τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Dienstag, 10. Dezember 2019

In der Metaphysik lesen (Buch IX, 1051b 34–1052a 14)

Wir kommen noch einmal auf den Anfang von Kapitel 10 zurück, wo Aristoteles drei verschiedene Differenzierungen des „Seienden“ als solchen unterscheidet: diejenige gemäß den Kategorien (zu denen man auch das Werden, Vergehen usw. zählen kann), diejenige nach Möglichkeit und Wirklichkeit und diejenige nach wahr und falsch. Die beiden ersten Differenzierungen ergeben Modalitäten aufseiten des Seins. Die dritte Differenzierung hingegen scheint sich nur auf Aussagen beziehen zu können, die zwar Entitäten sind, aber sehr spezielle: denn wahr und falsch sind mögliche Eigenschaften von Aussagen und zwar von wahrheitsfähigen Aussagen. Wieso kann Aristoteles die drei Achsen auf eine Ebene stellen?

Wolfgang Koch sagt, Aristoteles habe Sein und Sagen prinzipiell gleichgesetzt bzw. das Sein dem Sagen untergeordnet, von ihm abhängig gemacht, denn sobald man von einem Sein spricht, spricht man von ihm. Doch eine schlichte Identifizierung mag es bei Parmenides oder bei Hegel geben. Aristoteles hingegen weist einen solchen „Idealismus“ gerade in unserem Kapitel ausdrücklich zurück – und zwar anhand einer Redensart, mit der wir jemandem eine Hautfarbe zusprechen: „Denn du bist nicht deshalb weiß, weil wir der Wahrheit gemäß meinen, du seist weiß, sondern weil du weiß bist, deshalb sprechen wir mit unserer Behauptung die Wahrheit.“ (1051b 7) In der Kategorienschrift formuliert er abstrakter: "Die wahre Aussage ist niemals Ursache dafür, dass der Sachverhalt ist, der Sachverhalt allerdings scheint Ursache dafür, dass die Aussage wahr ist.“ (14b 19)

Aristoteles behauptet also, dass zwischen Sagen und Sachverhalt (oder Gegenstand (der natürlich auch selber ein Sagen sein kann – wie in diesem Falle, wie überhaupt in der Logik)) eine Unterscheidung vorausgesetzt werden muß, wobei für Wahrheit oder Falschheit der Aussage der Sachverhalt maßgeblich ist; aber nur maßgeblich und nicht zuständig; zuständig sind Erkenntnis- und Aussagefähigkeit und –wille der Sagenden. Allerdings ist dieser Sachverhalt von Aristoteles gesagt worden und er kann von jedem Menschen wiederum und auch ein bisschen anders gesagt werden. Der Sachverhalt selber kann es nicht sagen – er kann sich zeigen, er kann erkannt werden. Wenn jedoch die besprochene Sache ein Mensch ist, kann sie den Sachverhalt auch selber aussprechen. Zum Beispiel könnte das oben angesprochene Du eine Frau sein, die sagt: „Alle sagen, dass ich weiß bin und in dem Sinn, in dem so eine Hautfarbe wie die meinige 'weiß' genannt wird, bin ich eine Weiße – wie man sieht. Unsere übereinstimmenden Aussagen sind nicht deswegen wahr, weil sie von uns allen gemacht werden, sondern weil meine Hautfarbe so aussieht, dass sie weiß genannt wird. Der Gebrauch der Wörter ist allerdings Sache der Konvention.“

Damit man eine wahre Aussage über einen Gegenstand machen kann, muß der Gegenstand mitsamt den ihm zugesprochenen Bestimmungen unabhängig von der Aussage gegeben sein – denn die Aussage soll ihm mit ihrem Sprechen entsprechen. Wir haben auch davon gesprochen, dass die Unabhängigkeit des Gegenstandes weit größere Dimensionen annehmen kann als im aristotelischen Beispiel von „deinem Weißsein“.

Es wird heute gesagt, dass die Erde lange vor den Menschen und vor irgendeinem menschlichen Sagen auch schon mit bestimmten geologischen oder atmosphärischen oder biotischen Eigenschaften existiert hat. Dies kann mit irgendwelchen wissenschaftlichen Methoden heute von Menschen erkannt und gesagt werden – und zwar nur von ihnen. Deswegen, weil solche geohistorischen Tatsachen gesagt werden, sind sie nicht von irgendwelchen Menschen abhängig. Weder von den seinerzeitigen Menschen, die es nicht gegeben hat, noch von den heutigen, die sie jetzt erforschen und aussprechen.

Daß jetzt massive geologische oder atmosphärische oder organismische Erdeigenschaften von den Menschen miterzeugt werden, scheint eine Eigentümlichkeit des gegenwärtigen Zeitalters zu sein, das deswegen auch „Anthropozän“ genannt wird. Die zugrundeliegenden Tatsachen bestehen allerdings unabhängig von menschlichem Sagen. Dieses menschliche Sagen könnte vielleicht aber nun vielleicht dazu beitragen, dass die Menschen ihre Einflußnahme modifizieren.

