τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 29. April 2023

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 28 (74rH - 75rE) Seite 194, Z 17 bis Seite 200, Z 24 bei Burnett.

Mittwoch, den 19. April 2023

 

 

 

Hermann wendet sich weiter gegen den angeblichen Atomismus von Galen mit dem überraschenden Argument, das auch die kältesten Eltern ein männliches Kind bekommen können, wenn die astrologische Wahl oder Bestimmung durch die Sterne stimmt. Hier meint Hermann ein klares Argument zu haben, wie er schreibt, „dass die Wirkung der Natur durch die obige Kraft vollständig beeinflusst wird, da die Anordnung dieser Natur der Änderung jener Disposition folgt“. Dennoch läßt eine genaue Lektüre auf eine Verunsicherung Hermanns durch Galens innere, stoffliche Methode und Behandlung der Körper schließen, denn Hermann zitiert Galen mit einer Stelle, die das schwierige Wissen oder gar die Unerkennbarkeit von Dingen behauptet, die nicht unter die Sinneswahrnehmung fallen. Das soll wohl seine astrologische Einflusstheorie bestärken, die hier mit einem sogenannten Wissen einspringen kann. Dabei glaubt Hermann nach einer besonders strikten Disziplin vorzugehen, diese Selbsteinschätzung kommt wohl von der Euklid-Übersetzung her, die für Hermann auch ein Maßstab für wissenschaftliche Methodik gewesen sein dürfte.

Dazu ein aktuelles Buch von Benjamin Wardhaugh: „Begegnungen mit Euklid – Wie die »Elemente« die Welt veränderten.“ (2022) Der Autor legt in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Darstellung auch einigen Wert auf die stilbildenden Folgen der Lektüre durch die Jahrhunderte, er erwähnt Hermann de Carinthia allerdings nur kurz im Kapitel über Abaelard.

Hermann zitiert Galen, worin dieser den Überblick über die Medizin einem genauen Detailwissen vorzuziehen scheint. Zitat aus Galen: „Es ist notwendig, so weit wie möglich zu versuchen, die Stärken und Schwächen (der Medizin) zu kennen, wenn auch nicht nach einer bestimmten strikten Disziplin, sondern nach einer Art kunstgerechter Vermutung.“ - im lateinischen Original „sed secundum coniecturam quandam artificialem.“ Während in der Medizin die kunstgerechte Vermutung vielleicht zu einer gelungenen Behandlung führt, besteht Hermanns Einflusstheorie eigentlich nur aus Vermutungen, die zu keiner zuverlässigen Voraussage führen, sondern nur zu rückwärtsgewandten Erklärungsversuchen.

Burnett kann die zitierten Stellen keinen bestimmten Werk von Galen zuordnen und auch ich verfüge nicht über die Kenntnis des umfangreichen Werks Galens, um es genau zu bestimmen, ich würde es in den Bänden „Methode der Medizin“ vermuten.

Hermann kehrt zu seiner Vorstellung zurück, dass die Essenzen die Mischung der Substanz betreiben und dadurch die verschiedenen Erscheinungen des Frühlings, des Sommers und des Herbstes schaffen. In diese Erörterung fällt die Erwähnung des sogenannten Geburtshoroskops (genezia) für die Zeit von Jesu Geburt, was schon etwas unvereinbar mit der christlichen Tradition scheint, wenn dadurch eine Hilfestellung des Mondes bei der Geburt Jesu impliziert wäre.

Dieser Verdacht einer Führung durch den Mond drängt sich im nächsten Absatz auf, wenn Hermann von den Aufgaben des mittleren Teils, also der Planeten, spricht, die das rechtmäßige Bündnis der Gesellschaft herstellen sollen. Dabei hätten die Planeten die eigene Führung wie der Mond über den ganzen Körper, die Sonne über die Seele, der Merkur über die Vernunft, die gemeinsame Führung (hier unmissverständlich das Wort ducatus), wie die Sonne über das Gehirn, der Mond das Mark und Merkur die Öffnungen des Körpers. Die gemeinsame Führung ist teilweise substantiell, teilweise akzidentiell, wegen der eigenen Bewegung der Planeten.

 

Mineralien – Pflanzen – Tiere

 

Wenn sich die Materie für die Form öffnet (vielleicht habe ich hier „patens“ schon etwas sexuell interpretiert) und eine Mischung aus Erde und Wasser anzieht, bildet sich ein Mineral. Es ist eine Bewegung ohne die Vermittlung eines Samens, direkt aus der Materie herausgerissen und dennoch der Ursprung der Natur.

Kommt ein weiteres Element dazu werden Pflanzen gebildet, sie erstrecken sich auch von der Erde durch das Wasser in die Luft, sind zwar belebt, aber noch nicht fühlend. Hermann kommt hier bereits auf die künstlich geschaffenen Arten von Pflanzen zu sprechen, die aus einer sekundären Bewegung der Zeugung heraus geschaffen werden – also durch Züchtung. Die kunstfertig gezeugten Pflanzen bringen Unterschiede zu den ursprünglichen Arten hervor.

Tiere sind aus allen vier Elementen gebildet und haben zusätzlich sinnliche Wahrnehmung und willkürliche Bewegungsfähigkeit. Es gibt eine kurze Gliederung nach den Bewegungsarten und Überlegungen zu verschiedenen Mischungen wie fliegende Schlangen, was eine Mischung aus Fliegen und Kriechen wäre. Auch eine Mischung in den Reichen der Natur zwischen Pflanzen und Tieren wird kurz angerissen. Auch hier wird über die Kunstfertigkeit (artificium) die Arbeit der Natur übernommen und es entstehen neue Arten von Tieren wie das Maultier.

Sowohl Pflanzen wie auch Tiere benötigen zur Aufrechterhaltung der Proportionen Ernährung durch Brennstoffe (fomentis), mit denen sie durch Zu- und Abflüsse wachsen und abnehmen, bis Bewegungen dieser Art notwendigerweise zu ihrem Ende kommen.

 

Karl Bruckschwaiger

 

nächste Sitzung:  4. Mai 2023

Hermann lesen, 75rF, S.200 bei Burnett

Sonntag, 16. April 2023

Nahlesen, Fernlesen, Laterales Lesen, Figuration

Der englische Literaturkritiker und Rhetoriker I. A. Richards (1893-1979) plädierte für eine Leseweise, die sich auf die Wörter eines Textes konzentriert, statt sich auf vorgefaßte Meinungen oder übernommene Vorstellungen zu verlassen. Er empfahl diese Leseweise speziell für die Beschäftigung mit Gedichten.

 

Für die Lektüre der aristotelischen Metaphysik scheint sie weniger geeignet zu sein, da sie ein umfangreicher Text ist, der historisch zwischen der älteren griechischen Philosophie einerseits und einer riesigen Tradition aus Übersetzungen, Kommentaren, Rezeptionen, Umdeutungen und kritischen sowie polemischen Verwerfungen andererseits angesiedelt ist. Daher ist der Text mit einer Überfülle an kontroversen Bedeutungen aufgeladen, die es schwierig macht, überhaupt an ihn heranzukommen (was Lacan besonders deutlich gesehen und gesagt hat).

 

Umso dringlicher der ernsthafte Versuch eines Nahlesens, wie wir ihn hier unternehmen. Ein Versuch, für den es das braucht, was Lacan als hartnäckiges Insistieren auf einem Begehren bezeichnen würde, das heißt auf einer rücksichtslosen Eigensinnigkeit.[1]

Die Begriffe, mit denen Aristoteles sich im 7. Kapitel von Buch XII an die lange anvisierte gewissermaßen supplementäre Bewegursache für alle Dinge heranmacht, zunächst sind es Begriffe der Psychologie, dann der Noologie, verdienen nicht nur, sie brauchen eine eingehende Nahlektüre – die allerdings theoriehistorische Vergleiche (wie mit dem freudschen „Lustprinzip“) nicht ausschließen. 

 

Der Gegenbegriff zum close reading, das distant reading oder „Fernlesen“, wurde vom italienischen Literaturwissenschaftler Franco Moretti (*1950) erfunden und bezeichnet die Leseweise, mit der große Massen von Texten, auch weit auseinander liegende, mit bestimmten Kriterien geordnet und verglichen werden.

