τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 19. Dezember 2021

In der Metaphysik lesen (1076a 39 – 1076b 19)

 15. Dezember  2021

 

 

Die Frage, wie die mathematischen Gegenstände (z. B. Zahlen, Linien) zu bestimmen sind, möchte Aristoteles nicht mit solchen Begriffen wie Ideen, Wesen, Prinzipien beantworten. Damit würde man ihnen „eine andere Natur zuschreiben“ (1076a 23) – wie Aristoteles nun in Absetzung von einer vielleicht üblichen philosophischen Vorgehensweise schreibt. Vielmehr sollte man auf die mathematischen Dinge schauen und sehen, ob sie sind oder nicht sind, und wenn sie sind, in welcher Weise sie sind. 

Er empfiehlt ein Vorgehen, das Wahrnehmungsnähe mit einem elementaren und noch dazu banalen Begriff verbindet, dem Begriff „sein“, den ich hier bewußt klein schreibe, damit er nicht mit irgendeinem „Sein“ moderner Denker verwechselt wird. Er ist aber auch von dem Grundwort der aristotelischen Ontologie, dem „Seienden“ zu unterscheiden, das mehr nominal klingt und etwas dinghaft Fixiertes suggeriert. Hingegen tritt das „sein“ hier auch in flektierten Formen wie „sind“ auf, hat also verbalen Charakter im engeren Sinn. Er akzentuiert den Vollzug, das Dauern als Vorgang, als Ereignis, beinahe als Leistung.

 

Um so etwas feststellen zu können, muß man Wahrnehmungsaufmerksamkeit und Sprachgefühl mitbringen – zwei kognitive Tugenden, die mit der aristotelischen Auffassung von Denken zusammenhängen. An einer der wenigen Stellen, wo er sich einer Explikation von „denken“ nähert, sagt er, es sei dem Wahrnehmen und dem „bloßen Sagen“ ähnlich.

 

Die feine Nuancierung des ontologischen Grundwortes passiert „nur“ performativ anläßlich der Frage, ob und wie die mathematischen Gegenstände, die im Gegensatz zum Hauptthema des Buches XII von Aristoteles geringer eingeschätzt werden, existieren.

Man könnte sagen, damit wird die Ontologie an ihrer begrifflichen Wurzel revidiert wenn schon nicht reformuliert – was man allerdings nur sehen kann, wenn man bereit ist, elementare und vielleicht sogar banale Tatbestände ernstzunehmen. 

Auf einer anderen Ebene liegt die erwähnte Geringschätzung des Mathematischen, die wohl im jetzt gelesenen Buch noch weiter aufgeklärt werden wird. Aber in der heutigen Süddeutschen Zeitung spricht der Philosoph Peter Singer im Zusammenhang mit dilemmatischen Abwägungen zwischen einander ausschließenden Lebensrettungsversuchen davon, daß „die Idee des absoluten Wertes die Relevanz von Zahlen leugne“. Eine grundsätzliche Verwerfung von Quantitätsfragen findet sich heutzutage in unterschiedlichen Gesinnungsgruppen – und auf Aristoteles können sich die nicht berufen.

Es geht also jetzt darum zu sehen, ob und wie die mathematischen Dinge sind. Und wo sie sind – in den Sinnesdingen oder getrennt von den Sinnesdingen. 

 

Wenn beides nicht der Fall ist, sagt Aristoteles, so existieren sie entweder gar nicht oder sie existieren auf irgendeine andere Weise. Also ob oder ob nicht, wo und wie entscheiden und bezeichnen die verschiedenen Möglichkeiten des Existierens der mathematischen Dinge. Eine Herangehensweise die den Eindruck erweckt, vorurteilsfrei zu sein und sich mit karger Begrifflichkeit begnügt. Mit der zweimaligen Betonung der „Weise“ zu sein, akzentuiert Aristoteles anscheinend einen anderen Ausgangspunkt der Ontologie. Vielleicht ist es nur ein anders gefaßter, ein flexiblerer, ein weniger dinghaft fixierter. Das griechische Wort „tropos“, eingedeutscht auch „Tropus“ oder „Trope“, bedeutet eigentlich „Wendung“ – und diese kann auch das Sprechen und Schreiben, folglich auch das literarische und das philosophische betreffen, das heißt unterschiedlichde Stile und Richtungen annehmen lassen. Alles, was geschieht, geschiehbt „irgendwie“ (natürlich auch „irgendwo“ und „irgendwann“.)

Mit der „Weise“ zu sein, mit den verschiedenen möglichen Seinswendungen hat Aristoteles nur den gemeinsamen Nenner für das formuliert, was ich die „Seinsmodalitäten“ zu nennen pflege, die die Dimensionen der Ontologie aufspannen (welche irgendwann als Salzburger Schnürlregen verhöhnt worden sind – in Wahrheit eine Hommage an diesen). 

