Wenn
etwas vermögend ist, dann wird ihm die Verwirklichung folgen. So die
Reclam-Übersetzung des ersten Satzes von Abschnitt 4.
Versteht
man diese Definition ganz strikt, so kommt sie der Auffassung der Megariker
weit entgegen. Denn sie besagt, dass ein bloßes Vermögen, ein Vermögen ohne
Verwirklichung nur dadurch gekennzeichnet ist, dass eine Veränderung, etwa eine
Erwärmung oder eine Heilung, erfolgen wird. Also erst in der Zukunft „zeigt
sich“ das Vermögen. Nachträglich.
Die
Präsenz und Bestimmtheit eines bloßen Vermögens lässt sich als solche gar nicht
feststellen – erst die künftige Verwirklichung wird auf die vorausliegende
Gegenwart des Vermögens schließen lassen.
Das
bloße Vermögen unterscheidet sich zunächst in der Gegenwart nicht von der
Unmöglichkeit. Beide implizieren ein Nicht-Sein in der Gegenwart. Während die
Unmöglichkeit (Beispiel: Messbarkeit der Diagonale in natürlichen Zahlen) für
die Zukunft ein Nicht-Sein prognostizieren lässt, lässt das Vermögen ein
Sein prognostizieren.
Die
Polarität Vermögen-Verwirklichung „führt“ die Zeit „ein“, auch wenn kein
Zeit-Begriff verwendet wird. Das bloße Vermögen ist eine Vorstufe der
Verwirklichung, diese eine Folge des Vermögens.
Unmöglich
und falsch sind nicht dasselbe – „falsch“ steht für nicht wirklich. Im
Griechischen kein Wort für „wirklich“.
Wenn:
wenn A ist, muss B sein - dann muss B möglich
sein, wenn A möglich ist. Die Folgerung von A auf B ist eine
gesetzte, willkürliche, künstliche und keine tautologische. Und sie wird mit
unterschiedlichen Modalitäten durchgespielt.
Hingegen
ist die Folgerung von A auf A tautologisch, unwillkürlich und laut Buch IV (3,
4, 5) das Sicherste Prinzip, das später „Satz vom (ausgeschlossenen)
Widerspruch“ genannt wurde; gemeint ist eigentlich: Satz vom
ausgeschlossenen Selbstwiderspruch; denn Widerspruch sollte nicht
ausgeschlossen werden.
Dann
in Abschnitt 5 eine Zweiteilung der Vermögen, die nicht so weit greift wie
diejenige in Abschnitt 2. Sie betrifft zunächst nur Vermögen von Lebewesen und
sie steuert ebenfalls auf die Kunst- oder Kulturfähigkeiten zu. Das
Flötenspielkunst-Vermögen wird durch Lernen und Üben erworben und folglich geht
diesem Vermögen die Verwirklichung in der Zeit voraus. Hier also eine
andere Zeitenfolge als vorhin aber wiederum eine Anbindung von Vermögen an
Verwirklichung – das ist die megarische Tendenz.
Zu
den begrifflosen Vermögen hier die Erläuterung, dass sie nur in Verwirklichung
übergehen und zwar sozusagen automatisch, wenn sie sich ihrem Gegenüber lokal
annähern.
Die
begrifflichen Vermögen sind jeweils auf zwei Gegenteile ausgerichtet, können
aber immer nur in eine Richtung wirken. Daher ist Entscheidung nötig, die von
Aristoteles mit dem Begehren kombiniert wird. Beseelte Wesen verfügen nicht nur
über Begriff (Vernunft), sondern auch über Begehren und Entscheidung –
ansonsten würden sie zwischen den Gegenteilen sozusagen
steckenbleiben. Sofern auch da die lokale Annäherung zum Wirken
nötig ist, muss sie eben herbeigeführt werden.
Das Vermögen,
gleichzeitig zwei Gegenteile zu bewirken, gibt es nicht. Feststellung einer
Unmöglichkeit, die bekanntlich jedenfalls bei Menschen zu einem realen Problem,
zu einem sogenannten existenziellen, werden kann.
Wozu
ein Vermögen angelegt ist, das wird es bewirken. Aristoteles macht so eine
generelle Prognose, als ob das bei den Menschen so sicher wäre.
Walter
Seitter
Seminarsitzung
vom 27. März 2019
Nächste
Sitzung am 3. April 2019
PS:
Das erwähnte Buch von Fridolin Wipplinger Physis und Logos. Zum Körperphänomen in seiner Bedeutung für
den Ursprung der Metaphysik bei Aristoteles (Freiburg–München-Wien 1971) ist
in Sehen und Sagen (Wien 2016) von Eugen Dönt besprochen worden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen