τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 19. Dezember 2021

In der Metaphysik lesen (1076a 39 – 1076b 19)

 15. Dezember  2021

 

 

Die Frage, wie die mathematischen Gegenstände (z. B. Zahlen, Linien) zu bestimmen sind, möchte Aristoteles nicht mit solchen Begriffen wie Ideen, Wesen, Prinzipien beantworten. Damit würde man ihnen „eine andere Natur zuschreiben“ (1076a 23) – wie Aristoteles nun in Absetzung von einer vielleicht üblichen philosophischen Vorgehensweise schreibt. Vielmehr sollte man auf die mathematischen Dinge schauen und sehen, ob sie sind oder nicht sind, und wenn sie sind, in welcher Weise sie sind. 

Er empfiehlt ein Vorgehen, das Wahrnehmungsnähe mit einem elementaren und noch dazu banalen Begriff verbindet, dem Begriff „sein“, den ich hier bewußt klein schreibe, damit er nicht mit irgendeinem „Sein“ moderner Denker verwechselt wird. Er ist aber auch von dem Grundwort der aristotelischen Ontologie, dem „Seienden“ zu unterscheiden, das mehr nominal klingt und etwas dinghaft Fixiertes suggeriert. Hingegen tritt das „sein“ hier auch in flektierten Formen wie „sind“ auf, hat also verbalen Charakter im engeren Sinn. Er akzentuiert den Vollzug, das Dauern als Vorgang, als Ereignis, beinahe als Leistung.

 

Um so etwas feststellen zu können, muß man Wahrnehmungsaufmerksamkeit und Sprachgefühl mitbringen – zwei kognitive Tugenden, die mit der aristotelischen Auffassung von Denken zusammenhängen. An einer der wenigen Stellen, wo er sich einer Explikation von „denken“ nähert, sagt er, es sei dem Wahrnehmen und dem „bloßen Sagen“ ähnlich.

 

Die feine Nuancierung des ontologischen Grundwortes passiert „nur“ performativ anläßlich der Frage, ob und wie die mathematischen Gegenstände, die im Gegensatz zum Hauptthema des Buches XII von Aristoteles geringer eingeschätzt werden, existieren.

Man könnte sagen, damit wird die Ontologie an ihrer begrifflichen Wurzel revidiert wenn schon nicht reformuliert – was man allerdings nur sehen kann, wenn man bereit ist, elementare und vielleicht sogar banale Tatbestände ernstzunehmen. 

Auf einer anderen Ebene liegt die erwähnte Geringschätzung des Mathematischen, die wohl im jetzt gelesenen Buch noch weiter aufgeklärt werden wird. Aber in der heutigen Süddeutschen Zeitung spricht der Philosoph Peter Singer im Zusammenhang mit dilemmatischen Abwägungen zwischen einander ausschließenden Lebensrettungsversuchen davon, daß „die Idee des absoluten Wertes die Relevanz von Zahlen leugne“. Eine grundsätzliche Verwerfung von Quantitätsfragen findet sich heutzutage in unterschiedlichen Gesinnungsgruppen – und auf Aristoteles können sich die nicht berufen.

Es geht also jetzt darum zu sehen, ob und wie die mathematischen Dinge sind. Und wo sie sind – in den Sinnesdingen oder getrennt von den Sinnesdingen. 

 

Wenn beides nicht der Fall ist, sagt Aristoteles, so existieren sie entweder gar nicht oder sie existieren auf irgendeine andere Weise. Also ob oder ob nicht, wo und wie entscheiden und bezeichnen die verschiedenen Möglichkeiten des Existierens der mathematischen Dinge. Eine Herangehensweise die den Eindruck erweckt, vorurteilsfrei zu sein und sich mit karger Begrifflichkeit begnügt. Mit der zweimaligen Betonung der „Weise“ zu sein, akzentuiert Aristoteles anscheinend einen anderen Ausgangspunkt der Ontologie. Vielleicht ist es nur ein anders gefaßter, ein flexiblerer, ein weniger dinghaft fixierter. Das griechische Wort „tropos“, eingedeutscht auch „Tropus“ oder „Trope“, bedeutet eigentlich „Wendung“ – und diese kann auch das Sprechen und Schreiben, folglich auch das literarische und das philosophische betreffen, das heißt unterschiedlichde Stile und Richtungen annehmen lassen. Alles, was geschieht, geschiehbt „irgendwie“ (natürlich auch „irgendwo“ und „irgendwann“.)

Mit der „Weise“ zu sein, mit den verschiedenen möglichen Seinswendungen hat Aristoteles nur den gemeinsamen Nenner für das formuliert, was ich die „Seinsmodalitäten“ zu nennen pflege, die die Dimensionen der Ontologie aufspannen (welche irgendwann als Salzburger Schnürlregen verhöhnt worden sind – in Wahrheit eine Hommage an diesen). 

 

In unserem Text wird nun behauptet, daß die mathematischen Gegenstände nicht in den wahrnehmbaren Dingen existieren können - eine derartige Lehre wird als Erdichtung bezeichnet, das heißt als Falschmeldung, genauer gesagt als willkürliches Machwerk (abgeleitet von „Plastik“ als unguter Poietik).

Aristoteles sagt, daß diese irreführende Annahme darauf hinauslaufen würde, daß zwei Festkörper an einer Stelle auftreten, was unmöglich sei. Bemerkenswert, daß Aristoteles von arithmetischen und geometrischen Entitäten nicht bloß auf „Körper“ sondern sogar auf „Festkörper“ kommt, was zeigt, daß für ihn die Mathematik nicht sehr weit von der Physik entfernt liegt – ihr aber nachgeordnet ist (was an die Gründer der modernen Physik, etwa Galilei, anklingt)

Aristoteles scheint mit der als unmöglich hingestellten Auffassung vorauszusetzen, daß die wahrnehmbaren Dinge Festkörper seien und ebenso die Zahlen. 

 

Ich versuche trotzdem, diese Meinung zu vertreten, indem ich sage, an einem Würfel, etwa einem hölzernen, komme die Zahl 4 an jeder Seitenfläche mit den vier Ecken vor. Oder auf einer Tafel erscheine die angeschriebene Zahl 4. Im letzteren Fall ist es die Ziffer 4, die da als zweiter Festkörper, nämlich als Kreideabrieb, an der Tafel klebt. 

Die Zahl kann zwar irgendwie an wahrnehmbaren Dingen vorkommen, sie selber aber ist, wie Wolfgang Koch behauptet, etwas Gedachtes und Denkbares. 

 

Und was die Punkte und die Linien betrifft, so muß man zwischen ihnen als geometrischen Denkfiguren und ihren graphischen Bezeichnungen unterscheiden, die nie reine Punkte und Linien sind, sondern eher Flächen oder gar Körper. 

 

Was Aristoteles damit aufzeigen will: die mathematischen Elemente sind Denkgegenstände, die nicht abgetrennt existieren.

 

Was aber heißt „abgetrennt“? Wolfgang Koch: entfernt von der Vollendung, also unvollkommen. Mit dieser Deutung eines wichtigen aristotelischen Wortes liegt er philologisch vollkommen daneben.

 

Vielleicht weil er sich weigert, sich das Wort anzuschauen und sich ein möglichst „wörtliches“, ein vielleicht banal-physisches Verständnis zu überlegen. Ein solches findet man denn dann auch in den greifbaren Wörterbüchern.

 

Stattdessen versteigt er sich zu einer irgendwie höheren Deutung, welche die Qualität der Vollendung heranzieht und „Abgetrenntheit“ als Abstand oder Fehlen von Vollendung versteht. Ein akrobatischer Verstehensversuch oder vielmehr eine Verstiegenheit, die die aristotelische Neigung zum Schlichten, zum common sense ignoriert oder verachtet.

 

Tatsächlich aber bedeutet „abgetrennt“ bei Aristoteles schlicht und einfach: selbständig existierend. Und das wiederum impliziert einen gewissen Grad an Seinsmächtigkeit - nämlich diejenige, die den „Wesen“ zukommt (die meisten von denen sind wahrnehmbare Körper). Ganz vollkommen müssen sie nicht sein. Immerhin spricht Aristoteles dem vollkommensten Wesen, dem Unbewegten Bewegenden, ebenfalls die Abgetrenntheit zu (siehe 1064b 12).

 

Abgetrenntheit bedeutet also Selbständigkeit und das Verb „existieren“ geht ebenfalls in diese Richtung. Mit anderen Worten: die langweilige Ontologie ist zusätzlich zur Physik die bleibende      aber auch flexible Basis der aristotelischen Aussagebemühungen.

 

 

Etwas schwieriger scheint der folgende Gedankengang zu sein, der die Zerlegbarkeit zum Kriterium macht. Nach der zurückgewiesenen Ansicht könnte kein Körper zerlegt werden. Damit meint Aristoteles wohl nicht irgendein Zerteilen oder Auseinanderreißen, das jedem Körper gewaltsam angetan werden kann. Sondern ein theoretisches Analysieren, das auf die Flächen, dann Linien, dann Punkte zurückgeht. Die zurückgewiesene Ansicht scheint also den Aufbau der Körper aus strikt geometrischen Bestandteilen zu leugnen, welcher ihnen jedoch nur potenziell zukommt und erst durch die praktizierte Geometrie aktuell wird (wie im Abschnitt 3 ausgeführt werden wird). 

Die geometrischen Aufbauelemente existieren nicht selbständig, das tun vielmehr die wahrnehmbaren Körper, die wir in unserer Lebenswelt wahrnehmen: irgendwelche Steine, Gerätschaften, Nahrungsmittel, Menschenkörper, Himmelskörper. Klingt vielleicht banal – aber Aristoteles bemüht sich nicht, Banalitäten zu vermeiden und durch Sensationen zu ersetzen. Das haben zu seiner Zeit eher andere gemacht. Und heute machen es wiederum andere.

 

Daß Aristoteles im Unterschied zu manchen seiner Zeitgenossen die mikrophysikalischen Körperchen ignoriert hat, schließt wohl nicht aus, daß sie unter seinen Körperbegriff subsumiert werden könnten. Er würde wohl sagen, sie existieren potenziell in den meso- und makrophysikalischen Körpern, könnten aber durch praktizierte Mikrophysik aktualisiert werden. 

 

Im Abschnitt 2 sagt Aristoteles, daß nach der zurückgewiesenen Ansicht kein Körper zerlegt werden könnte. Er redet aber nicht von irgendeiner Zerlegung sondern von der geometrischen in Flächen, Linien, Punkte. Diese Zerlegung ist zwar möglich, aber nicht als physische Zertrennung, denn die genannten Elemente existieren nicht selbständig - sondern eben anderswie.

 

Dann lesen wir den Satz „Denn das Nicht-Zusammengesetzte ist früher als das Zusammengesetzte; ….“ (1076b 19)

 

Wolfgang Koch: eine äußerst banale Aussage, eigentlich eine tautologische (wie er in seinem schriftlichen Statement nachträgt). 

 

Daher hier seine seine mir zugeschickten Zeilen, für die ich ihm danke:

 

»Denn das Unverbundene ist früher als das Zusammengesetzte.« – Auf dieser apodiktischen Behauptung in Absatz 1 von Buch XIII fusst die gesamte Widerlegung der Annahme der platonisierenden Pythagoräer, die mathematischen Gegenstände seien in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen vorhanden. Es ist ein Schlüsselsatz, die Säule der Argumentation, und ein Paradebeispiel für den schlampigen Denkstil des Stagiriten. Ein wertvoller Text der altösterreichischen Philosophie, ein Text aus dem 19. Jahrhundert, von dem die Nationalbibliothek einen eleganten Erstdruck besitzt, listete drei Gestirne seines Denkens auf, auf deren stetem und wildem Durcheinander alle aristotelischen Abhandlungen beruhen: a. subjektive Beobachtungen, b. Angelesenes von fremden Autoren (Platon nannte seinen Schüler »den Leser«) und c. zitierte Gemeinplätze (»Man sagt...«). 

Dass das Unverbundene dem Zusammengesetzten logisch vorausgeht, gehört in die Kategorie der Gemeinplätze. Mit der Schlüssigkeit der Behauptung ist es nicht weit her. Die Kernfamilie zum Beispiel besteht nicht etwa in ihren Teilen, bevor sie Familie wird, nein, Vater, Mutter und Kind werden mit der Schwangerschaft oder der Geburt des Kindes zur Familie. Vor der Zeugung kein Kind und also auch keine Familie. Oder, anderes Beispiel: der Himmel. Er setzt sich aus der Bläue, den Wolken, der Sonne, den Sternen, den Vögeln und dem Horizont zusammen; keiner der Teile, nicht einmal die Vögel, existiert für das menschliche Auge in einem früheren Zustand getrennt von ihm. Natürlich gibt es auch Dinge, auf die die Holzhammer-Formel der ›Metaphysik‹ zutrifft. Als apodiktische Aussage aber ist der Satz genau das, was der Autor wenige Zeilen davor eine »erdichtete Behauptung« genannt und seinen Gegnern unterstellt hat.

Dass das Unverbundene zuerst existiert, ist grundsätzlich weder falsch noch richtig, und damit als Basisannahme in der Argumentationskette irritierend und untauglich. Der Gedanke entspringt einer dem Wort ›zusammengesetzt‹ immanenten Logik, er bildet einen Sprachinhalt oder eine Sprachkonvention, die der Stagirit bedenkenlos auf die Tatsachenwelt von mathematischen und sinnlichen Dingen überträgt. Man hat diese Denkfigur schon vor über hundert Jahren den »Wortaberglauben« dieses Klassikers genannt, und der Einfluss seines schlampigen Denkens scheint im Diskurs der Standard-Philosophie überhaupt kein Ende nehmen zu wollen.

 

 

Dazu bemerke ich jetzt nur, daß Wolfgang Koch damit, daß er den Namen des Aristoteles durch die Umschreibung „der Stagirit“ ersetzt, sich selber markiert. Und die Lektüre des ungenannten Autors, nämlich des Philosophen und Schriftstellers Fritz Mauthner (1849-1923), empfehle ich uns bis zum 12. Jänner 2022.

 

Walter Seitter

Montag, 13. Dezember 2021

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 4 (59vG -60rG)

8. Dezember 2021

 

In dem vorgenommenen Teil des Textes von Hermann ist besonders von der alleinigen Entscheidung des Urhebers (auctor) die Rede und von der Allmächtigkeit des Schöpfers (creator). So wird auch die Differenz von Gott und Welt stark betont, sodass jede Bewegung zwar von Gott ausgeht, aber seine Unversehrtheit oder Ganzheit nicht berührt.

Da interveniert Walter Seitter mit der Frage zu einem Vergleich dieses Gottes mit dem unbewegten Beweger von Aristoteles, der ihm doch ganz anders erscheint. Dieser unbewegte Beweger ist zwar auch Ursache aller anderen Bewegungen, dennoch ist hier keine so deutliche Allmacht zu spüren wie beim christlichen Gott. Ich bezeichne den unbewegten Beweger als Hintergrundursache, was den weit weniger planenden und eingreifenden Auftritt des aristotelischen Gottes einigermaßen treffend charakterisiert.

Der christliche Gott hat immerhin seinen Sohn in die Welt gesandt, um dort zu wirken durch das Wort. Der unbewegte Beweger wirkt durch Willen, Denken, Liebe und Schönheit, also psychische Strebungen, und kann so alle anderen Bewegungen verursachen, ohne sich selbst zu bewegen. Mit der Bewegungsursache der Schönheit kann sich der christliche Gott nicht zufrieden geben, denn er ist Schöpfer von Allem.

 

Diese Schöpfung ist bei Hermann die Bewegung des primordialen Grundes, die aber sofort in zwei Arten von Bewegung aufgespalten wird, in Schöpfung und Zeugung. Diese zweifache Ursachenlehre muss der grundlegenden Differenz von Gott und Welt Rechnung tragen, daher spricht Hermann von der doppelten Urheberschaft von Handwerker und Werkzeug. Die ersten Dinge sind von Gott aus dem Nichts gemacht, die zweiten Dinge werden durch seine zweite Ursache, die Zeugung, veranlasst und diese dauert weiter an an. Hier scheint am Anfang sowohl etwas Vollkommenes wie Gott, aber auch etwas Leeres wie das Nichts zu stehen.

 

Der folgende kurze Plan der Abhandlung verspricht uns eine wohlgeordnete Einteilung der Ursachen, wo eben die erste und bewirkende Ursache abgehandelt wird, worauf die Grundlagen für die zweiten Ursachen folgen sollen, die Form und die Materie. Die zweite Ursache wird nach ihrer Habitudo, nach dem Inhalt von Raum und Zeit, nach dem Gesetz des Machens und nach dem Grund des Instruments dieses Machens dargelegt.

Robert Ketton gibt einen motivierenden und ermahnenden Zwischenruf: „Gottes Schöpfung von Materie und Form.“

 

Hermann denkt über eine Teilhaberschaft Gottes kurz nach, denn die Schöpfung wird über Ursachen erklärt und Gott hat selbst Voraussetzungen für das Wirken der zweiten Ursachen geschaffen, Materie und Form. Sie haben nicht den Status von Teilhabern an der Unsterblichkeit selbst, doch sind sie der Beginn der Zeugungsfähigkeit. Doch damit greife ich schon vor, es wird nur gesagt, das ein Teilhaber Gottes aus den vollkommenen Ursprüngen stammen und mit den unauflöslichen Knoten zusammengefügt sein müsste.

 

Karl Bruckschwaiger

 

 

Nächster Termin: Aristoteles, Metaphysik, 13. Buch, ab 1076a, 38

 

Sonntag, 5. Dezember 2021

In der Metaphysik lesen (1076a 8 – 37)

1. Dezember 2021

 

 

Das Buch XII, das wir nun auch gelesen haben, ist das einzige Buch der Metaphysik, welches die von Aristoteles selber ins Spiel gebrachte Titulierung des Gesamtwerks als „Theologie“ rechtfertigt, und es erhebt sich die Frage, was eigentlich in den Büchern I bis XI abgehandelt worden ist und wieso die Textmasse bzw. der Textduktus so lange gebraucht hat, um dann endlich zum intendierten Thema vorzustoßen (im ersten Abschnitt von Buch I war es allerdings im Miniformat bereits durchgezogen worden).

 

Damit ist natürlich auch die Frage verbunden, wie die Textmasse, als deren Verfasser Aristoteles gilt, 300 Jahre nach seinem Tod geordnet und redigiert worden ist und wieso nach dem Buch XII dann noch zwei weitere Bücher platziert worden sind, die auf den ersten Blick „ontologische“ Themen behandeln, die in früheren Büchern des langen und breiten erörtert worden sind. 

In der auf Protokollen beruhenden Dokumentierung der hiesigen Lektüre, welche vom Buch I bis zum Buch VI reicht, habe ich die aristotelische Formulierung von der „gesuchten Wissenschaft“ in diejenige der „suchenden Wissenschaft“ übergeleitet und habe festgestellt, daß Aristoteles die anfängliche Leitfrage nach den allgemeinen Prinzipien und Ursachen der Dinge abgebrochen hat und durch eine andere ersetzt hat: nämlich durch die Frage, wie die Dinge selber, die griechisch eher als „Seiende“ gefaßt werden, aufzufassen sind, wenn das Seiende als solches in eine Vielzahl von Seinsmodalitäten auseinander gefaltet wird.

Diese Verschiebung der Fragestellung von den Ursachen zu den Sachen habe ich dahingehend kommentiert, daß zwischen den ontologischen Seinsmodalitäten und den Realitätsbereichen (etwa Natur und Kunst) zu unterscheiden ist. Im Buch V hat Aristoteles selber so eine Unterscheidung erkennen lassen, indem er wichtige Begriffe, die die Lebenswelt gliedern, etwa Körper, Lebewesen, Mensch, Tugend oder Staat (von Gott ganz zu schweigen) in seinem Begriffslexikon überhaupt nicht vorkommen läßt – wohl aber eher formalistische Begriffe wie seiend, eines, Wesen, Vermögen, Verwirklichung, vollkommen, Beraubung. Diese massive Tatsache hätte den Aristoteles-Lesern längst ein Licht aufsetzen müssen.

 

Landläufig gilt das Wesen als der Hauptbegriff der aristotelischen Ontologie. Tatsächlich ist er auch ein Hauptbegriff derselben – allerdings mitsamt dem Gegenpol der Akzidenzien. Und keineswegs ist er gleichzusetzen mit der Vereigentlichung, die ihm im 20. Jahrhundert nach Christus angetan worden ist, einer Verkitschung, die solche Hybridisierungen wie „Wesentlichkeit“ oder „Wesenhaftigkeit“ hervorgebracht hat (Rainer Marten hält es für angebracht, derlei zu empfehlen).

Immerhin gehört zu den Akzidenzien, die als Kategoriengruppe häufig unterschätzt werden, auch das Duo Bewirken – Bewirktwerden und damit klinkt sich auch die Ursächlichkeit ins ontologische Begriffsnetz ein.  

Es dürfte aber eher die Begriffsdimension Vermögen –Verwirklichung sein, welche den Gedankengang der Metaphysik von der Linie der Ontologie in diejenige der Theologie einlenken hat lassen. Das ganze Buch IX, das wir gelesen haben, aber wenn man es vergessen hat, dann ist es auch schon wieder weg - das ganze Buch IX hindurch versucht Aristoteles klarzumachen, daß die Verwirklichung in vielen konkreten Fällen ganz offensichtlich Vermögen voraussetzt und dann eben als sekundär erscheint, daß aber auch in diesen Fällen eine Verwirklichung – es kann auch eine anderweitige sein – als Bedingung gedacht werden und vorausgehen bzw. simultan mit einhergehen muß. 

 

Da sich unter den hier Anwesenden auch ein Vater, eine Mutter und eine Großmutter befinden, also Fachleute für das Entstehen neuer Menschen, nehmen wir als Beispielfall die Geburt eines Menschen. Dabei geht es um etwas, was viele Möglichkeiten in sich enthält. Es kann leben – aber besteht es nur aus Können, oder ist nicht auch schon ein Tun dabei? 

 

Ein wichtiges Tun des neuen Menschen besteht im ersten Schrei, der anzeigt, daß dieses Wesen nicht nur atmen kann, sondern wirklich atmet, daß es nicht nur Laute ausstoßen kann, sondern wirklich stimmlich verlautbart. Darin zeigt sich, daß es sprechen kann bzw. können wird. Aber es tut jetzt schon etwas und kann nicht bloß. Das Können ist nämlich der umgangssprachliche Begriff für die aktive Möglichkeit.

 

Das Sprechen-Können liegt jetzt schon vor, das zeigt der Schrei. Aber das Sprechen-Tun gar nicht? Das jetzt nur Sprechen-Könnende wird indessen nur dann später zum Sprechen-Tun übergehen, wenn es jetzt schon von anderen Sprech-Tätigkeiten umgeben ist, die präsent, aktiv, kopräsent sind.

 

Aristoteles hat sich auch für die Olympischen Spiele interessiert. Und als deren Beobachter hat er – in der ebenfalls hier gelesenen Poetik, welches Lesen ebenfalls dokumentiert worden ist, festgestellt, daß nicht automatisch der Stärkste oder der Schönste oder der Reichste (der am besten Gesponserte) – das sind lauter Potenzen, die man sich im Laufe der Zeit antrainiert oder aneignet, daß nicht der Potenteste gewinnt. Sondern der, der heute und jetzt und hier schneller ist als die anderen – und zwar aktuell, akut und gewissermaßen auch zufällig. 

 

Der nicht immer und überall offensichtliche und nicht nur zeitlich zu verstehende Vorrang der Wirklichkeit ist von den Modernen vielfach vergessen worden und man hat sich an den Gedanken gewöhnt, daß aus bloßen Möglichkeiten allerhand Wirklichkeiten und sogar großartige entstehen können, oder daß aus winzigen Wirklichkeiten wie etwa den kleinen unscheinbaren Samen großartige Lebewesen wie Pflanzen oder Tiere und Menschen werden können. Die modernen Biologen haben die vormodernen Naturgeschichtler paradigmatisch aus dem Feld geschlagen, indem sie mit dem Begriff der „Entwicklung“ das Werden von Lebewesen aus winzigsten Anfängen und nur aus solchen plausibel zu machen versucht haben.

 

Die zeitgenössische Biochemikerin Renée Schroeder (sie gehört nicht zu den Biologinnen, die behaupten, die genetische Information - ein not missing link zwischen dem Begriff des Wesens und der modernen Wissenschaft – abgeschafft zu haben) scheint diese Denkform derart zuzuspitzen, daß sie sagt, aus ein paar Atomen und Molekülen (allerdings nicht aus irgendwelchen) entstehen solche Lebewesen wie wir selber. Sie ergänzt immerhin diese Aussagen dahingehend, daß jene Teilchen von einer starken Energiequelle - sie meint damit die uns bekannte Sonne – gespeist würden. Damit korrigiert sie sehr drastisch die Grundannahme der Moderne, daß aus bloßen Möglichkeiten große Wirklichkeiten entstehen können.[1]

 

Eine Grundannahme, die wie öfter hier zitiert worden ist, auch von Martin Heidegger, der gar kein Biologe war, ausgesprochen worden ist. Meine Vermutung ist, daß die damit gemeinte Moderne, diejenige ist, die von Bruno Latour als das große Selbstmißverständnis der „westlichen“ Wissenschaftskultur seit dem 19. Jahrhundert nach Christus bezeichnet worden ist.[2]

 

Und es schließt sich ein Kreis zu der hiesigen spätsommerlichen Lektüre des Sonnen-Buches von Francis Ponge, in dem der angeblich begrifflose Dichter geradezu begriffswütig die Sonne als Ursache anruft, anspricht, tituliert und titriert. 

Ich sage nicht, daß mich die aristotelische Theologie der Metaphysik vollkommen überzeugt. Meine aber, daß man sich auch in unserer Zeit um ihr Verständnis erfolgreich bemühen kann und daß man dieses Bemühen fortsetzen sollte. 

 

Vielleicht tut man das damit, daß man nach dem Buch XII weiterliest. Im Buch XIII geht es schlicht und einfach um die Mathematik, die in der aristotelischen Wissenschaftsordnung keinen privilegierten Ort einnimmt: sie ist bloß die zweite der theoretischen Wissenschaften, bekommt aber nicht den Ehrentitel der Philosophie. Während die erste theoretische Wissenschaft, die Physik als Zweite Philosophie geführt wird und die dritte als Erste Philosophie oder eben Theologie. Ein Nummerierungssystem, zu dem Friedrich Kittler sagen würde, da hat sich Aristoteles aufs Stilniveau der Römer herabgelassen. 

 

Aristoteles stellt die Frage, ob die mathematischen Entitäten, er meint die arithmetischen und die geometrischen, unter die platonischen bzw. aristotelischen Begriffe der Ideen, der Wesen oder der Prinzipien zu subsumieren seien. 