 

Gemeinsam ist beiden Leseweisen das Wissen um die Distanz der Leser gegenüber dem Gelesenen. Ich nenne diese Distanz das „seitliche“, das „laterale“ Verhältnis. Lesen heißt etwas so intensiv anschauen, und zwar durchschauend, weiterschauend, hin und her schauend - bis dieses „etwas“ zu sprechen beginnt.

 

Dazu gehört das Wissen um die Materialität der Texte, die sich von keiner Idealisierung auflösen läßt. Mir ist diese Materialistik durch französische Autoren wie Foucault, Deleuze, Derrida und Lacan beigebracht worden und sie hat mich im übrigen dazu geführt, innerhalb der Philosophie eine Art „Physik“ zu versuchen – weniger eine „Metaphysik“. Die beiden Lektüresorten könnten der Mikrophysik sowie der Makrophysik zugeordnet werden. Und sofern das Gelesene mit bestimmten Menschen assoziiert wird, handelt es sich um Kollegen oder „Nebenmenschen“, wie man in Österreich bis 1938 gesagt hat.  

 

Das Laterale Lesen vermeidet zwei „Identifizierungen“ mit dem Text: die unterwürfige des Anhängers sowie die besserwisserische des Alleswissers. 

 

Mit seinen beiden „Listen-Büchern“ (III, V) hat Aristoteles selber punktuelle Nahlektüren seines Projekts in sein Werk eingebaut. Die Bücher VI und XII sind eingebaute Übersichten oder Fernlektüren. 

 

Daß die beiden genannten Lesespezialisten professionelle Literaturwissenschaftler sind, ist wohl kaum ein Zufall. Denn das Lesen sogenannter literarischer oder belletristischer Werke hat zur Materialität des Textes zumeist ein besseres Verhältnis als das Lesen philosophischer Texte. Beide machen Vorschläge für „bessere“ Lektüren und insofern sind beide nicht theoretische Literaturwissenschaftler sondern „poietische“ im aristotelischen Sinn. Solche, denen es um die Verbesserung oder Erlernung einer Leistung geht, nämlich der Leseleistung.

 

 

Jetzt noch einmal zurück zur kleinen zoologischen besser wohl zoographischen Liste „Mensch, Pferd, Gott“ (Listen haben es mehr mit Graphien als mit Theorien zu tun).

 

Es handelt sich um die Spezifizierung der Gattung „Lebewesen“ – allerdings um eine sehr selektive. Denn zu dieser Gattung gehören – für Aristoteles – beinahe unzählige Arten, eben die Tierarten, über die er einige ganze Bücher geschrieben hat.

 

Die drei genannten Arten müssen für diese Zusammenstellung bewußt ausgewählt worden sein, sodaß mit der Auswahl eben doch irgendeine theoretische Aussage gemacht worden sein wird. Eine mit drei sehr bekannten Begriffen angedeutete, aber eben doch nur angedeutete Aussage. Eine Aufforderung zum Interpretieren, wie sie ähnlich in wortkargen Gedichten vorliegt – und wo jedes Wort Gewicht hat. 

 

Mensch, Pferd, Gott. Jeder Begriff soll für eine Spezies stehen. Die „normalste“ Spezies dürfte wohl auch für Aristoteles das Pferd sein – ein vertrautes Haus- und Nutz- aber auch Prestigetier.

 

Vertraut den Menschen, die in dieser kurzen Liste ebenfalls Platz haben, da sie ebenfalls eine Art innerhalb der Lebewesen sind. Wohl auch für Aristoteles eine herausgehobene Art, da sie die Pferde gebrauchen und schätzen, ja beherrschen. Für uns Heutige bilden die Menschen schon eine auffällige Erweiterung der Zoographie – wir halten uns eben doch für bessere, ja für sehr bessere Tiere. Immerhin sind wir die einzigen Lebewesen, die solche Sachen wie Tierlisten, Tierbeschreibungen überhaupt machen können. Aristoteles nennt den Menschen, das Lebewesen „das den Logos hat“. Die anderen haben den nicht (die Neugriechen haben ausgerechnet für das Pferd das Wort alogo erfunden). 

 

In unserem heutigen Verständnis dehnt also der Begriff „Mensch“ den Gattungsbegriff „Lebewesen“ aus und gewissermaßen hinauf.

