Ontologie und Theogramm
Es gibt in Wien zwei griechische
Kirchen, die eine, die Georgskirche, in der Griechengasse, die andere, die
Dreifaltigkeitskirche, auf dem Fleischmarkt. Beide verfügen über Details,
die in unserem Zusammenhang es verdienen, erwähnt zu werden und die ich als
„Theographien“ oder „Theogramme“ bezeichne.
In der Vorhalle der Georgskirche: eine
Christus-Abbildung im Stil der byzantinischen Ikonenkunst; um das Haupt
des Jesus ein goldener Nimbus und darin drei griechische Buchstaben
halbkreisförmig angeordnet.
Unten links ein Omikron, oben in der
Mitte ein Omega, unten rechts der Buchstabe, der im Griechischen Ny heißt, geschrieben
N.
Also in dieser Anordnung (den Nimbus
möge man sich dazu vorstellen):
Ω
Ο Ν
Man liest „ho on“ und übersetzt: „der
Seiende“.
Eine griechische Gottesbezeichnung, die
auf zwei weit auseinander liegende Wurzeln zurückgeht. Erstens auf die Stelle
im Alten Testaments (Exodus 3, 14), in der geschrieben steht, dass sich Gott
selber dem Moses exklusiv offenbart. Und zwar sagt er: „Ich bin, der ich bin.“,
und er nennt sich gleich noch einmal in der dritten Person: „Der da ist.“ (In
vereinfachender Übersetzung, welche den Zukunftsbezug des hebräischen Wortes
für „sein“ übergeht.)
Dieser redende Gott hat sich allerdings
auch noch näher erklärt, indem er auf sein Zusammenwirken mit dem Volk
Israel hinweist, und eben dieses bekräftigt er mit der zitierten Formel.
Die griechischen Ikonenmaler haben diese
mosaische Selbstbenennung Gottes in einer griechischen Übersetzung
angeschrieben, die den Stil der griechischen Ontologen übernimmt und sich an
die Partizipialkonstruktion „to on“ („das Seiende“ ) anlehnt, die bei
Parmenides und bei Aristoteles eine wichtige Formel bildet. Die
griechische Philosophie war auch damit erfunden worden, dass man das dritte
Geschlecht, das neutrale, vorgezogen hat und viele Substantivierungen mit „das“
gebildet hat. So auch „das Seiende“, das Grundwort der Ontologie, das öfter
auch tautologisch verdoppelt worden ist. Eine solche Verdoppelung hat sich auch
der alttestamentarische Gott erlaubt – aber eben im männlichen Geschlecht.
Die Formel „to on“ spielt vor allem bei
zwei Philosophen eine wichtige Rolle: beim Vorsokratiker Parmenides, für den
sie die Fülle der Wirklichkeit, die ewige, vollkommene und göttliche Realität
bezeichnet – die allerdings nicht jedem Menschen eröffnet wird, begnügen sich
doch die meisten Menschen mit Meinungen über angebliche Veränderungen. Ganz
anders beim Nachsokratiker Aristoteles, für den das Seiende Gegenstand einer
differenzierenden Betrachtung wird und sich in ganz unterschiedliche und eher
formale Modalitäten abwandelt: Wesen und Eigenschaften und Relationen,
Entstehen und Vergehen, Wirklichkeit und Möglichkeit und so weiter .... . Das
ergibt einen sehr flexiblen und multiplen Begriff des Seienden.
Die christlichen Bildermacher (und die
dazu gehörigen Bilderverehrer) stellen den Gott, der Mensch geworden ist,
einigermaßen anthropomorph dar, schreiben ihm aber eine aus der Ontologie
übernommene rein formale Kennzeichnung als Namen zu.
An der orthodoxen Dreifaltigkeitskirche
ist so eine christliche Theographie in komplexerer Form in einem großen
Bild über dem Portal (schon von der Straße aus zu sehen) angebracht. Links ein
sitzender Mann mit einem Nimbus mit den drei Buchstaben, rechts ein sitzender
älterer Mann mit einem dreieckigen Nimbus mit den gleichen Buchstaben. In der
Mitte über ihnen ein Dreieck mit einer Taube drauf und ohne Inschrift. Also hat
der Heilige Geist – nicht ganz orthodox – kein theologisches Diagramm bekommen.
Walter Seitter
Nächste Seminarsitzung am 8. Mai 2019
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