 

Um in dieser Frage weiterzukommen, zieht er eine andere vor, die sich von solchen etwas hochtrabend klingenden Begriffen frei macht und uns vielleicht plausibler erscheint. Die andere Fragestellung zieht sich auf das Kriterium „sein“ im Sinn von „existieren“ zurück. Verwirft sie damit die eingeführten Theoriebegriffe und geht sie auf einen umgangssprachlichen um nicht zu sagen banalen Ausdruck zurück? Oder tastet sich Aristoteles mit den flektierten Formen des Verbs zu dem von ihm sonst privilegierten Partizip Präsens, also zum „on“ zurück? Doch das „on“ bleibt aus. Aristoteles kommt wieder auf den Infinitiv „einai“, den er sogar mit dem feinen Modalisierungsterminus „tropos“ – also „Weise“ – in Richtung auf „wie?“ differenzierbar macht. 

 

Den Infinitiv „einai“ setzt Aristoteles relativ selten ein – nämlich nur dann, wenn ihm gerade diese Verbalform geeignet erscheint, sein jeweiliges Objekt, Formalobjekt, genau zu bezeichnen. Die Verbalform des Infinitivs klingt „verbaler“, „zeitwörtlicher“ als das noch substantivischere „on“. Das mir wie schon öfter bemerkt ziemlich spröde, geradezu steif und hölzern vorkommt. Aber bei den Griechen war es schon vor Parmenides und auch bei den Dichtern gang und gäbe. Da ich aber kein Grieche und schon gar nicht der Aristoteles bin und da ich nicht einen Griechen und schon gar nicht den Aristoteles per Identifizierung spielen will, bleibt mir dieser Ausdruck fremd und dafür bin ich ihm dankbar, denn der Abstand zu mir ist nun einmal groß und er ist notwendig, damit mein Verhalten zu ihm nicht in irgendeine Identitätsfalle fällt. 

 

Hier jedoch, jedenfalls im Moment, in den Zeilen 32 bis 37 des ersten Abschnitts von Buch XIII, scheint Aristoteles die flüssigeren Formen von „Sein“ zu bevorzugen – wohl gemerkt Sein der mathematischen Dinge, nicht etwa Sein überhaupt. 

 

Walter Seitter


[1] Siehe Renée Schroeder: Was ist Leben? (Wien 2021)

[2] Siehe Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. (Berlin 1995)

Montag, 29. November 2021

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 3 (50vA -59vF)

24. November 2021

 

 

Unsere Lesung von Hermann begann mit der Darstellung der Trinität im Christentum, so wie sie nicht von den Moslems verstanden oder angenommen wird. Dabei kam es es zu einer Ausführung von Walter Seitter zur griechischen Formel von den Hypostasen Gottes zur Bestimmung der Dreieinigkeit Gottes und der Übersetzung des griechischen Wesens ousia ins Lateinische mit den zwei Möglichkeiten Essenz und Substanz. 

 

Während sich Hypostasis mit „Unter-Stand“ sehr wörtlich übersetzen lässt und damit recht genau ins Lateinische als Substantia übertragen worden ist, denn auch das lateinische „substo“ wird mit standhalten, feststehend im Wörterbuch geführt. Dabei hat sich aus der ursprünglichen Bedeutung für „stasis“ als Ruhe/Stehen in der politischen Bedeutung das Gegenteil entwickelt, nämlich die „Unruhe“ oder der „Aufruhr“. Ähnlich hat sich wahrscheinlich das lateinische Wort für Aufruhr „seditio“ aus dem ruhigen Sitzen wie sedens zu seinem Gegenteil entwickelt. Meine adhoc Erklärung dazu war, das das Wort „aufsässig“ den Anspruch auf den Sitz oder Thron durch die Untertanen, zumindest bei den Germanen, bedeutet haben mag. Das Wort Essenz hat dagegen das Wort Esse als seinen Hauptteil, und ist damit dem Wesen als Sein viel näher.

 

Walter wollte noch darauf hinweisen, das der englische Übersetzer in seiner Einleitung noch ausgiebig die Begriffe substantia, essentia, causa, usw. bespricht und seine Verwendung bei Hermann erläutert.

In dem Text von Hermann wird die Frage aufgegriffen, wieso nicht das Eine für sich besteht, sondern die Dinge aus Gegensätzen aufgebaut sind. Warum wurden die Dinge vom Schöpfer aus Gegensätzen zusammengesetzt. Weil nur das Zusammengesetzte von den Subjekten wahrgenommen werden kann, um eine kurze Fassung zu geben. Die Dinge sind durch Bewegung entstanden und davon postuliert Hermann drei verschiedene Arten.

 

Die Ortsbewegung, die er vorerst nicht weiter ausführt.

 

Die Bewegung als Veränderung, das ist Vermehrung oder Verringerung oder Vertauschung, bringt schon eine Differenz mit sich, nämlich ein Verhältnis von größer und kleiner und jede Veränderung dieses Unterschiedes bringt auch Aufruhr mit sich.

 

Die Bewegung der Verschiebung ist anders gedacht als man sich eine Bewegung vorstellt, nämlich wieder mehr von der Differenz zwischen dem Schöpfer und dem Geschaffenen selbst, die zwar an seinen Eigenschaften Anteil haben wie Weisheit, Güte und Glückseligkeit, aber es selbst nicht sind. 

 

Die Welt hat nicht nur die Differenz zu Gott, sondern ist selbst aus Verschiedenartigem zusammengesetzt und enthält die göttlichen Eigenschaften nur akzidentiell.

 

 

Karl Bruckschwaiger

 

 

Nächster Termin:

 

1. Dezember 2021: Aristoteles – Beginn 13. Buch

Sonntag, 21. November 2021

In der Metaphysik lesen (1075b 24 – 1076a 7)

17. November 2021

 

Zum Vorschlag von Rainer Marten, die Philosophie als Tätigkeit von der Wissenschaft auf die Kunst umzupolen, das heißt sie eher als eine Kunst - zusätzlich zu den anderen Künsten – denn als eine Wissenschaft (und sei es als die höchste der Wissenschaften) aufzufassen und zu praktizieren, ist Wolfgang Koch zufolge im wesentlichen von Heidegger, der Denken und Dichten zusammenrückt, inspiriert und sie bedeute kaum einen umwälzenden Bruch für die Philosophie. Denn es könne ohnehin jeder Philosophierende seinen Stil suchen und finden. In Martens Buch über den Tod sei keine signifikante Wendung zu einem eher der Kunst nahestehenden Modus des Philosophierens wahrzunehmen. Wolfgang Koch meint, Martens Vorschlag würde paradoxerweise letztlich darauf hinauslaufen, die Kunst der Philosophie unterzuordnen. 

 

Natürlich kann man in dieser Problematik auch an Nietzsche denken, der allerdings mit den Artisten eher niedrige und spielerische Könnerschaften auf den Schild gehoben hat. Marten bezieht aber auch „praktische“ (im Sinne von Aristoteles und Kant) Bedingungen und Elemente der Philosophie in seine Betrachtung ein: so den „Anti-Nihilismus“, der wie jeder Ismus eine Option bezeichnet, eine fundamental-ethische und -politische Option für das Erkennen von etwas, also eine „erkenntnispolitische“ Option. Man muß sie aber nicht mit dem Vokabular der Nietzsche-Aufgeregtheit benennen. Aristoteles-Leser sprechen seit Jahrtausenden mit neo-aristotelischen Begriffen, wie „Metaphysik“, „Ontologie“ – und hier könnte man das Wort „Ontophilie“ einsetzen und damit der zentralen Tugend der Freundschaft einen weiteren Horizont zuweisen: den Horizont der „onta“, die in der heute zu lesenden Passage gleich auftreten werden. 

 

Mir ist das Wort „Ontophilie“ zugefallen, aber ob ich als allererster oder gar einziger es hingeschrieben habe, dem mögen Historiker nachforschen (denn dazu sind sie da). Die Sache selbst ist natürlich auch von anderen längst gesehen und gesagt worden, etwa mit dem Ausdruck „Wissenschaftler-Ethos“ oder von Michel Foucault mit dem feststellenden Bekenntnis zu einem „glücklichen Positivismus“.  

 

Ganz anders und viel weitläufiger ist die Sache von Aristoteles thematisiert worden – und zwar in der Nikomachischen Ethik unter dem Stichwort „Dianoetische Tugenden“. Diese ergänzen die besser bekannten „Ethischen Tugenden“, indem sie die kognitiven Kräfte aktivieren helfen und darüber hinaus den Weg zur höchsten Lebensform, zur vita contemplativa, bereiten. Sie gehen also über die hier gemeinte ethische Bedingung des Wissens weit hinaus. 

 

Um das Wort „Ontophilie“ zu einem Begriff zu machen, könnte man es in unterschiedlichen Dimensionen differenzieren – etwa Auto- und Hetero- und Allophilie . . .

 

Tatsache ist, daß Aristoteles im letzten Abschnitt von Buch XII (1075b 8 – 19) die Aussagen bzw. das Aussagen anderer Philosophen innerhalb weniger Zeilen fünfmal als „poiein“ also „machen“ bezeichnet, womit er selber mit größter Deutlichkeit die Korrektur vollzieht, die ich seit längerem für angemessen halte, nämlich das Theoretische dem Poietischen anzunähern.

