τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 5. Dezember 2021

In der Metaphysik lesen (1076a 8 – 37)

1. Dezember 2021

 

 

Das Buch XII, das wir nun auch gelesen haben, ist das einzige Buch der Metaphysik, welches die von Aristoteles selber ins Spiel gebrachte Titulierung des Gesamtwerks als „Theologie“ rechtfertigt, und es erhebt sich die Frage, was eigentlich in den Büchern I bis XI abgehandelt worden ist und wieso die Textmasse bzw. der Textduktus so lange gebraucht hat, um dann endlich zum intendierten Thema vorzustoßen (im ersten Abschnitt von Buch I war es allerdings im Miniformat bereits durchgezogen worden).

 

Damit ist natürlich auch die Frage verbunden, wie die Textmasse, als deren Verfasser Aristoteles gilt, 300 Jahre nach seinem Tod geordnet und redigiert worden ist und wieso nach dem Buch XII dann noch zwei weitere Bücher platziert worden sind, die auf den ersten Blick „ontologische“ Themen behandeln, die in früheren Büchern des langen und breiten erörtert worden sind. 

In der auf Protokollen beruhenden Dokumentierung der hiesigen Lektüre, welche vom Buch I bis zum Buch VI reicht, habe ich die aristotelische Formulierung von der „gesuchten Wissenschaft“ in diejenige der „suchenden Wissenschaft“ übergeleitet und habe festgestellt, daß Aristoteles die anfängliche Leitfrage nach den allgemeinen Prinzipien und Ursachen der Dinge abgebrochen hat und durch eine andere ersetzt hat: nämlich durch die Frage, wie die Dinge selber, die griechisch eher als „Seiende“ gefaßt werden, aufzufassen sind, wenn das Seiende als solches in eine Vielzahl von Seinsmodalitäten auseinander gefaltet wird.

Diese Verschiebung der Fragestellung von den Ursachen zu den Sachen habe ich dahingehend kommentiert, daß zwischen den ontologischen Seinsmodalitäten und den Realitätsbereichen (etwa Natur und Kunst) zu unterscheiden ist. Im Buch V hat Aristoteles selber so eine Unterscheidung erkennen lassen, indem er wichtige Begriffe, die die Lebenswelt gliedern, etwa Körper, Lebewesen, Mensch, Tugend oder Staat (von Gott ganz zu schweigen) in seinem Begriffslexikon überhaupt nicht vorkommen läßt – wohl aber eher formalistische Begriffe wie seiend, eines, Wesen, Vermögen, Verwirklichung, vollkommen, Beraubung. Diese massive Tatsache hätte den Aristoteles-Lesern längst ein Licht aufsetzen müssen.

 

Landläufig gilt das Wesen als der Hauptbegriff der aristotelischen Ontologie. Tatsächlich ist er auch ein Hauptbegriff derselben – allerdings mitsamt dem Gegenpol der Akzidenzien. Und keineswegs ist er gleichzusetzen mit der Vereigentlichung, die ihm im 20. Jahrhundert nach Christus angetan worden ist, einer Verkitschung, die solche Hybridisierungen wie „Wesentlichkeit“ oder „Wesenhaftigkeit“ hervorgebracht hat (Rainer Marten hält es für angebracht, derlei zu empfehlen).

Immerhin gehört zu den Akzidenzien, die als Kategoriengruppe häufig unterschätzt werden, auch das Duo Bewirken – Bewirktwerden und damit klinkt sich auch die Ursächlichkeit ins ontologische Begriffsnetz ein.  

Es dürfte aber eher die Begriffsdimension Vermögen –Verwirklichung sein, welche den Gedankengang der Metaphysik von der Linie der Ontologie in diejenige der Theologie einlenken hat lassen. Das ganze Buch IX, das wir gelesen haben, aber wenn man es vergessen hat, dann ist es auch schon wieder weg - das ganze Buch IX hindurch versucht Aristoteles klarzumachen, daß die Verwirklichung in vielen konkreten Fällen ganz offensichtlich Vermögen voraussetzt und dann eben als sekundär erscheint, daß aber auch in diesen Fällen eine Verwirklichung – es kann auch eine anderweitige sein – als Bedingung gedacht werden und vorausgehen bzw. simultan mit einhergehen muß. 

