τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 26. Mai 2021

In der Metaphysik lesen (1072b 19 – 24)


In der vergangenen Woche wurde in Wien eine Ausstellung eröffnet, die zwar als Kunstausstellung gelten möchte, aber wohl mehr in Richtung Themenausstellung tendiert, da sie den „Flecken“ gewidmet ist, also recht elementaren Entitäten, die in verschiedensten Bereichen wie in der Malerei, im Haushalt, in der Medizin oder in der Religion unterschiedlichste Rollen spielen. Viele Philosophen haben sich dafür entschieden, nicht zur Ausstellungseröffnung zu kommen – vielleicht weil ihnen das Thema zu banal, die Flecken als massenhafte Erscheinungen nicht philosophiewürdig vorkommen. Es zeugt jedoch von einer systematischen Realitätsverkennung, die sogenannten geringen Dinge geringzuschätzen und nur dort, wo Prestige und Geld ihre Leuchtschriften blinken lassen, philosophischen Erkenntnisgewinn zu suchen. Die Ausstellung ist im „Kunstraum am Schauplatz“ in der Praterstraße 42, 1020 Wien, bis zum 12. Juni 2021 zu sehen.

 

Die Ausstellungseröffnung als Ereignis kann natürlich jetzt nicht mehr besichtigt werden (obwohl einige Programmpunkte von Hans Schabus filmisch festgehalten worden sind). Das Hauptereignis war in meinen Augen und nicht nur Augen das Flecksuppen-Essen, das von 16 Uhr bis 20 Uhr währte, ich selber habe mich daran von 19 Uhr bis 20 Uhr beteiligt, habe mir von Peter Pilz die Zusammensetzung und den Kochvorgang erklären lassen und andere Leute haben mich in die Vor- und die Frühgeschichte dieses Essens eingeführt – die Flecksuppe als unvermeidlicher Bestandteil einer bäuerlichen Schlachtung bis in die Nachkriegszeit hinein, die Kutteln als tägliche Abspeisung des Personals in Schweizer Hotels. Bei der Ausstellungseröffnung, die von einem Wiener Philosophen ziemlich despektierlich als „Jahrmarkt“ bezeichnet worden ist, hat sie eine kleine Auferstehung gefeiert, der man wünschen möchte, sie könnte wieder ein bisschen in den Alltag einkehren – als gelegentlicher und nicht zwanghafter Bestandteil.

 

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Kommentar von Wolfgang Koch zum letzten Protokoll:

 

Was bei unseren Vorgängern die Arbeit war, die mit ihren ständigen Anforderungen alle erfasste, ist in unserem heutigen Erfahrungskreis das Geniessen, das aus allen Richtungen her auffordert sich ihm zu unterziehen. Ein »lustvolles Denken, das sich selber geniesst«, will die Früchte des Kopfes in Gefühle (möglicherweise sogar in solche der Erhabenheit) aufgehen lassen. 

Dagegen hat der Stagirit gleich im zweiten Satz der Metaphysik eine absolut sinnvolle Bremse eingebaut, denn was wir – abgesehen von dem Nutzen – an dem Wissen hochschätzen, sind die Sinneswahrnehmungen (um ihrer selbst willen) und gerade nicht die Gefühle.

Kann es ein Zufall sein, dass diese Woche bei Mondschein auch eine vergnügungswütige Menge den Georgenberg (mit Fahrzeugen) erstiegen hat, im Steinbruch ein illegales Rave ohne Corona-Abstandsregeln veranstaltete und bekiffte Tänzer*innen die Betonklötze der Kirche erklommen, um sich selbst zu geniessen? Die metaphysischen Anziehungskräfte bleiben unergründlich.

 

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Wolfgang Koch scheint zwei Epochenhomogenitäten zu konstruieren; einstmals die Nur-Arbeit, heute die Genuß-Wut. So mag der Epochenhistoriker sprechen. Die Philosophie, die wie ihr Name schon sagt, das Kognitive mit dem Emotiven verbindet, setzt nicht auf eine Kultur, die nur aus Philosophie oder nur aus Vergnügen besteht. Eher darauf, dass kein Einzelwesen in einer Totalität aufgeht.

 

Ich habe meinen Ausflug vom 16. Mai als Analogon zum aktuellen Stadium der Metaphysik-Lektüre erwähnt, in dem sich langsames Vorgehen, gelegentliches Stehenbleiben und Umschauen, Verzicht auf blinden Überschwang aber nicht auf sensitives Genießen empfiehlt. Wolfgang Koch schildert aus nächster Nähe einen frevelhaften Ansturm auf den Georgenberg, ich jetzt meinen Anstieg auf ihn - womit jede Epochentotalität im Hinblick auf den Georgenberg schon ad absurdum geführt ist.