 

Noch mehr tut dies der Begriff „Gott“ – obwohl der bei Aristoteles doch als ein Artbegriff gilt. Aber er bezeichnet eine Art, die sich in den animalischen Gattungsbegriff nur schwerlich einordnet, und außerdem eine Art, die vielleicht nur ein einziges Individuum enthält. Das ist nicht ganz sicher, zumal Aristoteles, wenn er guter Laune ist, auch die Götter der Volksreligion gelten läßt. 

 

Daß er den Begriff „Gott“ in seine kleine zoographische Liste aufnimmt, setzt diese in den Rang eines wichtigen kosmographischen Resümés. Und es zeigt auch, daß Aristoteles seine Begriffe elastisch weitet und dehnt. 

 

Ich spreche von „Liste“ auch deswegen, um an das umfangreiche Begriffsverzeichnis zu erinnern, welches das ganze Buch V ausmacht und 30 Begriffe enthält und erklärt.

 

Die drei Lebewesen-Nennungen bilden bestimmt sehr „wichtige“ Begriffe. Welche von ihnen finden einen Platz im großen Begriffsverzeichnis?  

 

Genau: kein einziges. 

 

Eine hervorragende Gelegenheit, um die Architektonik des aristotelischen Denkens zu begreifen. Jetzt die seit Jahren von mir durchgeführte und betonte und von manchen belächelte Unterscheidung zwischen Realitätssorten und Seinsmodalitäten.

 

Die drei Lebewesen stehen für eine oder für drei - je nachdem – Realitätsorten. Die 30 Begriffe von Buch V hingegen für Seinsmodalitäten, wobei die Zahl 30 nicht in Stein gemeißelt ist. 

 

Diese Nachbemerkung soll deutlich machen, daß das Lesen und Deuten der Metaphysik sich als Fremddeuten zu qualifizieren hat. Man muß dem Buch Begriffe und Aussagen zuwerfen, die man – mehr oder weniger - selber erfunden hat. Und die es – im Glücksfall – treffen. Ganz egal in welcher Sprache. 

 

Das griechische Wort für „treffen“: tynchanein

 

Und sowas kann man nur, wenn man, wie oben angedeutet, im Lesen und Deuten, auf Biegen und Brechen seinem Begehren treu bleibt, das ein ferngesteuertes ist. 

 

Zum griechischen Begriff zoon „Lebewesen“ kommt noch eine weitere Dehnung. Die von Aristoteles überhaupt nicht erwähnt wird, aber in der griechischen Sprache seiner Zeit ganz selbstverständlich „dabei“ ist: zoon bedeutet auch Bild, Zeichnung, Gemälde (so bei Platon). Also bestimmte Artefakte aus Steinen und Farben, Erzen oder Edelsteinen, die gemacht sind, um andere Dinge, zum Beispiel Tiere, Menschen oder Götter zu zeigen.[2] Also genau oder jedenfalls ungefähr solche Wesen, die in der Dreier-Liste genannt werden.  

 

Das heißt: alle Wesen noch einmal. Oder vielleicht noch zweimal. Naturwesen, Kunstwesen, Götterbilder oder Bildgötter.

 

Und hier gewinnt das gelehrte Sammelsurium des Hermann von Kärnten, wie wir es in der letzten oder vorletzten Stunde gelesen haben: die Nymphen und Faune, die Halbgötter und die Heroen, die Gottwerdungen und Menschwerdungen, die Inspirierung der Bildwerke durch Dämoneneingebung. All das gewinnt den Charakter von chaotischen Fremddeutungen zu den oftmals kühlen und wortkargen Andeutungen des Aristoteles. 

 

Immerhin hat er sich im 7. Kapitel des Buches XIII zu einer Art von zaghafter Beschreibung, zu einer verschämten Bewunderung für das UB hinreißen lassen oder für das DD. So daß das UB oder DD sich zu einer Figur kristallisiert oder rundet oder färbt. Für die sogar ein lebendiges Bildwerk erfunden werden könnte, für welches sich eine dämonische Beseelung herbeibitten läßt.