 

Da sich unter den hier Anwesenden auch ein Vater, eine Mutter und eine Großmutter befinden, also Fachleute für das Entstehen neuer Menschen, nehmen wir als Beispielfall die Geburt eines Menschen. Dabei geht es um etwas, was viele Möglichkeiten in sich enthält. Es kann leben – aber besteht es nur aus Können, oder ist nicht auch schon ein Tun dabei? 

 

Ein wichtiges Tun des neuen Menschen besteht im ersten Schrei, der anzeigt, daß dieses Wesen nicht nur atmen kann, sondern wirklich atmet, daß es nicht nur Laute ausstoßen kann, sondern wirklich stimmlich verlautbart. Darin zeigt sich, daß es sprechen kann bzw. können wird. Aber es tut jetzt schon etwas und kann nicht bloß. Das Können ist nämlich der umgangssprachliche Begriff für die aktive Möglichkeit.

 

Das Sprechen-Können liegt jetzt schon vor, das zeigt der Schrei. Aber das Sprechen-Tun gar nicht? Das jetzt nur Sprechen-Könnende wird indessen nur dann später zum Sprechen-Tun übergehen, wenn es jetzt schon von anderen Sprech-Tätigkeiten umgeben ist, die präsent, aktiv, kopräsent sind.

 

Aristoteles hat sich auch für die Olympischen Spiele interessiert. Und als deren Beobachter hat er – in der ebenfalls hier gelesenen Poetik, welches Lesen ebenfalls dokumentiert worden ist, festgestellt, daß nicht automatisch der Stärkste oder der Schönste oder der Reichste (der am besten Gesponserte) – das sind lauter Potenzen, die man sich im Laufe der Zeit antrainiert oder aneignet, daß nicht der Potenteste gewinnt. Sondern der, der heute und jetzt und hier schneller ist als die anderen – und zwar aktuell, akut und gewissermaßen auch zufällig. 

 

Der nicht immer und überall offensichtliche und nicht nur zeitlich zu verstehende Vorrang der Wirklichkeit ist von den Modernen vielfach vergessen worden und man hat sich an den Gedanken gewöhnt, daß aus bloßen Möglichkeiten allerhand Wirklichkeiten und sogar großartige entstehen können, oder daß aus winzigen Wirklichkeiten wie etwa den kleinen unscheinbaren Samen großartige Lebewesen wie Pflanzen oder Tiere und Menschen werden können. Die modernen Biologen haben die vormodernen Naturgeschichtler paradigmatisch aus dem Feld geschlagen, indem sie mit dem Begriff der „Entwicklung“ das Werden von Lebewesen aus winzigsten Anfängen und nur aus solchen plausibel zu machen versucht haben.

 

Die zeitgenössische Biochemikerin Renée Schroeder (sie gehört nicht zu den Biologinnen, die behaupten, die genetische Information - ein not missing link zwischen dem Begriff des Wesens und der modernen Wissenschaft – abgeschafft zu haben) scheint diese Denkform derart zuzuspitzen, daß sie sagt, aus ein paar Atomen und Molekülen (allerdings nicht aus irgendwelchen) entstehen solche Lebewesen wie wir selber. Sie ergänzt immerhin diese Aussagen dahingehend, daß jene Teilchen von einer starken Energiequelle - sie meint damit die uns bekannte Sonne – gespeist würden. Damit korrigiert sie sehr drastisch die Grundannahme der Moderne, daß aus bloßen Möglichkeiten große Wirklichkeiten entstehen können.[1]

 

Eine Grundannahme, die wie öfter hier zitiert worden ist, auch von Martin Heidegger, der gar kein Biologe war, ausgesprochen worden ist. Meine Vermutung ist, daß die damit gemeinte Moderne, diejenige ist, die von Bruno Latour als das große Selbstmißverständnis der „westlichen“ Wissenschaftskultur seit dem 19. Jahrhundert nach Christus bezeichnet worden ist.[2]

 

Und es schließt sich ein Kreis zu der hiesigen spätsommerlichen Lektüre des Sonnen-Buches von Francis Ponge, in dem der angeblich begrifflose Dichter geradezu begriffswütig die Sonne als Ursache anruft, anspricht, tituliert und titriert. 

Ich sage nicht, daß mich die aristotelische Theologie der Metaphysik vollkommen überzeugt. Meine aber, daß man sich auch in unserer Zeit um ihr Verständnis erfolgreich bemühen kann und daß man dieses Bemühen fortsetzen sollte. 

 

Vielleicht tut man das damit, daß man nach dem Buch XII weiterliest. Im Buch XIII geht es schlicht und einfach um die Mathematik, die in der aristotelischen Wissenschaftsordnung keinen privilegierten Ort einnimmt: sie ist bloß die zweite der theoretischen Wissenschaften, bekommt aber nicht den Ehrentitel der Philosophie. Während die erste theoretische Wissenschaft, die Physik als Zweite Philosophie geführt wird und die dritte als Erste Philosophie oder eben Theologie. Ein Nummerierungssystem, zu dem Friedrich Kittler sagen würde, da hat sich Aristoteles aufs Stilniveau der Römer herabgelassen. 

 

Aristoteles stellt die Frage, ob die mathematischen Entitäten, er meint die arithmetischen und die geometrischen, unter die platonischen bzw. aristotelischen Begriffe der Ideen, der Wesen oder der Prinzipien zu subsumieren seien. 

 

Um in dieser Frage weiterzukommen, zieht er eine andere vor, die sich von solchen etwas hochtrabend klingenden Begriffen frei macht und uns vielleicht plausibler erscheint. Die andere Fragestellung zieht sich auf das Kriterium „sein“ im Sinn von „existieren“ zurück. Verwirft sie damit die eingeführten Theoriebegriffe und geht sie auf einen umgangssprachlichen um nicht zu sagen banalen Ausdruck zurück? Oder tastet sich Aristoteles mit den flektierten Formen des Verbs zu dem von ihm sonst privilegierten Partizip Präsens, also zum „on“ zurück? Doch das „on“ bleibt aus. Aristoteles kommt wieder auf den Infinitiv „einai“, den er sogar mit dem feinen Modalisierungsterminus „tropos“ – also „Weise“ – in Richtung auf „wie?“ differenzierbar macht. 

 

Den Infinitiv „einai“ setzt Aristoteles relativ selten ein – nämlich nur dann, wenn ihm gerade diese Verbalform geeignet erscheint, sein jeweiliges Objekt, Formalobjekt, genau zu bezeichnen. Die Verbalform des Infinitivs klingt „verbaler“, „zeitwörtlicher“ als das noch substantivischere „on“. Das mir wie schon öfter bemerkt ziemlich spröde, geradezu steif und hölzern vorkommt. Aber bei den Griechen war es schon vor Parmenides und auch bei den Dichtern gang und gäbe. Da ich aber kein Grieche und schon gar nicht der Aristoteles bin und da ich nicht einen Griechen und schon gar nicht den Aristoteles per Identifizierung spielen will, bleibt mir dieser Ausdruck fremd und dafür bin ich ihm dankbar, denn der Abstand zu mir ist nun einmal groß und er ist notwendig, damit mein Verhalten zu ihm nicht in irgendeine Identitätsfalle fällt. 

 

Hier jedoch, jedenfalls im Moment, in den Zeilen 32 bis 37 des ersten Abschnitts von Buch XIII, scheint Aristoteles die flüssigeren Formen von „Sein“ zu bevorzugen – wohl gemerkt Sein der mathematischen Dinge, nicht etwa Sein überhaupt. 

 

Walter Seitter


[1] Siehe Renée Schroeder: Was ist Leben? (Wien 2021)

[2] Siehe Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. (Berlin 1995)

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