Sodann formuliert Aristoteles in dichter Reihenfolge mindestens sieben nach seiner Ansicht in die Irre gehende kosmologische, mathematische, ontologische Ansichten, die von „allen Theologen und Physikern“ vertreten werden und die sich daraus ergeben, daß jene die richtige Lehre, die von dem einen und einzigen Prinzip, das oben als  „Gott“ bezeichnet worden ist, wohlgemerkt einem einzigen Prinzip auf der Ebene der Erstheit (welche einer Vielzahl von Ebenen mit vielen Prinzipien und Ursachen zugrundeliegt). So eine pauschale Kritik, beinahe Feinderklärung vonseiten Aristoteles‘ darf uns natürlich wundern und ich vermute, sie hat mit der erwähnten „praktischen“ Dimension der Philosophie zu tun. 

Wir berühren diese Dimension, indem wir anscheinend bloß eine Übersetzungsfrage erörtern, ob nämlich, wie Wolfgang Koch meint, das Erste Prinzip, das Aristoteles nach langem Ontologisieren im Buch XII endlich zu finden behauptet und begrifflich ziemlich reichlich charakterisiert, im Deutschen am besten mit dem Wort „das Absolute“ wiederzugeben ist - wie das Adolf Lasson (1832- 1917) in seiner Übersetzung der Metaphysik getan hat. Ich halte dieses Wort für eine schlechte Lösung der Übersetzungsfrage, weil es die etwas chaotische Vielbegrifflichkeit, mit der Aristoteles jenes Prinzip, obwohl es strikt nur eines sein soll, umkleidet und verunklärt, mit einem Schlag aufzuheben beansprucht. Das Wort mag die Sache „auf den Punkt“ bringen – und genau damit deckt es sie - jetzt sage auch ich - mit „absoluter“ Leere zu. Wolfgang Koch hat das schwache semantische Profil dieses Wortes erfaßt, wenn er sagt, es suggeriere eine Koinzidenz von Seiendem und Nichts und erfülle damit das aristotelische Postulat eines „Letzten“, dem kein Gegenteil gegenübersteht. Tatsächlich steht dem Ersten Prinzip, Unbewegten Bewegenden, Höchsten Gut usw. kein gleichrangiges Gegenteil gegenüber, auf seiner Ebene steht ihm nichts gegenüber, aber nicht das sogenannte Nichts, und noch dazu so ein raffiniertes, daß es mit dem Seienden irgendwie - man weiß nicht wie – eins ist, sondern nur nichts. Ob die sogenannte Unentscheidbarkeit zwischen Seiendem und Nichts mit Berufung auf Hegel oder auf Asien begründet werden kann, das ist egal (es würde nur zeigen, daß bestimmte Behauptungen überall auftreten können, und sie treten nur auf, wenn sie gemacht werden). 

 

Der Schlußsatz ist ein Doppelsatz:

 

Die Dinge aber wollen nicht schlecht beherrscht werden. 

„Vielherrschaft ist nicht gut; einer sei Herrscher.“

Schon die erste Hälfte des ersten Satzes läßt das Herz eines Aristoteles-Lesenden höher schlagen, aber nur wenn es das Herz (nach Aristoteles der somatische Grund hinter den Wahrnehmungsorganen) eines Sehend-Lesenden ist (was wohl voraussetzt, daß es das Sehen hier und jetzt gibt und nicht bloß in einem „Paradies“, das weit zurückliegt oder vielleicht bevorsteht). 

 

„Die Dinge aber wollen nicht ..“

Mein Grazer Übersetzer macht nicht den Fehler der vorliegenden deutschen Übersetzungen, daß er den Plural „die Dinge“ durch irgendeinen Singular ersetzt. Meine langjährige Übersetzer-Tätigkeit hat mich gelehrt, daß ein Erbfehler der deutschen Sprache die Singularitis ist. Ein Singular, der nicht schlecht beherrscht werden will? So etwas kann es nur in Berlin geben. Auch das Absolute, das deutsche Absolute, ist eine Berliner Erfindung. Es sind Dinge, alle möglichen Dinge, in diesem Fall wohl die Leute, die wollen das nicht. Beinahe ein Anflug von Animismus steckt in diesem Satz. Eine Vielheit von Wollenden bzw. von Nicht-Wollenden. Was wollen sie nicht? Schlecht regiert werden? Da hat auch mein Übersetzer die aristotelische Wortwahl, die aristotelische Begriffspolitik (eine Unterabteilung der Erkenntnispolitik) zu wenig beachtet. Denn Aristoteles wählt den Begriff der postaristokratischen Politik, nämlich der staatsbürgerlichen. Staatsbürgerliche Vereinbarung, Regelung, Ordnung. Die kann bekanntlich auch oder zumeist einen verantwortlichen Entscheidungsträger brauchen und herbeirufen.

 

Und dann das Homer-Zitat, das hier als erste, nämlich früheste Autorität angeführt wird. Früheste Autorisisierung aus aristokratischen Zeiten, die eine vorpolitische Bezeichnung für Herrscher einsetzt, die Franz F. Schwarz ebenfalls nicht genau getroffen hat. Denn sie leitet sich von „kyr(i)os“ ab – also von Kraft, Macht, Ansehen. [1]

 

Ich entnehme mein Übersetzungswissen dem aus dem Jahr 1855 und aus Innsbruck stammenden Schulwörterbuch, mit dem auch Peter Handke arbeitet. Der ist zwar Dichter, aber wenn er übersetzt und nicht nur dann, ist er auf Wissenschaft angewiesen. Und Wissenschaft  gibt es nur, wenn sie nicht von einem sogenannten Absoluten überherrscht, überblendet, geblendet wird.

Wolfgang Koch versucht, nachzuweisen, daß „das Absolute“ nicht erst im frühen 19. Jahrhundert von einigen Absolventen des Tübinger Stifts als philosophischer Terminus für ein Erstes Prinzip kreiert worden ist, sondern daß es auf eine lange und ehrwürdige Tradition zurückgehe. Etwa bei Spinoza. Bei Spinoza, der übrigebns für das, was ich „Ontophilie“ nenne, den „amor fati“ empfohlen hat, ist das erste Prinzip gerade nichts Abgetrenntes, sondern ganz im Gegenteil nennt er es „Deus sive natura“. Doch die christliche Theologie, die Rolle des Papstes und das Regierungsverständnis des Absolutismus waren starke Schubkräfte, die dann sogar in der Philosophie, die von Haus aus eher nicht auf einer absolutistischen Linie liegt, „dem Absoluten“ zu einigen Durchbrüchen verholfen haben – aber nur bei einigen „größten“ Philosophen und keineswegs bei vielen gewöhnlichen Philosophen wie Bernard Bolzano, John Stuart Mill, Robert Zimmermann, Franz Brentano, Edmund Husserl, Helmuth Plessner, Nicolai Hartmann.  

 

Und Aristoteles? Gewiß gibt es bei ihm den Begriff, der als direkter Vorläufer von „absolut“ gelten kann: „abgetrennt“. Auch das „unbewegte Bewegende“ ist ein abgetrenntes Wesen – so wie jedwedes Wesen, wie zum Beispiel ich und du und so weiter. 

 

Was es bei Aristoteles nicht gibt, ist „das Abgetrennte“. Und dies, obwohl auch Aristoteles dem Begriffstrick folgt, der die Philosophie mitkonstituiert hat: die Substantivierung des dritten Geschlechts. Da man auch in der Philosophie genießen darf und sogar soll, sollte man sich diese Sexualakrobatik auf der Zunge zergehen lassen (Gott sei Dank darf man das auch in Zeiten wie diesen): Substantivierung des dritten Geschlechts. Parmenides, Platon haben das vorgemacht, wie man statt „der Schönen“ und „dem Stärksten“ nun den Leuten „das Schöne“ und „das Gute“ vorredet und damit „Philosophie“ macht. Aber so eine vielleicht notwendige formalistische Distinktionsbezeichnung wie „abgetrennt“ zu etwas philosophisch Grandiosem aufblasen – das hat man erst im 19. Jahrhundert mit dem lateinischen Wort gemacht.

Wobei ich nicht verschweigen will, daß Aristoteles, indem er „das Seiend(e)“ zum Grundwort der Ontologie gemacht hat, auch der genannten Sexualakrobatik ziemlich freien Lauf gelassen hat. Aber das Seiende als solches ist bei ihm nichts Überragendes, kein Prinzip, keine Ursache oder so. Da ich kein Aristoteliker bin sondern nur ein Aristoteles-Leser (und auch das erst seit dem Jahr 2007), muß ich dieses „Seiende“ überhaupt nicht großartig oder dergleichen finden, ich nehme es zur Kenntnis und versuche zu verstehen, wieso Aristoteles so ein Wort (das allerdings im Griechischen stärker beheimatet ist als im Deutschen) dermaßen – auswalzt ist nicht das richtige Wort, aber als unverzichtbare Münze immer wieder neu prägt und in Umlauf hält.

Immerhin: „das Abgetrennte“ gibt es bei Aristoteles nicht. Davor bewahrt ihn – wie Spinoza vor „dem Absoluten“ – sein Geschmack in Sachen Begriffsästhetik. 