 

Aufbruch vom Hohen Markt um 10.45 Uhr, Hinuntergang zum Schwedenplatz, auf Rolltreppen Hinunter- und Hinüberfahrt zur U4, U-Bahn-Fahrt nach Hietzing, dort Umstieg mit einem neuen Aufzug zur Straßenbahn 60. Hinausfahrt zum Maurer Pfarrplatz. Dann langsames Suchen und Gehen hinauf. Ungewissheit über die richtige Richtung – rechts oder links? Die linke Richtung wird mir empfohlen und sie bewährt sich auch. Einbiegen in die steile Maurer Lange Gasse – in der einige wenige Heurige sowie ein prächtiges Gräfliches Landhaus, Florentiner Stil, mir anzeigen, dass ich auf einem guten Weg bin. Schließlich zweigt links die Georgsgasse ab und erst jetzt gibt sich mir der Blick auf die Krönung des Georgenberges mit der vielfelsigen Kirche, die mich auch an das Castel del Monte in Apulien erinnert, wo ich vor über zwanzig Jahren gewesen bin.[1] Ankunft um 12.45 Uhr und große Erfülltheit, die sogar anhielt, als ich an einer versperrten Glastür so komische Informations- und Warnungs-DIN A4 Blätter vorfand, die den Eintritt in die Kirche erst ab 14 Uhr zu gestatten schienen. Schon war ich drauf und dran, den Besuch für dieses Mal sehr kurz zu halten und mir irgendeinen Rückweg nach Wien zu überlegen. Aber mein Erfülltsein ließ keine Panik zu, ich hielt mich an meine alte Regel zur Besuchung von Bauwerken: einmal außen herumgehen und man sieht und spürt es irgendwie vollständig. Da fand sich ein anderer Eingang und ich konnte eintreten. Und auf einmal waren auch andere Leute da, insbesondere Kinder, die im Sonnenlicht hinein und herausrannten. 

 

Es stimmt, dass der Weg der Metaphysik ein langer und langsamer und langwieriger ist und dass das Lesen ihm so nachgehen soll. Aber dass schon der zweite Satz eine Bremse einlegt, das stimmt überhaupt nicht – und eine Bremse gegen Gefühle? Der zweite Satz stützt den ersten, indem er davon spricht, dass auch die Sinneswahrnehmungen, also die Erkenntnisstufen, die wir mit den anderen Lebewesen gemeinsam haben, um ihrer selbst willen geliebt werden. Geliebt.

 

Mit dem Streben und dem Lieben in den beiden ersten Sätzen, greift Aristoteles auf den massiven Einbau des Emotiven ins Kognitive vor, den wir jetzt gerade im Abschnitt 7 von Buch XII vorgefunden haben und im selben Abschnitt die direkte Vergleichung des gesuchten „Prinzips“ mit bekannten anthropologischen Konstanten. 

 

Die „unergründlichen ... metaphysischen“ Anziehungskräfte, von denen Wolfgang Koch spricht, die mag es vielleicht bei „dem Stagiriten“ geben, im aristotelischen Text so wie ich ihn lese kommen sie nicht vor. Dazu ist Aristoteles vielleicht doch den sogenannten Wiener Positivisten zu nahe - ? Hat das Adjektiv „metaphysisch“ eine begriffliche Bedeutung oder ist es nur eine Art Index, der auf was verweist?

 

Man kann Aristoteles auch so lesen, dass man wieder und wieder das längst feststehende Standbild bestätigt findet, und Wolfgang Koch tut gut daran, es nicht mit dem Namen anzusprechen, sondern mit einem Quasi-Begriff und daher auch mit einem Artikel. Liest man Aristoteles anders, so hat man die Chance, in dem Text, der seit Jahrtausenden vorliegt (allerdings als ein „non-finito“), vielleicht etwas anderes zu sehen.[2]

 

 

Die nächsten Zeilen geben gute Gelegenheit dazu. 

 

Die Denktätigkeit an sich geht auf das, was an sich das Beste ist. So denkt das Denk(vermög)en oder der Denksinn sich selber, sofern es oder er am Denkbaren teilnimmt. Er wird selber gedacht, indem er berührt und denkt – indem er Denkbares berührt und denkt, so dass der Denksinn und das Denkbare dasselbe sind. Denn der Denksinn ist das, was für das Denkbare und für das Wesen aufnahmefähig ist und, indem er darüber verfügt, aktualisiert (realisiert) er. Realisiert er intransitiv, transitiv oder reflexiv? Zunächst vielleicht irgendwie intransitiv – er wird vom Denkbaren (und das ist in erster Linie Wesen) in Aktivität versetzt, er wird aktiv – allerdings nicht aus einem Schlafzustand in Aktivität versetzt, sondern immerzu synchron wird er aktiv, ist er ein immerfort aktiv werdender. Und er aktiviert das Denkbare zum Gedachten, zum Gedacht-Werdenden. Und diese gesamte Aktivierung aktiviert und berührt und denkt ihn selber. 