 

Zum Beispiel dieses Bild, das eine Statue darstellt, welche von der amerikanischen Schauspielerin Tanner Mayes gespielt wird.[3]

 

 


 

Walter Seitter


[1] Georg Gröller hat diese Verhaltensweise am Beispiel von Lacan selber anschaulich geschildert. Siehe ders.: Gott ist unbewußt. Entwurf einer atheistischen Mystik (Wien-Berlin 2022): 54-63. Zwar behaupte ich nicht, daß die von mir hier erfundene und durchgeführte Metaphysik-Lektüre und Lektüre-Diskussion und -Protokollierung so intensiv ist, wie sie sein sollte; aber dreizehn Jahre Seminar sowie die Parallellektüren von Ponge, Serres (Lukrez) und Hermann zeugen von einer vermutlich raren Bemühung. 

[2] Diese zusätzliche Bedeutung ist in die Sprache so tief eingedrungen, daß sie zusammengesetzte Wörter gebildet hat, die bis heute in der neugriechischen Sprache gang und gäbe sind. 

[3] Literatur zu Tanner Mayes: Walter Seitter: Intimsteintechnik, in: Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft 42 Bleibende Steinzeit (Wien 2018); Die Kardinal, in: Vierundzwanzigste Etappe (Bonn 2018/2019). Das theoretische Umfeld ist von Pierre Klossowski entdeckt bzw. erfunden worden. Siehe ders: Kultische und mythische Ursprünge gewisser Sitten der Römischen Damen (Berlin); Die Ähnlichkeit (Bern-Berlin 1986); Lebendes Geld (Wien-Berlin 2018); H. Ebner, I. Gurschler, W. Seitter (Hg.): Wörter, Bilder, Körper. Zu Pierre Klossowskis Lebendes Geld (Wien-Berlin 2018) 

Samstag, 8. April 2023

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 27 (73vF - 74rH) Seite 190, Z 6 bis Seite 194, Z 17 bei Burnett

Mittwoch, den 29. März 2023

 

Wie ich im Protokoll der vorhergehenden Lesung zu der Stelle komme, wo Hermann Varro erwähnt mit seiner Vermutung, dass die menschlichen Seelen in Toten- und Hausgötter überführt werden, mache ich die Anmerkung, dass sogar in der Bibel solche Hausgötter erwähnt werden, und zwar stiehlt Rahel, Jakobs Frau, die Hausgötter von Laban, angeblich um sich den Anspruch auf das Erbe zu sichern. Diese kleinen Statuen waren Walter Seitter nicht mehr in Erinnerung, mich haben sie immer beschäftigt, seitdem ich das Buch Genesis gelesen habe, der Umstand, dass es eine Gottesverehrung auch bei den Juden mittels Statuen und Figuren gegeben hat, und dass diese Erwähnung nicht herausgestrichen wurde.

Hermann führt im weiteren Verlauf des Textes Trimegistos mit seiner Erzählung an, wie dessen Vorfahren die Kunst erfunden hätten, Götter zu machen, indem sie Figuren aus Holz und Metall anfertigten und ihnen die Kraft der Natur hinzufügten. Dann riefen sie Dämonen oder Engel herbei, die sie mit heiligen Bildern und göttlichen Mysterien ausstatteten, wodurch sie die Kraft bekamen Gutes oder Böses zu tun.

An dieser Stelle fragt Walter Seitter: „Wie werden Götter gemacht?“ In diesem Fall des griechischen Autors durch Figuren, Bilder und Mysterien. Im Falle von Moses, den Walter Seitter, als Katholik der Erziehung nach, als den Autor der ersten fünf Bücher der Bibel ansieht, wird Gott durch die Schrift gemacht. Moses begegnet seinem Gott in der Wüste und kehrt zurück mit der Schrift, allerdings erst im zweiten Buch der Bibel, Exodus. Die Christen haben auch die Schrift, aber zusätzlich heilige Bilder, wie Sophia Panteliadou da sofort an Ikonen denken muss, und Statuen im Kirchenraum, die die Anwesenheit Gottes befördern sollen. Die Liturgie ist dann der weihevolle Vorgang, der die Anwesenheit Gottes herbeirufen soll.