 

In unserem Text wird nun behauptet, daß die mathematischen Gegenstände nicht in den wahrnehmbaren Dingen existieren können - eine derartige Lehre wird als Erdichtung bezeichnet, das heißt als Falschmeldung, genauer gesagt als willkürliches Machwerk (abgeleitet von „Plastik“ als unguter Poietik).

Aristoteles sagt, daß diese irreführende Annahme darauf hinauslaufen würde, daß zwei Festkörper an einer Stelle auftreten, was unmöglich sei. Bemerkenswert, daß Aristoteles von arithmetischen und geometrischen Entitäten nicht bloß auf „Körper“ sondern sogar auf „Festkörper“ kommt, was zeigt, daß für ihn die Mathematik nicht sehr weit von der Physik entfernt liegt – ihr aber nachgeordnet ist (was an die Gründer der modernen Physik, etwa Galilei, anklingt)

Aristoteles scheint mit der als unmöglich hingestellten Auffassung vorauszusetzen, daß die wahrnehmbaren Dinge Festkörper seien und ebenso die Zahlen. 

 

Ich versuche trotzdem, diese Meinung zu vertreten, indem ich sage, an einem Würfel, etwa einem hölzernen, komme die Zahl 4 an jeder Seitenfläche mit den vier Ecken vor. Oder auf einer Tafel erscheine die angeschriebene Zahl 4. Im letzteren Fall ist es die Ziffer 4, die da als zweiter Festkörper, nämlich als Kreideabrieb, an der Tafel klebt. 

Die Zahl kann zwar irgendwie an wahrnehmbaren Dingen vorkommen, sie selber aber ist, wie Wolfgang Koch behauptet, etwas Gedachtes und Denkbares. 

 

Und was die Punkte und die Linien betrifft, so muß man zwischen ihnen als geometrischen Denkfiguren und ihren graphischen Bezeichnungen unterscheiden, die nie reine Punkte und Linien sind, sondern eher Flächen oder gar Körper. 

 

Was Aristoteles damit aufzeigen will: die mathematischen Elemente sind Denkgegenstände, die nicht abgetrennt existieren.

 

Was aber heißt „abgetrennt“? Wolfgang Koch: entfernt von der Vollendung, also unvollkommen. Mit dieser Deutung eines wichtigen aristotelischen Wortes liegt er philologisch vollkommen daneben.

 

Vielleicht weil er sich weigert, sich das Wort anzuschauen und sich ein möglichst „wörtliches“, ein vielleicht banal-physisches Verständnis zu überlegen. Ein solches findet man denn dann auch in den greifbaren Wörterbüchern.

 

Stattdessen versteigt er sich zu einer irgendwie höheren Deutung, welche die Qualität der Vollendung heranzieht und „Abgetrenntheit“ als Abstand oder Fehlen von Vollendung versteht. Ein akrobatischer Verstehensversuch oder vielmehr eine Verstiegenheit, die die aristotelische Neigung zum Schlichten, zum common sense ignoriert oder verachtet.

 

Tatsächlich aber bedeutet „abgetrennt“ bei Aristoteles schlicht und einfach: selbständig existierend. Und das wiederum impliziert einen gewissen Grad an Seinsmächtigkeit - nämlich diejenige, die den „Wesen“ zukommt (die meisten von denen sind wahrnehmbare Körper). Ganz vollkommen müssen sie nicht sein. Immerhin spricht Aristoteles dem vollkommensten Wesen, dem Unbewegten Bewegenden, ebenfalls die Abgetrenntheit zu (siehe 1064b 12).

 

Abgetrenntheit bedeutet also Selbständigkeit und das Verb „existieren“ geht ebenfalls in diese Richtung. Mit anderen Worten: die langweilige Ontologie ist zusätzlich zur Physik die bleibende      aber auch flexible Basis der aristotelischen Aussagebemühungen.

 

 

Etwas schwieriger scheint der folgende Gedankengang zu sein, der die Zerlegbarkeit zum Kriterium macht. Nach der zurückgewiesenen Ansicht könnte kein Körper zerlegt werden. Damit meint Aristoteles wohl nicht irgendein Zerteilen oder Auseinanderreißen, das jedem Körper gewaltsam angetan werden kann. Sondern ein theoretisches Analysieren, das auf die Flächen, dann Linien, dann Punkte zurückgeht. Die zurückgewiesene Ansicht scheint also den Aufbau der Körper aus strikt geometrischen Bestandteilen zu leugnen, welcher ihnen jedoch nur potenziell zukommt und erst durch die praktizierte Geometrie aktuell wird (wie im Abschnitt 3 ausgeführt werden wird). 

