τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 8. April 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH VIII (H), 1048a 25 – 1048b 18)

Das jetzt genannte Vermögen, das von Natur aus in der Lage ist, anderes zu bewegen oder von anderem bewegt zu werden, ist nicht das einzige; Aristoteles behauptet, auch von andersartigen Vermögen gesprochen zu haben – so vage deutet er eine wichtige Unterscheidung an, die ja auch in der Gliederung der Wissenschaften ihre Fortsetzung findet. Wir denken an die Kunstvermögen, also diejenigen, welche durch die poietischen Wissenschaften weitergeführt werden. Eigentlich müssten dann auch noch die praktischen, also ethischen oder politischen Vermögen genannt werden, doch die sind in der Behandlung der Vermögen bisher gar nicht vorgekommen.

Wolfgang Koch meint dazu, dass bei Aristoteles Ontologie und Ethik weit auseinander zu liegen scheinen. Dieser Eindruck trügt nicht und er hat dazu beigetragen, dass die aristotelische Ontologie im anthropozentrisch orientierten 20. Jahrhundert wenig Plausibilität gewonnen hat. Dabei könnte man doch den Begriff der Tugend an den Begriff des Vermögens annähern – wie die Kunstvermögen werden auch die Tugenden erst durch Betätigung erlernt und eingeübt. Aber diese Sorte von Vermögen wird hier in der Zusammenfassung nicht einmal genannt, obwohl Aristoteles andeutet, es gebe neben den natürlichen Vermögen noch mehrere andere Arten von Vermögen. Er schreibt so elliptisch, dass manches Wichtige einfach ausfällt.

Oder hängt die Ethik-Ferne der aristotelischen Ontologie damit zusammen, dass diese im Wesen ihre Hauptkategorie hat? Hat es nicht die Ethik mit den Qualitäten von Handlungen, also mit Akzidenzien von Akzidenzien zu tun? Da könnte man die Vermutung äußern, dass die Polarität Vermögen-Verwirklichung eher mit einer anderen Ontologie, etwa einer Prozess-Ontologie, kompatibel wäre.

Jetzt überrascht Aristoteles mit einer feierlichen und lapidaren Definition der Verwirklichung: Verwirklichung ist das Bestehen einer Sache – wörtlich: ist das „die Sache sein“. Wird damit nicht die Verwirklichung in die elementarste Ebene der Ontologie eingerückt – wenngleich mit etwas anderen Worten: pragma und hyparchein Hyparchein zweifellos ein Synonym für einai. Und pragma für ousia? Immerhin heißt pragma wortwörtlich „Tat“. In 1043a 16ff. war das Haus als „schützender Behälter“ unter die Begriffe „Verwirklichung“ und „Form“ gestellt worden: Wesen als Tätigkeit. Im Aristoteles-Lexikon heißt es daher, dass ein Haus, das als schützender Behälter funktioniert, als „tätig“ bezeichnet werden kann (181).

Der Begriff energeia bezeichnet also den direkten Übergang zwischen Sein und Tun, Sein als Tun. (Englisch: how do you do im Sinn von how do you be? Österreichisch: sein tun).

Im folgenden eine nach dem Prinzip der Analogie  vorgehende Auflistung von Gegenüberstellungen:

Verwirklichung                                        Vermögen
Bauendes                                           Baukundiges
Wachendes                                          Schlafendes
Sehendes                                  jetzt nicht Sehendes
aus dem Stoff Abgesondertes                              Stoff
Bearbeitetes                                    Unbearbeitetes
Wesen                                                    Stoff

Zwei dieser Gegenüberstellungen beziehen sich auf passive Verwirklichungen und Vermögen. Die vorhin herbeigesagte Problematik wird nun von Aristoteles selber direkt aufgeworfen, indem er das Wesen auf die Seite der Verwirklichung stellt, den Stoff auf die Seite des Vermögens. Wird damit die Polarität von Verwirklichung und Vermögen zur obersten (Doppel)Kategorie der aristotelischen Ontologie erklärt? Eine alternative bzw. supplementäre Hauptkategorie neben bzw. über dem Wesen?

Dann kommt Aristoteles auf das Unbegrenzte oder Leere zu sprechen. Was meint er damit? Er meint damit nicht solches, wie das Sehende, Gehende oder Gesehene; vom Gesehenen kann man ja sagen, dass es gesehen wird oder gesehen werden kann. Vom Unbegrenzten oder Unbestimmten kann man nicht sagen, dass es irgendwann wirklich und selbständig sein kann (außer fürs Denken).

Dieses Unbestimmte steht daher noch weiter weg von der Verwirklichung als das Vermögen – es bildet sozusagen eine dritte Kolonne rechts von den Vermögen: eine noch rechtere oder eben die rechteste. Die Kolonne der unbestimmten Möglichkeiten, die immer nur Möglichkeiten bleiben – aber als solche gedacht werden müssen, und daher bekommen sie von mir auch eine eigene Kolonne zugewiesen (die allerdings recht monoton aussehen bzw. klingen würde: immer wieder nur Unbegrenztes, nämlich das eine Unbegrenzte).

Im Aristoteles-Lexikon heißt es daher, Aristoteles stelle sich gegen die Tradition von Anaximander, Pythagoras, Platon und Anaxagoras, welche dieses Unbestimmte als Prinzip aufgestellt haben, und er gehöre insofern dem Hauptstrom der griechischen Tradition an, der das Unendliche als das Unbestimmte, Chaotische dem Endlichen als dem Begrenzten, Bestimmten nachordne (56).


Walter Seitter
3. April 2019

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