 

 

Walter Seitter




[1] Der amerikanische Übersetzer Joe Sachs macht zu dem Homer-Zitat die Anmerkung: „Odysseus macht aus dem Haufen der achäischen Krieger ein geordnetes Heer. Ähnlich der göttliche Intellekt, der nicht der Schöpfer der Dinge oder der Welt ist, sondern sie in ihre Dinglichkeit oder Welthaftigkeit bringt.“ (252)

Dienstag, 16. November 2021

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 2

 10. November 2021

 

 

In dieser Sitzung habe ich den Beginn meiner Übersetzung von Hermann de Carinthias Werk „De Essentia“ vorgelesen. Ich verwende dafür den lateinischen Text, der in der kritischen Edition von Charles Burnett 1982 bei E.J.Brill veröffentlicht wurde, mit manchen Blick auf seine englische Übersetzung.

 

Das Vorwort ist ein mit nahezu humanistischem Bildungsgut und mit Anspielungen auf antike Göttinnen angefüllter Briefwechsel zwischen Hermann und seinem engen Vertrauten und Übersetzerfreund Robert Ketton. Darin wird ein Traum erzählt wobei die Göttin Minerva Hermann am Kopf berührt und ihn auffordert die vier symbolischen Gegenstände des Quadriviums zu ergreifen, das Rechenbrett für die Mathematik, den Stab für die Geometrie, die Waage für die Musik und die Lampe für die Astronomie. Hermann folgt einer Aufforderung aus einem Traum.

 

Das erste Buch beginnt mit dem Wort „Esse“ - Sein, dieses Sein ist nach Hermann zuerst den einfachen Wesen und der unbewegten Natur vorbehalten. Diese Wesen werden daraufhin in fünf Gattungen erfasst, die da sind Ursache, Bewegung, Ort, Zeit und Habitudo, was ich vorläufig mit Verhaltensweise oder Gestalt/Erscheinungsform übersetzt habe. Außer der Ursache haben die Wesen nichts mit dem Wesen ousia bei Aristoteles zu tun. Sie entsprechen nur zum Teil den Kategorien (Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Ort, Zeit, Zustand, Haben, Tun Erleiden). Walter Seitter schlägt als Übersetzung und Entsprechung von Habitudo die Kategorie der Qualität vor, was auch mir nicht abwegig erscheint. Die meisten der Wesen wären bei Aristoteles Akzidentien, wie Bewegung, Ort, Zeit und wenn die Zuordnung stimmt, die Qualität als Habitudo.

Gleich darauf nimmt Hermann drei Prinzipien des Gezeugten an, die Wirkursache, die Formursache und die Materialursache. Die aristotelische Zweckursache fehlt hier.

Damit kommt Hermann auf die Annahme einer ersten Ursache zu sprechen, die unbewegt, selbst die Ursache aller Bewegung sein soll, die keine zwei Prinzipien annehmen kann, da der vorrangige Platz besetzt sein muss. So kommt es zu einer weiteren Aufteilung der Ursachen in eine wirkende und eine erzeugende Ursache, die selbst wiederum in eine erste und zweite Ursache aufgespalten sind.

Diese erste Ursache gilt es zu finden und festzuhalten, durch den intellektuellen Trick der Reduktion von allem Wahrnehmbaren und Vorstellbaren. Mit der Einführung der Offenbarung sind wir in der Theologie gelandet, und es kommt zu einem kurzen Ausritt gegen den Koran, den Hermann gemeinsam mit Robert Ketton für den Abt von Cluny übersetzt hat. Es geht um die von den Moslems nicht verstandene Dreieinigkeit des christlichen Bekenntnisses, und Hermann zitiert sogar aus dem Koran, aus der vierten Sure.

Es folgt eine Darstellung der Voraussagekraft der Astrologie, die Hermann aus dem Werk von Abu Ma´shar entnimmt, dessen Introductiorum ad astronomiam Hermann mit Johannis Hispalensis übersetzt hatte. Hieraus zitiert Hermann eine Stelle wo von einem im ersten Dekan der Jungfrau erscheinenden Mädchen die Rede ist, wodurch die Magi die Geburt Christi voraussehen konnten. Aus der vorausgesagten Jungfrauengeburt leitet Hermann die Voraussicht der Astrologen ab, die weit vor der Zeit Christi in der Zeit von Alexander dem Großen diese Zeilen niederschrieben.

Abu Ma´shars Werk erschien aber in Bagdad im Jahre 848 nach Chr.

 

Karl Bruckschwaiger

 

 

Nächste Sitzung 17. November 2021 – Aristoteles lesen

übernächste Sitzung 24. November 2021 – wieder Hermann lesen

Samstag, 30. Oktober 2021

In der Metaphysik lesen (1075b 1 – 24)

27. Oktober 2021

 

Manfred Hulverscheidt (Berlin) hat mich auf den Philosophen Rainer Marten aufmerksam gemacht, von dem ein Buch den Titel Denkkunst. Kritik der Ontologie trägt.

 

Dieser Titel hat mich neugierig gemacht und Neugierde ist ja eine bessere philosophische Tugend als „eh schon alles wissen“. Ich habe schon öfter die Frage aufgeworfen, ob die Wissenschaft, die in der sog. Metaphysik ausgebreitet wird, tatsächlich so eine rein „theoretische“ sein kann, wie behauptet wird. Die beiden anderen Wissenschaftsgattungen bei Aristoteles sind ja die „poietische“ und die „praktische“. Die eine zielt auf poietische Leistungen, also wunschgeleitete Eingriffe in die Umwelt – etwa die Dichtkunst, die Heilkunst, die Kochkunst. Der anderen geht es um die Tugenden, um das Zurechtkommen miteinander. In dem Abschnitt, in dem „der Gott“ plötzlich gefunden wird und begrifflich bestimmt wird, nennt Aristoteles einige soziale Felder, in denen es gut oder vielleicht besser zugeht und zieht daraus Schlüsse für das „Gott“ Genannte. Das ist also ein praktischer Aspekt der sog. Metaphysik (der dann bei Kant viel bestimmender sein wird). Vor der thematischen Einbeziehung des Politischen in die Metaphysik ist für sie wie für alle Wissenschaften, auch die theoretischen, ihre Fundierung durch eine Entscheidung anzusetzen: Entscheidung zu Wissenschaft überhaupt und speziell zu so einer Wissenschaft mitsamt bestimmten Weichenstellungen auch für andere Bereiche.

 

Als den poietischen Aspekt der Metaphysik betrachte ich die Tatsache, daß sie von jemandem, in diesem Falle von Aristoteles, aber auch von einer nachfolgenden weit sich verzweigenden „Arbeiterschaft“ (Aristoteles hat sich selber als Arbeiter verstanden) gemacht worden ist. Jenes Machen impliziert handwerkliches Können auf verschiedenen Ebenen von Stoffsammeln und -organisieren, Lektüre wichtiger Vorläufer, Organisieren eines Schulbetriebes und einer Diskussionsgemeinschaft, Schreiben, später dann Abschreiben, Interpretieren, Übersetzen … eine Masse von Leistungen, die ich unter dem Titel des Schreibens oder der Schriftstellerei zusammenfasse – griechisch vielleicht als „Graphik“ oder als „Grammatik“ bezeichenbar. Wobei das Denken inkludiert sein soll, welches aristotelisch als Zusammenführung und Aufwölbung von Sehen und Sagen zu verstehen ist.

 

Ganz anders der Ansatz von Rainer Marten, der als direkter Heidegger-Schüler seinen Blick auf die Philosophiegeschichte mit Begriffen wie „Seinsfrage“ oder „Seinsdenken“ fokussiert, welche er dann auch noch mit dem Wort „Ontologie“ verquickt. Die drei Autoren, die er zusammenführt, um ihnen sein Thema zu entnehmen, sind Platon, Aristoteles, Heidegger. Er zieht sie sachlich auf einen gemeinsamen Nenner zusammen: Denken als elitäres Insistieren auf einer „Wesentlichkeit“ (etwas viel Erhabeneres als die aristotelische Kategorie des Wesens), von der aus die Niederungen des faktischen Lebens be- bzw. verurteilt werden. Er sieht in seinen drei Kronzeugen einerseits Protagonisten des philosophischen Denkens überhaupt, andererseits aber auch tendenzielle Verkenner und Verfälscher dieses Denkens, das sie entweder mit der Wissenschaft verwechseln oder in Mystizismus entgleisen lassen. 

Aus seiner Analyse, besser gesagt seiner einsichtsreichen Erzählung der europäischen Denkgeschichte kommt Marten zum Schluß, die Philosophie könne die ihr eigene Sendung, dem Denken in der Welt Raum und Zeit zu verschaffen, besser dann erfüllen, wenn sie es als eine mögliche Kunst erfindet und realisiert. Eine Kunst neben den anderen, die es schon gibt. Diese Kunst, er nennt sie „Noetik“, habe ihre eigenen Kriterien, Gebundenheiten und Entschiedenheiten. Zu ihren speziellen Aufgaben gehöre die Intelligibilisierung wie auch die Poetisierung des zu Denkenden. Sie habe wahrheitsliebend, ernst, bejahend zu sein. Sie habe nicht „a solo“ zu denken, sondern „in compagnia“. Im „Einander“.(Ich sage dazu: nicht in der Vergötzung irgendeines „Anderen“)

 

Martens Vorschlag, die Philosophie von Wissenschaft auf Kunst umzupolen, klingt tatsächlich  umstürzend. Die Frage ist, ob es sich um eine rein verbale Umdeutung handelt, ob er den Anspruch auf Erkenntnis und Wissen damit aufgibt oder wie dieser tatsächlich eingelöst werden kann und womöglich besser als bisher.

