit der Scholastik „Intention“ und bereits die Linguistik unterscheidet bei den Verben Transitivität, Intransivität, Reflexivität. 

Aristoteles sagt also, daß die kognitiven Verhalten hauptsächlich objektgerichtet sind, nebenbei aber auch reflexiv eingestellt. Ihre Intentionalität ist also immer schon zwischen mehreren Richtungen „gestreut“. 

Ich habe die Richtungen in hauptsächliche und nebensächliche unterschieden – eine Art Bewertung, die sich häufig pragmatisch durchsetzt. Ich würde sogar sagen, daß auch Aristoteles der Objektorientierung einen pragmatischen Vorrang einräumt, weil das Sich-zurechtfinden in der Welt Außenorientierung erfordert. Insofern es aber dabei darum geht, in der Welt sich zurechtzufinden, muß die Reflexiveinstellung ständig mitgeleistet werden. 

Neben so einem pragmatischen Gesichtspunkt spielt für die aristotelische Hervorhebung der Einswerdung des Denkens mit dem Gedachten eine ganz spezielle Erkenntnisontologie eine Rolle, die sich in zwei beinahe esoterischen Thesen ausdrückt: erstens daß sowohl das Erkennende wie auch das Erkannte sich aktualisieren und die beiden Aktualisierungen zusammenschießen, wobei Erkennendes und Erkanntes seinsmäßig unterschieden bleiben; zweitens daß die Seele irgendwie alle die Dinge ist.

 

Walter Seitter

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