τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Dienstag, 30. April 2019

Ontologie und Theogramm



Ontologie und Theogramm


Es gibt in Wien zwei griechische Kirchen, die eine, die Georgskirche, in der Griechengasse, die andere, die Dreifaltigkeitskirche, auf dem Fleischmarkt. Beide verfügen über Details, die in unserem Zusammenhang es verdienen, erwähnt zu werden und die ich als „Theographien“ oder „Theogramme“ bezeichne.

In der Vorhalle der Georgskirche: eine Christus-Abbildung im Stil der byzantinischen Ikonenkunst; um das Haupt des Jesus ein goldener Nimbus und darin drei griechische Buchstaben halbkreisförmig angeordnet.

Unten links ein Omikron, oben in der Mitte ein Omega, unten rechts der Buchstabe, der im Griechischen Ny heißt, geschrieben N.

Also in dieser Anordnung (den Nimbus möge man sich dazu vorstellen):


                      Ω

               Ο              Ν

Man liest „ho on“ und übersetzt: „der Seiende“.

Eine griechische Gottesbezeichnung, die auf zwei weit auseinander liegende Wurzeln zurückgeht. Erstens auf die Stelle im Alten Testaments (Exodus 3, 14), in der geschrieben steht, dass sich Gott selber dem Moses exklusiv offenbart. Und zwar sagt er: „Ich bin, der ich bin.“, und er nennt sich gleich noch einmal in der dritten Person: „Der da ist.“ (In vereinfachender Übersetzung, welche den Zukunftsbezug des hebräischen Wortes für „sein“ übergeht.)

Dieser redende Gott hat sich allerdings auch noch näher erklärt, indem er auf sein Zusammenwirken mit dem Volk Israel hinweist, und eben dieses bekräftigt er mit der zitierten Formel.

Die griechischen Ikonenmaler haben diese mosaische Selbstbenennung Gottes in einer griechischen Übersetzung angeschrieben, die den Stil der griechischen Ontologen übernimmt und sich an die Partizipialkonstruktion „to on“ („das Seiende“ ) anlehnt, die bei Parmenides und bei Aristoteles eine wichtige Formel bildet. Die griechische Philosophie war auch damit erfunden worden, dass man das dritte Geschlecht, das neutrale, vorgezogen hat und viele Substantivierungen mit „das“ gebildet hat. So auch „das Seiende“, das Grundwort der Ontologie, das öfter auch tautologisch verdoppelt worden ist. Eine solche Verdoppelung hat sich auch der alttestamentarische Gott erlaubt – aber eben im männlichen Geschlecht.

Die Formel „to on“ spielt vor allem bei zwei Philosophen eine wichtige Rolle: beim Vorsokratiker Parmenides, für den sie die Fülle der Wirklichkeit, die ewige, vollkommene und göttliche Realität bezeichnet – die allerdings nicht jedem Menschen eröffnet wird, begnügen sich doch die meisten Menschen mit Meinungen über angebliche Veränderungen. Ganz anders beim Nachsokratiker Aristoteles, für den das Seiende Gegenstand einer differenzierenden Betrachtung wird und sich in ganz unterschiedliche und eher formale Modalitäten abwandelt: Wesen und Eigenschaften und Relationen, Entstehen und Vergehen, Wirklichkeit und Möglichkeit und so weiter .... . Das ergibt einen sehr flexiblen und multiplen Begriff des Seienden.

Die christlichen Bildermacher (und die dazu gehörigen Bilderverehrer) stellen den Gott, der Mensch geworden ist, einigermaßen anthropomorph dar, schreiben ihm aber eine aus der Ontologie übernommene rein formale Kennzeichnung als Namen zu. 

An der orthodoxen Dreifaltigkeitskirche ist so eine christliche Theographie in komplexerer Form in einem großen Bild über dem Portal (schon von der Straße aus zu sehen) angebracht. Links ein sitzender Mann mit einem Nimbus mit den drei Buchstaben, rechts ein sitzender älterer Mann mit einem dreieckigen Nimbus mit den gleichen Buchstaben. In der Mitte über ihnen ein Dreieck mit einer Taube drauf und ohne Inschrift. Also hat der Heilige Geist – nicht ganz orthodox – kein theologisches Diagramm bekommen.


Walter Seitter

Nächste Seminarsitzung am 8. Mai 2019


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