 

Hermann beginnt den folgenden Abschnitt mit zwei bekannten Prinzipien, die für das sekundär Gezeugte gelten, in lateinischer Version als Aktivität und Passivität gefasst. Das eine die tätige Kraft und das andere die geduldige Notwendigkeit, die zur Zeugung der Dinge zusammengehen. Als Hermann noch deutlicher wird und schreibt, das das Tätige Samen streut oder herauswirft - iacit - und das Duldende sie aufnimmt - suscipit - , und im Zusammengehen - coitu -  selbst vermischt, meint Walter Seitter, ich könnte das Sexuelle der ganzen Wortwahl klarer darstellen, ich hatte zuerst Vereinigung gesagt, habe mich dann für die wörtliche Übersetzung Zusammengehen von co-eo umentschieden. Zur sexuellen Deutlichkeit kann niemand gezwungen werden, auch wenn es bei Hermann durchaus Tendenzen dazu gibt.

Es ergeben sich für Hermann aus diesen zwei Prinzipien sogenannte Serien, das Handelnde bringt die Form in das Empfangende, sie ist von derselben Natur, die Form selbst kommt aus der Essenz, während das Empfangende die Form aufnimmt, von verschiedener Natur ist und seine Materie aus der Substanz stammt.

Es gibt leichte Zweifel an der Aufstellung, wenn Hermann von vielfachen Argumenten bei den Physikern spricht, als wäre es eine noch nicht endgültig geklärte Sache.

Das Handeln der Essenz wird von den Auswirkungen her rückwärts argumentiert, weil es Auflösung der Gattung gibt, muss es zuvor eine Zusammensetzung gegeben haben, das sogar mehrfach, denn die Mischungen sind durch Auflösung der ersten Zusammensetzungen entstanden. Da die höheren Mächte sich nicht freiwillig mit den Niedrigen vermischen, musste eine äußerliche Kraft sie zwingen, und das kann für Hermann nur die Essenz sein, die einzige Kraft, deren Bewegung die Substanz hervorruft. Da springt Hermann unvermittelt ins Kosmologische und sieht die Kraft der Bewegung durch die Essenz universell bei den Planeten, aber auch bei den anderen Himmelskörpern, obwohl er es nur bei der Sonne für die Temperierung der Luft und beim Mond für die Bewegung des Wassers exemplifiziert. Da die Bewegung der Essenz kreisförmig ist, folgt die Substanz in der Zeugung und dem Verderbnis der Dinge einem Kreislauf.

Hermann möchte weitere Angaben zum Funktionieren seiner Konstruktion machen, dazu führt er drei Eigenschaften – propietates – von Form und Materie an, Gegensätzlichkeit, Auflösung und Veränderung. Diese Eigenschaften gelten ohne Einschränkungen für die Materie, aber nicht für die Form, die keine Gegensätze kennt und sich nicht aktiv verändert oder sich von der Materie trennt. Dennoch begründen die Unterschiede die Formen, die aber aus der Essenz stammen müssen.

Aus dieser Annahme der formenden Kraft von Oben beginnt der in diesem Fall etwas unbedarfte Hermann einen Angriff auf den großen Galen, den er sich erlaubt, simplici zu nennen. Galen glaubt an keine Wirkungen der Dinge, außer sie kommen von der niedrigen Natur des Körpers, der Medikamente und Behandlungen, und das zitierte Beispiel ist: „die Geschlechtsteile zeugen als warme Männer, als kalte Frauen.“ Wenn es keine andere Ursache als die kleinsten Teilchen der Welt gäbe, scheint Hermann der ganze Dienst der höheren Natur entleert, unwirksam und nutzlos zu sein. Er führt sofort die Wirkung von Sonne und Mond an, nämlich dass die Nähe der Sonne die Äthiopier schwärzt und Mond und Venus normalerweise Einfluss auf die Farbe des Kindes haben würden.

Daran ist die betont astrologische Kritik einer rein inneren körperlichen Erklärung der medizinischen Vorgänge erstaunlich, denn die christliche Kritik Galens bestand im Wesentlichen darin, den fehlenden Beistand Gottes bei der Heilung der Kranken zu monieren.

 

Karl Bruckschwaiger

 

nächste Sitzung: 12. März 2023

Aristoteles, Metaphysik, Buch XIV, ab 1088a,14