 

Damit ist die Triade von drei Verb-Genera nachformuliert und wenn ich ein besserer Zeichner wäre, könnte ich sie in irgendeiner Triangulierung geometrisch oder topologisch anschaulich machen. So begnüge ich mich halt damit, die aristotelische Formulierung ein bisschen auszuweiten, auszuspreizen, indem ich mich der Sprache der Grammatik bediene, die nicht unter der Würde des Philosophen, des philosophischen Lesers ist. 

 

Seine kürzeste Formulierung besteht in dem Kurz-Satz energei de echon (1072b 23): er wirkt aber habend, er agiert, indem er hat, er aktiviert als verfügender, sein Haben ist sein Wirken, sein Aktivieren, sein Realisieren, er tut gar nichts als haben und er hat nichts als sein Tun – das alles intransitiv und transitiv und reflexiv. In dem Kurz-Satz werden weder Subjekt noch Objekt genannt – hinzugedacht werden müssen sie aber schon – denn punktartig „einfach“ ist das Gesagte denn doch nicht. Wohl aber wird gesagt, dass Subjekt und Objekt eines sind. 

 

Das Verb oder vielmehr die nicht ganz synonymen Verben zwischen ihnen die bilden sozusagen das Dritte in dieser Konfiguration. Im Kurz-Satz sind es zwei Verben, von denen man kaum sagen kann, dass sie dasselbe bedeuten. Sie spannen einen semantischen Raum auf zwischen tun und haben, welcher Raum sozusagen wie eine Ziehharmonika enger und weiter zusammen und auseinander gezogen werden kann. 

 

Immerhin merkwürdig, dass dieser zeitwörtliche oder verbale Pol den totalen Ineinsfall der Konfiguration verhindert und damit überhaupt so etwas wie Konfiguration aufrechterhält.  

 

Lesen wir noch einen einzigen Satz und wir sehen, wie die Verben ihren Vorrang, ihren wörterpolitischen Vorrang, durchsetzen. Dabei geht es um die Durchsetzung eines Vorrangs innerhalb der Formulierung „des Prinzips“ – also der Vorrang-Durchsetzung. 

 

„Also ist der Besitz des Gedachten in höherem Maße göttlich als das, was der Denksinn als Göttliches zu beinhalten scheint.“ (1072b 23f.)

 

Neu ist hier das Adjektiv „göttlich“, das in diesem Buch nur einige Male schon vorgekommen ist und dann immer mit einer gewissen Selbstverständlichkeit eingeführt wird, als ob es bereits bekannt wäre, und irgendein Bekanntsein kann man dem Wort auch heute noch nachsagen, ja sogar ein Berühmtsein oder wie Robert Spaemann gemeint hat, ist „Gott ein unsterbliches Gerücht“. So etwas trifft vielleicht sogar für die „heutige Jugend“ in diesem Europa zu, die sich vom Religionsunterricht abmeldet. Vielleicht sogar für notorisch religonslose asiatische Länder (denen allerdings wiederum andere Länder gegenüberstehen). 

 

„Göttlich“ heißt hier so etwas wie „wichtig“, „großartig“, „herrlich“ und näherhin so beschaffen wie eine oder mehrere allerhöchsten Instanzen. 

 

Was aber sagt der Satz? Er sagt nur, dass die oben genannten Verben wichtiger sind als irgendein Objekt (oder Subjekt).

 

Und dann noch ein Zusatz: „Die Betrachtung ist das Angenehmste und Beste.“ (1072b 24)

 

Die vielen und irgendwie abstrakten Verben werden jetzt fürs Volk, das heißt für uns übersetzt in betrachten, schauen, sehen und zwar wirklich sehen, intensiv sehen, ohne Stress beim Sehen verweilen, erkennend sehen, denkend sehen, gern sehen, liebend sehen ...

 

Und das prädikative Adjektiv „göttlich“ wird jetzt eingedeutscht mit angenehm und gut, sehr angenehm und sehr gut und angenehmst und best. Im Griechischen steht für „angenehm“ – „hedonisch“ – und das setzt er für „göttlich“ ein, weil er zurecht annimmt, dass das ein Begriff ist, ein verständlicher und nicht bloß ein Hinweis auf irgendwas Hohes. 

 

Und nebenbei wird klar, dass Aristoteles kein Antihedoniker ist. Nur Arisoteles? 

 

Hier breche ich schon wieder ab, damit das Lesen schön langsam und holprig bleibt. 

 

 

 Walter Seitter

 




[1] Kristall, Labyrinth. Die zwei Seiten des Schlosses. Ein Beitrag zur Physik des Kaisers. In: W. Ernst und C. Vismann (Hg.): Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz (München 1998)

 

 

[2] Da ich – malgré tout - ein Augenmensch bin, beziehe ich das mit dem Lesen verbundene Sehen auch auf die „Figur“ des Aristoteles, von dem in Griechenland viele Statuen auf Plätzen stehen  so in Stagira oder in der Aristoteles-Universität in Thessaloniki, wo er so steif da steht wie es sich für einen „großen Klassiker“ gehört. Hingegen habe ich in der Stadt Thessaloniki unter schattenspendenden Bäumen eine relativ neue also junge Aristoteles-Skulptur gefunden, die bei vielen Thessalonichern unbekannt oder unbeliebt ist. Näheres dazu in meinem Aristoteles betrachten und besprechen op. cit.: 219ff. Über diese Skulptur würde ich jetzt zusätzlich sagen, was der Kunsthistoriker Frank Fehrenbach allgemeiner über bestimmte Bildwerke sagt, dass nämlich ein „Zittern“ hineingelegt ist, das eine Quasi-Lebendigkeit simuliert, die nicht ganz illusionär ist (was allerdings mit der modernen das heißt musealen Bilderpolitik nicht ganz kompatibel sein dürfte.) Siehe Frank Fehrenbach: „Quasi vivo“. Lebendigkeit in der italienischen Kunst der Frühen Neuzeit Berlin 2021)

Mittwoch, 19. Mai 2021

In der Metaphysik lesen. (1072b 14 – 21)

 


Der Weg, den der Text nun geht, indem er ihn sucht und findet, den Weg, wird immer steiler und als Leser muß man sich davor hüten, übermütig oder voreilig zu werden und mit der Aussicht auf irgendetwas Gipfelartiges (neulich bei atlantischem Sonnenschein bestieg ich den Georgenberg bei Mauer bei Wien und das Hybrid aus Bildhauerei und Baukunst machte kein Hehl daraus, dass es kein ordentlicher Gipfel ist) zu einem schnellen Endspurt anzusetzen, um gleich auf dem Höhepunkt zu sein. Stattdessen empfiehlt es sich, langsam weiterzugehen, nach nur kurzen Abschnitten Pausen einzulegen, um sich umzuschauen und sich zu vergewissern, auf welchem Boden, auf welchem Begriffsmaterial man gerade steht, zwischen welchen Abhängen und welchen Felswänden, wohin die Blicke reichen, die nach hinten und die nach vorn.

 

Die Abbildung zeigt etwas, wovon ich einige Sachschichten schon genannt habe. Es überlagern sich da aber auch mehrere Namen, die mit einigen Sachaspekten verbunden sind: Georgenberg, Dreifaltigkeitskirche, Wotruba-Kirche. Zwei der hier vorkommenden Namen gehören in die katholische Theologie oder Hagiographie; einer gehört in die Kunstgeschichte. Noch ein vierter Name ist da sehr präsent: Margarethe Ottilinger, die Mäzenin der Kirche, ist eine Figur der österreichischen Nachkriegsgeschichte. 

 

Für die Bergbesteigung, mit der ich das Lesen der Metaphysik, besonders des Buches XII, analogisiere, spielen jedoch Namen kaum eine Rolle. Da geht es vielmehr um spürbare Qualitäten des Gehens oder Nicht-Gehens, des So- oder Sogehens, des Sehens oder Nicht-Sehens, des So- oder Sosehens. Es geht um Gangarten und Verhaltensweisen beim Lesen. Und damit auch um Gelesenes und Verstandenes und Gemeintes. Für Aristoteles ist hier der wichtigste Name, der seinen Gang leitet und begleitet, derjenige Platons. 

Wenn wir den Satz lesen - „Von einem derartigen Prinzip aber hängt der Himmel ab und die Natur.“ (1072b 14) - dürfen wir daran denken, dass ungefähr 1500 Jahre nach Aristoteles seine Kosmologie in einer Erzählung von einer Weltdurchwanderung nachgebildet worden ist, in der ein solcher Satz fast gleichlautend wiederholt wird: „An diesem Punkte hängt der Himmel und die gesamte Natur.“ (Göttliche Komödie XXVIII).

Es wäre sehr erfreulich, wenn jemand das Lesen der berühmten aber kaum lesbaren Metaphysik mit dem Lesen der ebenso berühmten aber bei uns kaum gelesenen Dante-Dichtung parallelisieren würde, wozu ich mich aber nicht in der Lage sehe. Dante hatte Aristoteles gelesen und dessen Kosmologie bildet für ihn ein Grundgerüst. Die Welt, die er unter der Führung des Vergil sowie der Beatrice durchwandert, hatte durch die christliche Eschatologie eine tief- und hochgreifende Umgestaltung erfahren, die nach der Auffassung mancher Exegeten Elemente der Relativitätstheorie enthält. 

 

Ich selber habe vor, die Metaphysik-Lektüre mit einer poetischen Kosmologie des 20. Jahrhunderts zu ergänzen und zu relativieren – nämlich dem schon erwähnten Sonnenbuch von Francis Ponge.

Jetzt aber zurück zum Aristoteles-Text, der genau an dieser Stelle seinen Gang ganz hart wie es scheint bricht und seine Aussagerichtung ändert, indem er das genannte Prinzip nicht mehr dem gesamten Kosmos überordnet – diesen ihm unterordnend, sondern es wird direkt mit dem verglichen, was bei uns Menschen läuft, nämlich dass wir unser Leben so und so führen. Dem Prinzip also arche oder Anfang oder Herrschaft mit all den erhabenen Eigenschaften wird eine Lebensführung, Lebensweise, Verhaltensweise oder Befindlichkeit unterstellt – allein damit wird sie „uns“ Menschen strukturell schon sehr stark angenähert, was man zunächst gar nicht für möglich gehalten hätte. Das griechische Wort dafür lautet diagoge – das bedeutet eigentlich so etwas wie Führung und in einigen französischen und englischen Wörtern für Verhalten steckt ebenfalls das semantische Element „Führung“ drinnen. Das entspricht dem Diktum von Helmuth Plessner, dass der Mensch lebt, indem er „sein Leben führt“.[1] Eine Definition im Geiste der Philosophischen Anthropologie, die von Aristoteles hier vorweggenommen wird – entsprechend seiner Auffassung von Ethik. Aber dass dieser eher triviale Führungsbegriff hier zunächst dem ersten Bewegungsprinzip des gesamten Kosmos zugeschrieben wird, diesem also eine „Verhaltensweise“ im anthropologischen Sinn unterstellt wird, das widerspricht doch sehr einem monolithischen Klischee „des Stagiriten“. 

Genau genommen liegen die beiden sehr unterschiedlichen Begriffe von Lebensführung und Anfang-Prinzip-Herrschaft semantisch gar nicht so weit auseinander: gemeinsam ist ihnen die Wurzel Ursächlichkeit, Kraft, Durchsetzung. 

Gewiß wird dann gleich an der Lebensführung der große Unterschied zwischen jenem Prinzip und „uns“ Menschen festgeschrieben: denn bei ihm ist die Lebensweise immmerwährend im besten Zustand, bei uns ist das nur für kurze Zeit der Fall. Ob man die kurze Zeit mit einer gewissen Zahl von Jahren oder mit wenigen Momenten bemisst, die zeitliche Begrenztheit des Optimums macht einen großen Unterschied zu unseren Ungunsten, wenn die Lebenswirklichkeit aus Lust, Vergnügen, Freude besteht. So hedonistisch und emotional wird Lebensweise überhaupt charakterisiert – und an die ontologischen Bestimmungen der Verwirklichung und der Bewegung zurückgebunden.

Fundamentaler Hedonismus.

Als weitere Facetten der Lebensweise werden genannt das Wachsein, die Wahrnehmung, die Denktätigkeit. Diese zuletzt genannte Leistung also aufruhend auf sogenannten animalischen Fähigkeiten. Dazu noch Hoffnungen und Erinnerungen. Also lauter Aspekte des Seelenlebens, die doch eindeutig – jedenfalls hier – vom Menschlichen, um nicht zu sagen vom Allzumenschlichen aus jenem Prinzip zugesprochen werden (Hoffnung ist für die Griechen eine zweifelhafte Angelegenheit und Erinnerungen können verhängnisvoll sein). Von jemandem, der derlei nur in begrenztem Ausmaß – Aristoteles wird das vielleicht schon in mittelhohem Alter geschrieben haben – hat und kennt, wird es jemandem oder etwem zugeschrieben, der oder das oder die darüber in überreichem Ausmaß verfügen soll. Allerdings mit der Signatur der Zuschreibung vonseiten eines menschlichen Autors, den es erst seit ein paar Jahrzehnten gibt, der aber von Anfang an als Bester und Vollendeter benannt worden ist (vermutlich von seinen Eltern) und der immerhin seit ein paar Jahrzehnten auch schon durch Denk-, Sprech- und Schreibwerke hervorgetreten ist. Also von einem solchen wird jenem von ihm so benannten Prinzip die Überfülle an Denkleistung zugeschrieben, die seine Lebensführung auch aus der Intransitivität in die Transitivität überführt. Denn die Denktätigkeit bleibt nicht bei sich, sie geht auf ein Objekt, ein Denkbares. Aristoteles inkludiert hier die oben genannten Seelentätigkeiten Erstreben, Begehren, Wollen, Lieben, also die emotionalen oder emotiven, in die Denktätigkeit - das ergibt sich aus der substantivischen Bestimmung der Lust.