 

*

 

Wenn ich neulich auf die Brennesselsamen zu sprechen gekommen bin, dann nicht, weil ich hier meine „Innerlichkeit“ ausbreiten will (sowas Dekadentes kenne ich zwar auch, denn auch ich stamme aus dem 20. Jahrhundert nach Christus), sondern weil auch sie sich hervorragend dazu eignen, die beiden Dimensionen der Multikausalität zu veranschaulichen. Erstens sind die Brennesselsamen sozusagen hauptberuflich dazu da, im Sinne der genetischen Information (die von der Wissenschaft nicht abgeschafft worden ist!) als Ursachen für das Entstehen von Brennesseln zu wirken, sie können das aber nur, wenn, wie Bernd Schmeikal bemerkt, viele ganz andere Ursachen und Bedingungen, etwa Erde und Wasser, als Mitursachen dazukommen, die Stoffliches beitragen, und dazu noch das Sonnenlicht usw.. Zweitens können sie etwa in einem menschlichen Organismus zwar nicht Brennesseln hervorbringen, wohl aber andere Wirkungen zeitigen, die mit grünen Brennesselpflanzen anscheinend gar nichts zu tun haben, vielmehr in diesem Organismus akzidenzielle, möglicherweise erwünschte etwa heilsame Folgen haben. 

 

Im Sinne der erstgenannten Multikausalität hätte ich in bezug auf die Verursachung der Heiligen Schriften des Christentums die Aussage von Wolfgang Koch als Hinweis auf eine bestimmte Ursachensorte annehmen können. Denn die Erfahrung von Inspiration zeigt, daß einen ein interessanter Einfall, eine gedankliche Eingebung, erst zum Griff nach Papier und Bleistift, zum Hinschreiben von Wörtern, Sätzen, Absätzen und so weiter antreibt – eine noetische Bewegursachenkette, die materielle, technische (poietische) Ursachenketten in Gang setzt. 

 

Das Zusammenwirken verschiedener Ursachensorten ist der springende Punkt in dem Text, den wir jetzt lesen, auch wenn er ziemlich herrisch das „Gute“ und nicht das „Schlechte“ zum Prinzip erklärt. Diese Option ist es gerade, welche die aristotelischen Ausführungen über das „Theoretische“ im modernen Sinn hinaustreiben, das im Deskriptiven, Neutralen verbleibt, während das Optative und Normative als sogenannte „Werte“ etikettiert werden.

 

Seine Kritik an Empedokles formuliert Aristoteles wiederum als Kritik an einer „poiesis“, denn Empedokles „mache“ die Freundschaft zum Guten; sie ist aber Bewegprinzip und Stoffprinzip. Wenn ein und dasselbe Ding akzidenziellerweise Stoffprinzip und Bewegprinzip ist, ist dennoch das Sein (des Stoffes und des Bewegenden) nicht dasselbe. Wie also ist die Freundschaft Prinzip? Aristoteles insistiert auf einer Unterscheidung, scheint sich aber nicht sicher zu sein, ob sie hier auch in der Realität greift. Er wendet sich gegen die Ansicht, daß der Streit unvergänglich sein soll; da er mit der Natur des Schlechten eins sei, könne er nicht unvergänglich sein. Zwischen dem Guten und dem Schlechten bestehe auch keine theoretische Symmetrie, sie seien von Grund auf asymmetrisch. Andernfalls müßte wohl dem im Buch XII aufgefundenen und bestimmten Gott ein schlechter Gegen-Gott gegenüberstehen oder ein gleichrangiger Teufel. 

 

An die eigene Gotteslehre knüpft Aristoteles mit Anaxagoras an, der das Gute für ein Bewegprinzip hält: die Vernunft bewegt und sie bewegt um etwas willen, also um etwas Verschiedenen willen: also Differenz zwischen Vermögen bzw. Tätigkeit und Zweck oder Ziel, neudeutsch Objektorientierung. Diese Ansicht hält Aristoteles für die allgemein anerkannte. Eine andere Ansicht ist die von ihm selber entwickelte, die er mit dem Vorbehalt des „irgendwie“ formuliert: irgendwie ist die Heilkunst die Gesundheit. Das will nicht sagen, daß der Arzt selber gesund zu sein hat, sondern daß die Heilkunst, aber auch schon die Heilkunde irgendwie die Gesundheit, die Heilung, das Heil der Form nach enthält. Im Buch VII sagt er, die Form des Hauses sei in der Seele des Architekten. Die allgemeinste Formulierung dafür lautet: die Seele ist irgendwie alle die Dinge. 

Ferner hält Aristoteles dem Anaxagoras vor, zum Guten und zur Vernunft kein Gegenteil zu „machen“, d. h. anzunehmen. Diejenigen aber, die so etwas annehmen, kommen damit nicht zurecht. Es scheint also, daß die Annahme des Gegenteils notwendig ist, daß sie aber gleichzeitig ein Risiko darstellt, die Gefahr einer Entgleisung. Eine andere Fehlmeinung lasse die Dinge aus dem Nichtseienden entstehen; um nicht zu dieser Fehlaussage gezwungen zu sein, machen einige alle Dinge zu einem. 

 

Viele theoretische Aussagen, die Aristoteles für falsch hält, stellt er als „machen“ hin: ein A fälschlich zu einem B machen. Wenn Rainer Marten sagt, daß in der Noetik die Sujets denkerisch gestaltet werden – meint er damit nicht eine Verfälschung sondern, daß etwas so poetisiert und intelligibilisiert wird, daß es sozusagen zum ersten Mal in seine Fassung tritt. 

 

Der Aspekt, den Aristoteles hier in den Vordergrund rückt, ist der von Symmetrie oder Asymmetrie, also ein formaler Systemaspekt. 

 

Können zwei Prinzipien das Ganze beherrschen, regulieren, sich aufteilen? Oder bedarf es eines übergeordneten einen, dem kein anderes gegenübersteht?

Auf der Ebene der menschlichen Erkenntnismachenschaft: muß es zur Weisheit und zur würdigsten Wissenschaft ein Gegenteil geben? (1075b 21) 

 

Mit dem Begriff der Weisheit berührt Aristoteles einen Geistescharakter, der nicht an Wissenschaft gebunden ist und insofern der „Noetik“ entgegenkommt, jedoch nicht so strikt an ein Vermögen gebunden ist. Für Aristoteles schließen Weisheit und Wissenschaft einander ohnehin nicht aus; nur daß die Weisheit als höchstes Wissen auch den Göttern bzw. dem Göttlichen zukommt. Die „würdigste Wissenschaft“ kann nur Menschensache sein.

Für Aristoteles kann es für beide Superlative kein Gegenteil geben, weil ein Superlativ im Negativen nur als zufällige Feststellung auftreten könnte, es kommt ihm keine ebenbürtige Würde und folglich auch nicht eine ebenbürtige Wirklichkeit zu. Viele Möglichkeiten aber sehr wohl. 

 

Walter Seitter

 

 

Nächste Sitzung am 10. November 2021

Freitag, 22. Oktober 2021

In der Metaphysik lesen (1075a 25 – 38)

 20. Oktober 2021

 

Vor längerer Zeit wurde hier erwähnt, daß mir erst vor kurzem die Existenz des Hermann von Kärnten bekannt geworden ist - und zwar durch eine im Vorjahr in Klagenfurt erschienene Biographie (geschrieben als fiktionale Autobiographie): 

Mario Rausch: Hermann de Carinthia. Eine Biographie (Klagenfurt 2021)

 

Jener mittelalterliche Wander- und Übersetzergelehrte hat im 12. Jahrhundert nach Christus gelebt, seine ungefähr fünf erhaltenen Bücher sind bisher nur von nicht-deutschen Verlagen ediert worden und jetzt hat Karl Bruckschwaiger sich daran gemacht, dasjenige Werk, das am ehesten der Philosophie zugerechnet werden kann, aus dem Lateinischen/Englischen ins Deutsche zu übersetzen: De essentiis

Am Mittwoch hat er nun angefangen, uns aus dem ersten Abschnitt seiner Übersetzung vorzulesen: Definitionen. Es könnte die erste Hermann-Lektüre in Wien gewesen sein. Die Dinge finden ja nicht nur in der Historie sondern auch in der Geographie statt – wofür gerade dieser Autor exemplarisch ist.

Der Text erinnert irgendwie an den der aristotelischen Metaphysik und wenn man ihn mit Sekundärbegriffen, die in der Aristoteles-Lektüre üblich sind, zudeckt, kann man sich leicht den Eindruck verschaffen, alles zu verstehen. Doch der Sprachduktus ist ein ganz anderer, die Begriffe scheinen anders verwendet zu werden, es werden auch ganz andere, orientalische Autoritäten herangezogen. Daher versuche ich jetzt keine Zusammenfassung - das nächste Hermann-Lesen hier wird am 10. November stattfinden. 