Die geometrischen Aufbauelemente existieren nicht selbständig, das tun vielmehr die wahrnehmbaren Körper, die wir in unserer Lebenswelt wahrnehmen: irgendwelche Steine, Gerätschaften, Nahrungsmittel, Menschenkörper, Himmelskörper. Klingt vielleicht banal – aber Aristoteles bemüht sich nicht, Banalitäten zu vermeiden und durch Sensationen zu ersetzen. Das haben zu seiner Zeit eher andere gemacht. Und heute machen es wiederum andere.

 

Daß Aristoteles im Unterschied zu manchen seiner Zeitgenossen die mikrophysikalischen Körperchen ignoriert hat, schließt wohl nicht aus, daß sie unter seinen Körperbegriff subsumiert werden könnten. Er würde wohl sagen, sie existieren potenziell in den meso- und makrophysikalischen Körpern, könnten aber durch praktizierte Mikrophysik aktualisiert werden. 

 

Im Abschnitt 2 sagt Aristoteles, daß nach der zurückgewiesenen Ansicht kein Körper zerlegt werden könnte. Er redet aber nicht von irgendeiner Zerlegung sondern von der geometrischen in Flächen, Linien, Punkte. Diese Zerlegung ist zwar möglich, aber nicht als physische Zertrennung, denn die genannten Elemente existieren nicht selbständig - sondern eben anderswie.

 

Dann lesen wir den Satz „Denn das Nicht-Zusammengesetzte ist früher als das Zusammengesetzte; ….“ (1076b 19)

 

Wolfgang Koch: eine äußerst banale Aussage, eigentlich eine tautologische (wie er in seinem schriftlichen Statement nachträgt). 

 

Daher hier seine seine mir zugeschickten Zeilen, für die ich ihm danke:

 

»Denn das Unverbundene ist früher als das Zusammengesetzte.« – Auf dieser apodiktischen Behauptung in Absatz 1 von Buch XIII fusst die gesamte Widerlegung der Annahme der platonisierenden Pythagoräer, die mathematischen Gegenstände seien in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen vorhanden. Es ist ein Schlüsselsatz, die Säule der Argumentation, und ein Paradebeispiel für den schlampigen Denkstil des Stagiriten. Ein wertvoller Text der altösterreichischen Philosophie, ein Text aus dem 19. Jahrhundert, von dem die Nationalbibliothek einen eleganten Erstdruck besitzt, listete drei Gestirne seines Denkens auf, auf deren stetem und wildem Durcheinander alle aristotelischen Abhandlungen beruhen: a. subjektive Beobachtungen, b. Angelesenes von fremden Autoren (Platon nannte seinen Schüler »den Leser«) und c. zitierte Gemeinplätze (»Man sagt...«). 

Dass das Unverbundene dem Zusammengesetzten logisch vorausgeht, gehört in die Kategorie der Gemeinplätze. Mit der Schlüssigkeit der Behauptung ist es nicht weit her. Die Kernfamilie zum Beispiel besteht nicht etwa in ihren Teilen, bevor sie Familie wird, nein, Vater, Mutter und Kind werden mit der Schwangerschaft oder der Geburt des Kindes zur Familie. Vor der Zeugung kein Kind und also auch keine Familie. Oder, anderes Beispiel: der Himmel. Er setzt sich aus der Bläue, den Wolken, der Sonne, den Sternen, den Vögeln und dem Horizont zusammen; keiner der Teile, nicht einmal die Vögel, existiert für das menschliche Auge in einem früheren Zustand getrennt von ihm. Natürlich gibt es auch Dinge, auf die die Holzhammer-Formel der ›Metaphysik‹ zutrifft. Als apodiktische Aussage aber ist der Satz genau das, was der Autor wenige Zeilen davor eine »erdichtete Behauptung« genannt und seinen Gegnern unterstellt hat.

Dass das Unverbundene zuerst existiert, ist grundsätzlich weder falsch noch richtig, und damit als Basisannahme in der Argumentationskette irritierend und untauglich. Der Gedanke entspringt einer dem Wort ›zusammengesetzt‹ immanenten Logik, er bildet einen Sprachinhalt oder eine Sprachkonvention, die der Stagirit bedenkenlos auf die Tatsachenwelt von mathematischen und sinnlichen Dingen überträgt. Man hat diese Denkfigur schon vor über hundert Jahren den »Wortaberglauben« dieses Klassikers genannt, und der Einfluss seines schlampigen Denkens scheint im Diskurs der Standard-Philosophie überhaupt kein Ende nehmen zu wollen.

 

 

Dazu bemerke ich jetzt nur, daß Wolfgang Koch damit, daß er den Namen des Aristoteles durch die Umschreibung „der Stagirit“ ersetzt, sich selber markiert. Und die Lektüre des ungenannten Autors, nämlich des Philosophen und Schriftstellers Fritz Mauthner (1849-1923), empfehle ich uns bis zum 12. Jänner 2022.

 

Walter Seitter

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