Auch gibt es Sprechformen, die nicht oder nicht nur Wahrheiten oder Unwahrheiten über unabhängige Tatsachen aussprechen, sondern außer der Tatsache ihres Sprechens auch noch andere Tatsachen etwa sozialer Art, also Taten oder Handlungen, hervorbringen: performative Sprechakte.

Wieso können wahr und falsch auf die Seite von Seinsmodalitäten geraten? Im Buch V gibt es einen Abschnitt über das Falsche und dort bemüht sich Aristoteles, aus dem Aussagenfalschen – denn dieses ist das eigentliche – ein Sachverhaltsfalsches zu konstruieren: die kommensurable Diagonale ist falsch, weil es sie nicht gibt; andere Dinge sind zwar wirklich aber falsch, weil sie als etwas erscheinen, was sie nicht sind – so etwa „täuschend echte“ Malereien wie die von Parrhasios. (1024b 19ff.) Hier erwähnt Aristoteles die wichtige epistemische Leistung, die unbelebte Dinge erbringen können – die liegt nicht im Sagen sondern im Erscheinen.

Menschen könne man „falsch“ nennen, wenn sie dazu neigen, andere zu täuschen. In allen diesen Fällen wird von der Aussagenebene auf die Sachebene hinübermetaphorisiert.   
     
In unserem jetzt gelesenen Text heißt es: „Denn eine Täuschung über das Was ist nicht möglich ...“ (1051b 26).

Aristoteles  meint wohl, dass man sich unter normalen Umständen nicht darüber täuschen kann, ob „etwas“, also eine bestimmte  physische Erscheinung ein Mensch ist oder ein Sessel. Mensch und Sessel sind zwei „Was“, zwei Wesenheiten, zwei Spezies, von denen eine der Gattung der Lebewesen angehört, die andere der Gattung der Geräte (es sind genau diese zwei Gattungen, die Aristotele anderswo einander annähert, weil ein Haus dazu da sei, Lebewesen und Geräte zu bedecken).

Man kann sich aber sehr wohl darüber täuschen, ob dieser Mensch da so gesund ist, wie er ausschaut (oder wie er sagt), oder ob dieser Sessel da so stabil ist, wie er erscheint. Im übrigen sind beide Dinge entstanden und vergänglich, also gehören sie nicht zu den Sachen, die Aristoteles im Hauptteil des Kapitels bespricht: zu den unentstandenen und unvergänglichen Sachen wie „das Seiende selbst“, das Dreieck mit seiner bestimmten Winkelsumme, die gerade Zahl, die keine Primzahl ist. Sind diese drei typische „wahre Sachen“ und insofern Seinsmodalitäten?

Wenn wahr oder falsch ontologische also durchgängige Ausdifferenzierungen des Seienden als solchen sein sollen, müssen sie auf Schritt und Tritt anzutreffen sein: als positive oder negative Erkenntnisbezüge, als aktive oder passive oder privative Erkenntnisdispositionen,  wie sie Aristoteles in 1051b 24ff. mit einer verblüffenden Kumulierung von Tätigkeitswörtern andeutet: Erfassen und Nicht-Erfassen,  Aussagen und Benennen, Wissen und Nicht-Wissen, Denken oder Nicht-Denken, Täuschung und Nicht-Täuschung ... und dann auch noch Forschen.

Diese Erkenntnismöglichkeiten oder –blockierungen beziehen sich gleichermaßen auf stabile Gesetzmäßigkeiten wie auf zufällige Chancen von Entstehung und Untergang, Änderung und Ortswechsel. Folglich haben sie mit der Dramatik menschlichen und vielleicht auch nichtmenschlichen Lebens zu tun. Doch dazu macht Aristoteles hier keinerlei Ausführungen – vielleicht tut er dies in anderen Schriften wie der Politik oder Ethik oder Poetik. Immerhin haben wir im kleinen Buch vom Werden und Vergehen den Satz gelesen, der sich auch auf die Erkennntisfähigkeit eines Menschen beziehen lässt. Die entsprechende Fähigkeit wird da „Musik“ genannt, die Unfähigkeit „Amusie“. Da geht es um die Verbindung des Menschen zu Künsten und Wissenschaften, deren Mutter die Erinnerung ist.

Hier im Abschnitt 10 von Buch IX kombiniert Aristoteles die Begriffspolarität wahr und falsch mit der anderen von zusammengesetzt und unzusammengesetzt – welche Kombinierung sich meinem Verständnis entzieht, und daher gehe ich in meinem Resümée nicht auf sie ein.

Walter Seitter
4. Dezember 2017