 

Daher geht das Denken auf das Beste. Dies aber ist das Denken, das lustvolle, selber. Indem das Denken Denkbares berührt und denkt, kriegt es es mit und kommt in seinen Genuß. Es denkt sich selber, hat sich selber, genießt sich selber. Seine Transitivität bleibt aufrecht, aber sie macht eine große Kurve und führt das Denken hin zum – Denken, Wachen, Wahrnehmen, Wollen. 

 

 

Reflexivität ja – aber nicht punktuelles Immanieren.

 

Walter Seitter

 




[1] Siehe dazu jetzt Plessner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung . Hg. von Joachim Fischer (Stuttgart 2021)

Mittwoch, 12. Mai 2021

In der Metaphysik lesen (1072b 1 – 13)

Die passiven Partizipien „gedacht“, „begehrt“, „erstrebt“ und so weiter bezeichnen Objekte von aktiven und transitiven Verben bzw. von bestimmten psychischen Tätigkeiten und sind daher gute Beispiele dafür, wie Aristoteles mithilfe grammatischer Strukturen Realitätsverhältnisse zur Darstellung bringt.

 

Dazu kann angemerkt werden, dass im Griechischen nicht nur Substantive (mitsamt Artikeln, Adjektiven, Partizipien) jeweils einem von drei Geschlechtern zugeteilt sind. Auch bei den Verben werden morphologisch und bedeutungsmäßig „Genera“ unterschieden – und zwar Aktiv, Medium und Passiv; beim Medium unterscheidet man zwischen reflexivem und dynamischem Medium, das sind Bedeutungsnuancen, die sich auch in der deutschen Sprache nachvollziehen lassen und auf die mich das Aristoteles-Lesen neulich auch schon gebracht hat. Die Schulgrammatik, auf die ich mich da stütze, unterscheidet in diesem Zusammenhang auch zwischen transitivem und intransitivem Gebrauch von Verben – was dann auch zu den Grammatik-Begriffen „Subjekt“ und „Objekt“ weiterführt.[1]

 

Bleibt die Frage, ob die Rede von „Genera“ bei Verben eher Gattungen meint oder Geschlechter. Ich vermute eher so etwas wie Geschlechter im Sinne von Verhaltensvarianten. Michel Foucault hat einen Grundzug der antiken Ethiken darin gesehen, dass sie die Aufrechterhaltung von Aktivität und Souveränität jedes einzelnen als Ideal betrachtet haben, als eine Leistung, die vor allem den Männern aber nicht nur ihnen zuzumuten sei. Der Mut wurde ja als Mannesmut bezeichnet – aber wer sich durch ihn ausgezeichnet hat, galt als Freier – im Gegensatz zum Sklaven. Die Genera der Verben differenzieren abstrakte Verhaltensformen – aber nicht sexuelle Eigenschaften.[2]

 

Mit dem „worumwillen“ stoßen wir wiederum auf einen sehr unnormalen Begriff, der nicht einmal von einer üblichen Wörtersorte aus gebildet ist, sondern eine Komposition aus Präposition und Relativpronomen darstellt, also selber bereits „syntaktisch“ gebildet ist. 

Die Semantik des Begriffs zeichnet sich nun dadurch aus, dass sie keine Ebene bildet, auf der sich eine Bedeutung ausbreitet; sie gleicht vielmehr einem ein bisschen bergigen Stein, der den Tritt, den man auf ihn setzt, automatisch in zwei Richtungen abgleiten lässt, und diese beiden Richtungen werden von Aristoteles ihrerseits wieder syntaktisch charakterisiert, so nämlich dass dieser Begriff, der dann doch wie ein Substantiv dasteht, wie ein Verb zweierlei Kasus- oder Fallrichtungen und damit zweierlei Objekttypen „regiert“ – einen dativischen und einen genitivischen. Im Deutschen sagt man das mit den Präpositionen „für“ und „von“ – Worumwillen für etwas oder von etwas. Und an diese beiden sozusagen Handlungsrichtungen (oder Diathesen) knüpft Aristoteles den Unterschied, den er bereits besprochen hat: den kinesiologischen Unterschied zwischen einem Worumwillen für etwas, das (nämlich das Worumwillen) bewegt und selber in Bewegung ist, und einem Worumwillen von etwas, das bewegt und selber unbewegt bleibt:

„Es bewegt wie ein erotisch Geliebtes – die anderen bewegen als selber in Bewegung befindliche.“ (1072b 3)

Nicht in eine Fußnote verbannen will ich die Bemerkung, dass die dynamische Amivalenz dieses „Worumwillen“ (zusammen mit dieser besten Übersetzung) im schon öfter genannten von Otfried Höffe herausgegebenen Aristoteles-Lexikon von Friedo Ricken auf hervorragende Weise anhand von fünf Textstellen aus verschiedenen Büchern dargelegt wird (siehe op. cit.: 268ff.). 