 

*

 

Zuletzt wurde die Frage aufgeworfen, wie es möglich ist, daß die im Buch XII auf wenigen Seiten ausgeführte „Theologie“ ihren Platz innerhalb einer theoretischen Wissenschaft neben Physik und Mathematik hat. In den beiden genannten Wissenschaften werden neutrale Tatsachen festgestellt oder demonstriert. Die Behauptungen der Theologie operieren indessen von Anfang an mit der Steigerungsskala von irgendwie Gutem (ausgedrückt mit dem winzigen eu) zu allerhöchst Gutem. Daraus ergibt sich meines Erachtens, daß die aristotelische Theologie einen Begriff des Theoretischen voraussetzt, der „Betrachtung“ in einem empathischen und emphatischen Sinn impliziert.

 

Übrigens hat Francis Ponge in seinem Sonnen-Buch religiöse Anwandlungen zwar vermeiden wollen, aber der eher neuzeitliche als antike Begriff „Gegenstand“ scheint ihm dennoch unangemessen für den Gegenstand „Sonne“ – weshalb er ihn mit Zusatzbegriffen wie „Gegenspiel“, „Gegenfreude“ suppl(ement)iert. Begriffsschöpfungen eines angeblich begriffslosen Dichters.

 

 

Auf der anderen Seite werfe ich die Frage auf, ob die theoretische Theologie des Aristoteles mit den poietischen Leistungen, als welche in der Antike alle möglichen Künste von der Kochkunst bis zur Baukunst galten, vielleicht mehr zu tun hat, als ihrer hohen Würde zu entsprechen scheint. Diese poietischen Leistungen setzen nämlich bei ganz banalen und oftmals minimalen Eingriffen in die materielle Umwelt an – etwa mit schwarzen Buchstabenzusammenstellungen auf weißem Papier. Aber die müssen gekonnt sein. 

 

Zur Verdeutlichung stelle ich eine etwas hinterhältige Frage, die einen Nebenschauplatz betrifft - nämlich die Heiligen Schriften des Alten wie auch des Neuen Testaments. Wie sind diese Schriften zustandegekommen – und zwar in der maßgeblichen Auffassung der religiösen Tradition? Wolfgang Koch antwortet sofort: durch Offenbarung Gottes.

 

Tatsächlich sind diese Schriften sowohl nach jüdischer wie auch nach christlicher Auffassung von menschlichen Autoren geschrieben worden – aber (doch was heißt: aber ?) mit göttlicher Inspiration. Wer noch nie selber geschrieben hat – aber inspiriert, wird das nicht verstehen. Anders die islamische Auffassung von der Entstehung des Korans. Übrigens ist Hermann der Kärntner seinerzeit vielleicht mit seiner Koran-Übersetzung (ins Lateinische für Petrus Venerabilis) am bekanntesten geworden - denn das war eine religionspolitische Sensation.

 

Auf meinen Einwand antwortet Wolfgang Koch, er gebe eben eine fromme Antwort und es sei doch wohl erlaubt, fromm zu sein. Ja das ist erlaubt, aber auf eine wissenschaftliche Frage sollte man eine wissenschaftliche Antwort geben – und die verstößt in diesem Fall überhaupt nicht gegen die Frömmigkeit, sondern eher gegen ein Kokettieren mit menschlicher Ohnmacht. Eine wissenschaftliche Antwort ist eine, die nicht nur von Freunden oder Anhängern akzeptiert wird, sondern auch von Fremden.

 

Und so bzw. ein bißchen anders ist auch die aristotelische Theologie ein menschliches Machwerk, heideggerisch eine Machenschaft – vielleicht eine gekonnte, eine einigermaßen schlüssige Antwort auf die Frage des Buches I, die im Buch I schon beantwortet worden ist, aber wohl doch zu schnell. Dann hat Aristoteles von Buch II bis zum Buch XI den Aufschub, den Umweg zu einer sehr späten Antwort vorbereitet – Umwege erhöhen die Ortskenntnis! Sein Aufschub, sein Umweg, der nahm die Form der sehr langwierigen und viel später „Ontologie“ genannten Wissenschaft vom Seienden als seienden an. Mit dem Begriffspaar Vermögen-Verwirklichung – mit dem hat er es gemacht und nicht mit dem lateinischen Wort „Prozess“ – das war im 4. Jahrhundert (vor) noch nicht in die Philosophensprache eingedrungen. 

 

Jedenfalls hat Aristoteles seine Theologie so gemacht wie er sie gemacht hat. Es gibt nur menschengemachte Theologien – man kann auch weiterhin welche machen, aber bitte nur, wenn’s unbedingt sein muß, das heißt, wenn man etwas Besseres zu bieten hat. 

 

Aristoteles bleibt bei der allgemeinsten Ursachenfrage und nennt eine ihm bekannte Antwort – mit einer überraschenden Formulierung: „Alle machen aus Gegenteilen alles.“ (1075a 27). Eine extrem lakonische Aussage mit dem einzigen Verbalprädikat „machen“. Mein Übersetzer legt es so auseinander: „Alle nämlich lassen alle Dinge aus Gegenteilen hervorgehen.“ Noch deutlicher: „Alle sagen, daß alle Dinge aus Gegenteilen entstehen.“ Aristoteles „macht“ aus theoretischem Behaupten ein „Machen“. Man kann das als eine Vorwegnahme des modernen Konstruktivismus ansehen. Oder eben als ziemlich brutale Reduzierung theoretischer Wissenschaft aufs Poietische. Und im Fall der zitierten Aussage auf die hegelsche Dialektik, die ja Realitätsverhältnisse wie Sprechverhalten auffasst und all das mit „Dialektik“ identifiziert. 

Oder hält Aristoteles nur unzutreffendes theoretisches Aussagen für ein „Machen“? Eher nicht – er rückt das Poietische ins Innerste der theoretischen Wissenschaften und liefert sie damit der Gefahr aus, mit „Erdichtungen“ verwechselt zu werden. Oder der Chance, in die Höhe der Poesie gerückt zu werden.

 

Wen meint er mit „alle“? Es können nur nähere Kollegen von ihm sein – nämlich Universalursachenforscher. Meint er wirklich, daß die alle behaupten, alle Dinge entstünden aus Gegenteilen? Das wäre dann eine Universaltheorie in einem anderen Sinn, eine konsensuale Theorie, der man zur Not eine minimale Zutreffendheit zugestehen könnte, insofern ein Entstehen von etwas aus etwas impliziert, daß das zweite „etwas“ mit dem ersten nicht identisch ist.

Sachlich wendet Aristoteles gegen solche Theorien ein, daß sie das Gute und das Schlechte als gleichrangige Ursachen ansehen, während in Wahrheit allein das Gute als universales Prinzip in Frage komme. Doch müsse man dann noch klären, ob das Gute als Zweck oder als Bewegendes oder als Form Prinzip sei. Womit wohl auch angedeutet ist, daß es zwar Prinzip aller Dinge aber nicht allzuständiges und folglich auch nicht einziges Prinzip sein kann. Eine Einschränkung, die so etwas wie Allmacht strikt ausschließt – was von christlichen Aristoteles-Anhängern gern ignoriert wird. 

 

Da der schon erwähnte Francis Ponge französisch geschrieben hat, stand er dem Latein näher als unsereiner und da er die Dimension der Ursächlichkeit für entscheidend hielt, war der Begriff „Prinzip“ ein wichtiger Gegenstand für ihn und da er ein Sehender war, hat er gesehen, daß die ersten fünf Buchstaben des Wortes so etwas wie „Fürst“ bedeuten, womit er wie Aristoteles einen politischen Aspekt in die Ursachenforschung einfügte – die Nuancierungen zwischen Allmacht und Übermacht und Gewaltenteilung. 

 

*

 

Gleich nach der Hermann- und Aristoteles-Sitzung am Hohen Markt fand im benachbarten Café Korb die Präsentierung des Buches Was ist Leben? (Wien 2021) von Renée Schroeder statt. Franz Schubert las einige Passagen, sodann machte die Biochemikerin einige Ausführungen zu den stofflichen Voraussetzungen des „Lebens“ und zum dazugehörigen Informationsmechanismus. Diese Dinge klingen ganz anders als sie in Aristoteles Buch stehen – aber sie sind nicht etwas ganz Anderes (jedenfalls nicht mit großem A). 

Zur Freude des Publikums verteilte Renée Schroeder einige Produkte aus ihrem „zweiten“ Berufsleben. Sie hat nämlich jetzt ein Haus im Gebirge und dort pflückt und verarbeitet sie Pflanzen, die von selber wachsen (das tun die „von Natur aus“). Ich bekam ein Sackerl mit Brennesselsamen: das sind winzig kleine dunkelgrüne Punkterl, die nicht luxuriös schmecken, aber interessante aphrodisische Wirkungen haben sollen. Ich selber habe an mir vulkanische Wirkungen festgestellt.

 

 

Walter Seitter