τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 1. April 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH VIII (H), 1047b 3 – 1048a 24)


Wenn etwas vermögend ist, dann wird ihm die Verwirklichung folgen. So die Reclam-Übersetzung des ersten Satzes von Abschnitt 4. 
Versteht man diese Definition ganz strikt, so kommt sie der Auffassung der Megariker weit entgegen. Denn sie besagt, dass ein bloßes Vermögen, ein Vermögen ohne Verwirklichung nur dadurch gekennzeichnet ist, dass eine Veränderung, etwa eine Erwärmung oder eine Heilung, erfolgen wird. Also erst in der Zukunft „zeigt sich“ das Vermögen. Nachträglich.
Die Präsenz und Bestimmtheit eines bloßen Vermögens lässt sich als solche gar nicht feststellen – erst die künftige Verwirklichung wird auf die vorausliegende Gegenwart des Vermögens schließen lassen.

Das bloße Vermögen unterscheidet sich zunächst in der Gegenwart nicht von der Unmöglichkeit. Beide implizieren ein Nicht-Sein in der Gegenwart. Während die Unmöglichkeit (Beispiel: Messbarkeit der Diagonale in natürlichen Zahlen) für die Zukunft ein Nicht-Sein prognostizieren lässt, lässt das Vermögen ein Sein  prognostizieren.

Die Polarität Vermögen-Verwirklichung „führt“ die Zeit „ein“, auch wenn kein Zeit-Begriff verwendet wird. Das bloße Vermögen ist eine Vorstufe der Verwirklichung, diese eine Folge des Vermögens.

Unmöglich und falsch sind nicht dasselbe – „falsch“ steht für nicht wirklich. Im Griechischen kein Wort für „wirklich“.

Wenn: wenn A  ist, muss  B sein -  dann muss B möglich sein, wenn  A möglich ist. Die Folgerung von A auf B ist eine gesetzte, willkürliche, künstliche und keine tautologische. Und sie wird mit unterschiedlichen Modalitäten durchgespielt.

Hingegen ist die Folgerung von A auf A tautologisch, unwillkürlich und laut Buch IV (3, 4, 5) das Sicherste Prinzip, das später „Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch“ genannt wurde; gemeint ist eigentlich:  Satz vom ausgeschlossenen Selbstwiderspruch; denn Widerspruch sollte nicht ausgeschlossen werden.

Dann in Abschnitt 5 eine Zweiteilung der Vermögen, die nicht so weit greift wie diejenige in Abschnitt 2. Sie betrifft zunächst nur Vermögen von Lebewesen und sie steuert ebenfalls auf die Kunst- oder Kulturfähigkeiten zu. Das Flötenspielkunst-Vermögen wird durch Lernen und Üben erworben und folglich geht diesem Vermögen die Verwirklichung in der Zeit voraus. Hier also  eine andere Zeitenfolge als vorhin aber wiederum eine Anbindung von Vermögen an Verwirklichung – das ist die megarische Tendenz.

Zu den begrifflosen Vermögen hier die Erläuterung, dass sie nur in Verwirklichung übergehen und zwar sozusagen automatisch, wenn sie sich ihrem Gegenüber lokal annähern.

Die begrifflichen Vermögen sind jeweils auf zwei Gegenteile ausgerichtet, können aber immer nur in eine Richtung wirken. Daher ist Entscheidung nötig, die von Aristoteles mit dem Begehren kombiniert wird. Beseelte Wesen verfügen nicht nur über Begriff (Vernunft), sondern auch über Begehren und Entscheidung – ansonsten würden sie zwischen den Gegenteilen sozusagen steckenbleiben.  Sofern auch da die lokale Annäherung zum Wirken nötig ist, muss sie eben herbeigeführt werden.

Das Vermögen, gleichzeitig zwei Gegenteile zu bewirken, gibt es nicht. Feststellung einer Unmöglichkeit, die bekanntlich jedenfalls bei Menschen zu einem realen Problem, zu einem sogenannten existenziellen, werden kann.

Wozu ein Vermögen angelegt ist, das wird es bewirken. Aristoteles macht so eine generelle Prognose, als ob das bei den Menschen so sicher wäre.

Walter Seitter

Seminarsitzung vom 27. März 2019
Nächste Sitzung am 3. April 2019

PS: Das erwähnte Buch von Fridolin Wipplinger Physis und Logos. Zum Körperphänomen in seiner Bedeutung für den Ursprung der Metaphysik bei Aristoteles (FreiburgMünchen-Wien 1971) ist in Sehen und Sagen (Wien 2016) von Eugen Dönt besprochen worden.

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