Das unbewegte Worumwillen wird von Aristoteles hier nicht genauer identifiziert, auch nicht lokalisiert, weder im Endlichen noch im Unendlichen. Es wird nur, wenngleich mit einem „gleichsam“ relativiert, als Objekt in einem freudolacanischen Sinn, als Liebesobjekt, charakterisiert. 

 

Wenn ich die Namen Aristoteles, Freud, Lacan derart zusammen-schreibe, dann liegt die Begründung dafür in den sprachlichen und sachlichen Korrespondenzen, die näher aufgewiesen  werden müssten, aber sie bilden die entscheidende Begründung. Darüber hinaus ließen sich auch ihre persönlichen oder literarischen Kontakte präzisieren, wobei da die Person Platon auch noch dazugenommen werden muß. Denn einige der hiesigen aristotelischen Hauptbegriffe, der Eros und das Schöne, sind platonisches Erbe – aber hier eingebaut in die aristotelische Kinesiologie. 

 

Von Freud ist bekannt, dass er zum einen in guter jahrhundertealter speziell österreichischer Tradition der Philosophie gegenüber eher Geringschätzung um nicht zu sagen Verachtung kundgetan hat, welche Einstellung er auch noch entgegen seinem intellektuell gebotenen Interesse für manche Philosophen deklariert hat, wohl um die Größe seiner eigenen (und unbestreitbaren theoretischen Erfindung) in vollem Glanz erstrahlen zu lassen. Wobei ihn dann der poetische Platon mehr angezogen hat als der nüchterne Aristoteles (obwohl er als Student in der Vorlesung des Aristoteles- und Ontologie-Spezialisten Franz Brentano gesessen war). Ganz anders Lacan, der zwar Freud nur lesend gesehen hat aber zweifellos gesehen hat und der neben den neuesten Philosophen, die er persönlich gekannt und geschätzt hat, auch neuere wie Hegel studiert und ältere wie Platon und Aristoteles sehr wohl gekannt hat. Er ist also in dieser ad hoc-Gesellschaft die zentrale Kontaktinstanz und sein vom Begehren aus formulierter Doppel-oder Dreifach-Begriff „Objekt/Ursache des Begehrens“ figuriert als Spiegelung gegenüber dem aristotelischen Neologismus „worumwillen“, der im Deutschen noch deutlicher klingt, wenn man das Deutsche sprechen lässt. Die Sprachen sind nämlich dazu da, dass sie einander stützen und stärken (dazu bedarf es aber Sprachfähiger). 

 

Die zwei Sinnrichtungen des Worumwillen werden nun von Aristoteles für das größtmögliche, für das Format des gesamten Kosmos erläutert. Auf der Seite der beweglichen Dinge, wo grundsätzlich verschiedene Verhalten möglich sind, steht die erste Ortsbewegung als dasjenige, was von der unbewegten Ursache zuerst angestoßen wird und was auch den Bereich der ersten Veränderungen ausmacht. Dieser Bereich ist durch Kreisbewegung gekennzeichnet; und er wird erster oder äußerster Himmel genannt; es handelt sich dabei um die Sphäre der Fixsterne. In seiner früheren Schrift Über den Himmel hat Aristoteles sie als kugelförmigen göttlichen Körper mit ewigem Leben bezeichnet – sie war das Einzige, dem Göttlichkeit in striktem Sinn zugeschrieben worden ist. 

 

Im Moment jedoch hält sich Aristoteles mit einer solchen Qualifizierung, die wohl ohnehin nur eine Benennung sein könnte, zurück. Und er tut das auch gegenüber dem Unbewegten, das diese Sphäre in Bewegung versetzt hat und versetzt. Von dem sagt er, dass es wirklich existiert und sich nicht anders verhalten kann als so wie es sich verhält. Und wie verhält es sich? Es existiert mit Notwendigkeit, auf schöne, das heißt auf richtige und gute Weise und so auch als Prinzip, nämlich bewegungsauslösendes. 

 

Das ist ein ziemlich kurzer Katalog von Eigenschaften, die zwar irgendwie ins Extreme oder sagen wir ins Superlativische gehen, aber schlicht unverständlich sind sie nicht. Sie gehören der Ebene des Deskriptiven an – mit Ausnahme des „schön“, das adverbial eingesetzt wird. Seine Bewegungsleistung hängt damit zusammen, dass es von denen, die von ihm bewegt werden, geliebt wird, gleichsam geliebt. Das heißt diese Entitäten, zuvörderst sind es die Fixsterne, werden von ihm bewegt, indem sie es „gleichsam“ lieben. Ihnen wird gleichsam Liebestätigkeit zugeschrieben, Lebendigkeit ohnehin. 

