Das jetzt genannte
Vermögen, das von Natur aus in der Lage ist, anderes zu bewegen oder von
anderem bewegt zu werden, ist nicht das einzige; Aristoteles behauptet, auch
von andersartigen Vermögen gesprochen zu haben – so vage deutet er eine
wichtige Unterscheidung an, die ja auch in der Gliederung der Wissenschaften ihre
Fortsetzung findet. Wir denken an die Kunstvermögen, also diejenigen,
welche durch die poietischen Wissenschaften weitergeführt werden. Eigentlich
müssten dann auch noch die praktischen, also ethischen oder politischen
Vermögen genannt werden, doch die sind in der Behandlung der Vermögen bisher
gar nicht vorgekommen.
Wolfgang Koch meint dazu,
dass bei Aristoteles Ontologie und Ethik weit auseinander zu liegen
scheinen. Dieser Eindruck trügt nicht und er hat dazu beigetragen, dass
die aristotelische Ontologie im anthropozentrisch orientierten 20. Jahrhundert
wenig Plausibilität gewonnen hat. Dabei könnte man doch den Begriff der Tugend
an den Begriff des Vermögens annähern – wie die Kunstvermögen werden auch die
Tugenden erst durch Betätigung erlernt und eingeübt. Aber diese Sorte von
Vermögen wird hier in der Zusammenfassung nicht einmal genannt, obwohl
Aristoteles andeutet, es gebe neben den natürlichen Vermögen noch mehrere
andere Arten von Vermögen. Er schreibt so elliptisch, dass manches Wichtige einfach
ausfällt.
Oder hängt die Ethik-Ferne
der aristotelischen Ontologie damit zusammen, dass diese im Wesen ihre
Hauptkategorie hat? Hat es nicht die Ethik mit den Qualitäten von Handlungen,
also mit Akzidenzien von Akzidenzien zu tun? Da könnte man die Vermutung
äußern, dass die Polarität Vermögen-Verwirklichung eher mit einer anderen
Ontologie, etwa einer Prozess-Ontologie, kompatibel wäre.
Jetzt überrascht
Aristoteles mit einer feierlichen und lapidaren Definition der Verwirklichung:
Verwirklichung ist das Bestehen einer Sache – wörtlich: ist das „die Sache
sein“. Wird damit nicht die Verwirklichung in die elementarste Ebene der
Ontologie eingerückt – wenngleich mit etwas anderen Worten: pragma und hyparchein ? Hyparchein zweifellos
ein Synonym für einai. Und pragma für ousia?
Immerhin heißt pragma wortwörtlich „Tat“. In 1043a 16ff. war
das Haus als „schützender Behälter“ unter die Begriffe „Verwirklichung“ und
„Form“ gestellt worden: Wesen als Tätigkeit. Im Aristoteles-Lexikon heißt
es daher, dass ein Haus, das als schützender Behälter funktioniert, als
„tätig“ bezeichnet werden kann (181).
Der Begriff energeia bezeichnet
also den direkten Übergang zwischen Sein und Tun, Sein als Tun. (Englisch: how do
you do im Sinn von how do you be? Österreichisch:
sein tun).
Im folgenden eine nach dem
Prinzip der Analogie vorgehende Auflistung von Gegenüberstellungen:
Verwirklichung
Vermögen
Bauendes
Baukundiges
Wachendes
Schlafendes
Sehendes
jetzt nicht Sehendes
aus dem Stoff
Abgesondertes
Stoff
Bearbeitetes
Unbearbeitetes
Wesen
Stoff
Zwei dieser
Gegenüberstellungen beziehen sich auf passive Verwirklichungen und Vermögen.
Die vorhin herbeigesagte Problematik wird nun von Aristoteles selber direkt
aufgeworfen, indem er das Wesen auf die Seite der Verwirklichung stellt,
den Stoff auf die Seite des Vermögens. Wird damit die Polarität von
Verwirklichung und Vermögen zur obersten (Doppel)Kategorie der aristotelischen
Ontologie erklärt? Eine alternative bzw. supplementäre Hauptkategorie neben
bzw. über dem Wesen?
Dann kommt Aristoteles auf
das Unbegrenzte oder Leere zu sprechen. Was meint er damit? Er meint damit
nicht solches, wie das Sehende, Gehende oder Gesehene; vom Gesehenen kann man
ja sagen, dass es gesehen wird oder gesehen werden kann. Vom Unbegrenzten oder
Unbestimmten kann man nicht sagen, dass es irgendwann wirklich und selbständig
sein kann (außer fürs Denken).
Dieses Unbestimmte steht
daher noch weiter weg von der Verwirklichung als das Vermögen – es bildet
sozusagen eine dritte Kolonne rechts von den Vermögen: eine noch
rechtere oder eben die rechteste. Die Kolonne der unbestimmten Möglichkeiten,
die immer nur Möglichkeiten bleiben – aber als solche gedacht werden müssen,
und daher bekommen sie von mir auch eine eigene Kolonne zugewiesen (die
allerdings recht monoton aussehen bzw. klingen würde: immer wieder
nur Unbegrenztes, nämlich das eine Unbegrenzte).
Im Aristoteles-Lexikon heißt
es daher, Aristoteles stelle sich gegen die Tradition von Anaximander,
Pythagoras, Platon und Anaxagoras, welche dieses Unbestimmte als Prinzip
aufgestellt haben, und er gehöre insofern dem Hauptstrom der griechischen
Tradition an, der das Unendliche als das Unbestimmte, Chaotische dem Endlichen als
dem Begrenzten, Bestimmten nachordne (56).
Walter Seitter
3. April 2019
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen