In der Metaphysik lesen (BUCH
VIII (H), 1048b 18 – 1048b 37)
Bisher stand die Polarität zwischen
Vermögen und Verwirklichung im Vordergrund – zwei Seinsmodalitäten, die auch in
der uns bekannten Realität vorkommen (wie die vielen Beispiele anschaulich
machen – etwa Baumeister und Bautätigkeit) und nicht nur aristotelische
Konstruktionen sind (aber hier sind sie von Aristoteles formuliert).
Dynamis und energeia. Die
Übersetzung von energeia durch „Verwirklichung“ ist, wie
Sophia Panteliadou sagt, sehr problematisch und das zeigt sich gerade nun, da
sie selber differenziert wird. Eine Differenzierung, die Aristoteles
begrifflich vornimmt, wobei er allerdings in seiner Begriffsverwendung selber
schwankt.
Zunächst ist es der Begriff der
Handlung, der differenziert wird: es gibt Handlungen, die ich hier in eine
linke Kolonne schreibe, und solche, die ich in die rechte schreibe:
sehen abmagern
überlegen gesund
werden
denken lernen
gut
leben gehen
glücklich
sein bauen
leben entstehen
Die Wörter auf der rechten Seite
bezeichnen Tätigkeiten (und zwar fast ausschließlich typisch menschliche), die
ihr Ziel nicht in sich enthalten, wohl aber jeweils auf ein Ziel ausgerichtet
sind, ein externes Ziel. Und diese Tätigkeiten sind deswegen auch darauf
angelegt, dass sie aufhören, wenn das Ziel erreicht ist. Insofern begrenzte
Tätigkeiten.
Links solche Tätigkeiten, die ihr Ziel
in sich selbst enthalten: sobald sie angefangen haben, erreichen sie „immer
schon“ ihr Ziel – und daher haben sie keinen Grund, irgendwann aufzuhören,
denn, indem sie weitergehen, erreichen sie weiterhin ihr Ziel. Tätigkeiten mit
internem Ziel und mit einer gewissen Unaufhörlichkeit.
Diese beiden Tätigkeitssorten werden
also mittels der Begriffe Ziel und Grenze voneinander unterschieden. Die auf
der linken Seite werden von Aristoteles hauptsächlich als Handlungen bezeichnet
und zwar als vollkommene. Die auf der rechten Seite als Bewegungen, d. h.
Veränderungen zu einem bestimmten Resultat hin. Wolfgang Koch sagt, die ersten
stehen für „Sein“, die zweiten für „Werden“. Wobei „Sein“ aber nicht ein ganz
stilles Sein meint, etwa ein Steinsein, sondern ein Tätigsein, das einen hohen
Aktivitätsgrad vollzieht und durchhält. (Die moderne Physik würde sagen, auch
im Stein vollziehen die Atome mit ihren Bestandteilen zyklische Abläufe).
Eine andere Charakterisierung des
Unterschieds drückt Aristoteles mit einer Art Sprachspiel so aus. Handlung: man
lebt und hat damit schon gelebt. Bewegung: man lernt und hat damit (vielleicht)
noch nicht (aus)gelernt. Im ersten Fall eine Koinzidenz von Gegenwart und
Vergangenheit: das Jetzt ist eine Weiterführung des Früher. Es gibt keinen
Grund zum Aufhören, es geht um Dauer – oder um unbegrenzte Gegenwart. Die
aber gar nicht mit dem sogenannten Unbegrenzten von vorhin ineins fällt.
Während dieses nach Aristoteles nur im Möglichen verbleibt, sind die
unbegrenzten Gegenwarten auf der linken Seite Hochleistungswirklichkeiten.
Man könnte die zwei Kolonnen aus der
letzten Stunde mit denen von heute zu einer Viersäulenarchitektur mit
folgenden Überschriften ausbauen:
Verwirklichungen
Vermögen Unbegrenztes
Handlungen Bewegungen
Gerhard Weinberger stellt die Frage, ob
nicht die Koinzidenz der Zeitstufen in den Handlungen auch die Zukunft einbeziehen
könnte oder müsste. Berechtigte Frage, die meines Erachtens mit Ja zu
beantworten ist. Und von Aristoteles wird sie indirekt auch so beantwortet:
denn das Nicht-aufhören-müssen macht er zum Kennzeichen des Glücklich-seins
(1048b 27). Aber ausdrücklich führt er hier die Zukunft nicht ein (wohl hat er
das im Verhältnis Vermögen-Verwirklichung getan). Hier handelt es sich um die
Zeitstufen innerhalb der Verwirklichung (Handlung) und da scheint Aristoteles
zukunftsscheu zu sein. Eine Einbeziehung der Vergangenheit haben wir schon
bei dem to ti en einai festgestellt (einem Synonym des Wesens
und der energeia)
Mit der ganz linken Kolonne
rekonstruiere ich die Konstruktion des exakten Begriffs der Handlung (praxis),
des Grundbegriffs der aristotelischen Ethik und Politik. Diese Konstruktion hat
sich hier im Buch IX der Metaphysik zugetragen, sozusagen zusammengetragen,
ohne dass von Ethik die Rede war. Es handelt sich um eine Konstruktion aus
der Ontologie heraus - nicht mit den Begriffen Substanz und Akzidens
sondern mithilfe der Begriffe Vermögen und Verwirklichung, die ebenfalls
ontologische Begriffe sind, da auch sie Seinsmodalitäten bezeichnen.
Die linke Kolonne repräsentiert das
Maximum an energeia in diesem Kapitel – in größter Absetzung
vom sogenannten „Unbegrenzten“ ganz rechts, wo sich die pure Möglichkeit ausbreitet. Von
diesem Unbegrenzten haben sich bereits die einzelnen Vermögen abgesetzt, dann
die Bewegungen mit ihren externen Zielen, schließlich die Handlungen mit
internen Zielen und Dauerhaftigkeit.
Schauen wir uns an, aus welchen
Tätigkeiten sich dieser Handlungsbegriff zusammensetzt, so können wir zwei
Gruppen feststellen:
sehen leben
überlegen gut
leben
denken glücklich
sein
Die eine Gruppe besteht aus drei
„theoretischen“ Tätigkeiten – obwohl auch sie die Praxis konstituieren sollen.
In der
zweiten Gruppe fällt auf, dass das Verb leben zweimal vorkommt – einmal leben
überhaupt, dann gut leben. Diese beiden Ausdrücke spielen bei Aristoteles auch
an anderer Stelle eine wichtige Rolle – und zwar als Polarität. Hier aber
werden sie aneinander gereiht und verbunden mit dem glücklich sein. In
dieser Gruppe dominiert das Biotische, das Vitale, das Pragmatische, ja das
Hedonistische. Ein Gegensatz zur ersten Gruppe? Das mag uns so scheinen,
doch der daraus gebildete Begriff der Handlung ist eben so komplex. Dass es
sich dabei um den Grundbegriff der aristotelischen praktischen Philosophie
handelt, wird in der hier skizzierten Rekonstruktion wohl nicht recht
deutlich. Es ist aber so.
PS.: Heute, am 11. April, war ich bei
der Trauerfeier für den Architekturkritiker Friedrich Achleitner (mit einigen
schönen Reden und Lesungen, etwa einer von Oswald Wiener (mit äußerst präzisen
Küchengedichten)).
Ich nehme das zum Anlass, einige
Bemerkungen über Beziehungen zwischen Aristoteles und Architektur zu machen.
Solche sind zum ersten Mal im Winter 2000 in mein Leben getreten, als
ich die Metaphysik kursorisch durchging, um dort eine Physik
des Hauses zu suchen und zu finden. Eine Motivation dazu hatte ich drei
Jahre zuvor beim mehrmaligen Sehen eines sehr einfachen Films empfangen: Der Mann, der
ein schönes Haus hatte – von Jimmie Durham (1994). Wo er sich
im Grünen auf einen Stein setzt, aus seinem Mantel einen in Zeitungspapier
gewickelten Ziegelstein herausholt und zu reden anfängt: „Ja, ich habe ein sehr
schönes Haus ...“, und dann zeigt er noch ein Stück von einem
abgebrochenen Küchenmesser, um uns zu zeigen, wie schön seine Küche ist. Diese
minimalistische Hausbetrachtung und –beschreibung hat mich dann angespornt, in
dem berühmten Buch des Aristoteles recht bescheidenen Ausführungen
nachzugehen, den kurzen Ansätzen zu einer Definition des Hauses: Steine
und Hölzer als Materialien; schützender Behälter für Leiber und Gerätschaften
als Funktion ... und dann noch diese Physik als Basis für eine praktische
Wissenschaft, wie nämlich Mann und Frau und Kinder und Knechte sich regieren
müssen. Auf die Entstehung eines Hauses geht Aristoteles öfter ein und seine
Rede bleibt immer beim Hausbau, nie suggeriert er Vorstellungen von
Heiligtümern, die unser Wissen von antiker Architektur prägen; es geht
immer um die prosaische Ebene der Häuser für Männer, Frauen und so
weiter. Dieses Sammeln von derartigen Fußnoten trieb meine erste
persönliche Aristoteles-Lektüre an und allmählich schärfte sich mein Gespür für
seine oftmals lakonische und steinige Sprache, für recht hölzerne Wendungen wie
etwa „das Seiende“, an das ich mich nur schlecht gewöhnen kann – doch
diese Gewöhnungsschwierigkeit verhilft mir dazu, dann doch die Erkenntnischance
wahrzunehmen, die sich auftut, wenn die Betrachtung „des Seienden als Seienden“
zum Programm gemacht wird und das Seiende aus der Nähe betrachtet und
sozusagen aufgeschlagen werden soll.
Walter Seitter
Seminarsitzung vom 10. April 2019
Nächste Sitzung am 08. Mai 2019