 

Das sieht natürlich nach Animismus auf höchster Ebene aus; zunächst einmal auf zweithöchster Ebene. Was zwar als Wirkungszusammenhang uns nicht ganz unverständlich erscheint, aber als reales Geschehen in den Fernen des Universums für uns kaum Plausibilität gewinnt. 

 

Walter Seitter




[1] Curtius-Hartel-Gaar: Griechische Schulgrammatik (Wien 1954): 127ff. 

[2] Siehe Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit 2: Der Gebrauch der Lüste (Frankfurt 1986): 104ff.

Mittwoch, 5. Mai 2021

In der Metaphysik lesen

Auf der Suche nach der (oder den) allerersten Ursache(n) und zwar Bewegursache(n) (die nur eine unter vier Ursachensorten ausmachen), unterscheidet Aristoteles drei Potenzen von Ursachen; die dritte, die ihn hier am meisten interessiert, ist eine solche Ursache, die etwas anderes bewegt, selber aber unbewegt bleibt. Auch hier verbleibt sein Vokabular zunächst im Bereich der Motorik, also der Physik, erhebt sich aber sofort in eine Dimension der Ontologie, indem sie zwei Hauptbestimmungen derselben, nämlich Wesen und Verwirklichung, in so einer Ursache koinzidieren lässt und ihr obendrein noch eine erhabene Qualität, nämlich „ewig“ (nicht bloß unaufhörlich) zuspricht. Jetzt könnte der Leser, vor allem derjenige, der schon weiß, welche Stufe der Text zwei Seiten weiter erklimmen wird, meinen, dass Aristoteles hiermit etwas „Metaphysisches“ im Sinn der gebildeten Umgangssprache andeutet. 

Und es könnte sein, dass er damit gar nicht unrecht hat, denn er ist ja ein fleißiger und verständiger Aristoteles-Leser. Aber die nächsten vier Sätze, welche das Gesagte erläutern nämlich lebensweltlich verständlich machen, führen Sachverhalte vor, die jedem bekannt sind und gemeinhin als Thema der Psychologie gelten. 

„In dieser Weise aber bewegt das Begehrte und das Gedachte; es bewegt, wiewohl es nicht bewegt wird. Von diesen ist das Erste identisch. Denn das, was begehrt wird, ist das schön Scheinende, das aber was zuerst gewollt wird, ist das schön Seiende. Wir begehren aber etwas viel mehr, weil es schön erscheint, als dass es schön erscheint, weil wir es begehren.“ (1072a 26ff.)

 

Die Sachen, die hier neu, jedenfalls in diesem Buch zum ersten Mal, eingeführt werden, werden explizit als Objekte eingeführt. Nicht etwa mit diesem Begriff, den es im Griechischen vielleicht so nicht gibt, sondern als bestimmte Verbmodalitäten, nämlich passive Perfektpartizipien (oder entsprechende Verbaladjektive). Objekte sind sie, weil sie von aktiven transitiven Tätigkeiten als Objekte „behandelt“ werden. Die Tätigkeiten, die sich auf die Objekte richten, werden hier in zwei Gruppen geteilt, die ich als „kognitive“ und als „volitive“ bezeichne. Da diese psychischen Vollzüge viele andere, zum Beispiel physische programmieren (Programmieren ist eine typisch psychische Leistung) sind deren Objekte auch Objekte in einem viel weiteren Sinn – etwa berührte oder angegriffene oder geschlagene oder gekaufte oder verzehrte Objekte. Im Großen und Ganzen sind es passive Objekte – das passive Genus ist an der Form der Partizipien erkennbar. Natürlich geht diesem Passiv ein Aktiv der transitiven Verben voraus. Die modernen Begriffe „Subjekt“ und „Objekt“ sind im Griechischen kaum ausgebildet. Hingegen spielen Partizipien eine tragende Rolle für die grammatischen Strukturen. Die berühmteste Partizipialform ist ja das „Seiende“ – ein aktives Partizip, das innerhalb der deutschen Sprache eher plump wirkt (vor allem mit der aristotelischen als-Wiederholung). 

Doch dieses als passiv aufzufassende psychische Objekt hat nun das besondere, dass Aristoteles ihm eine aktive Ursachenrolle zuspricht. Die begehrten und erkannten Sachen „bewegen“ den jeweils begehrenden und erkennenden Menschen zu irgendwelchen Verhalten gegenüber den Sachen. Die passiven Objekte sind – merkwürdiger Umschlag! - aktive Ursachen. Das alles spielt sich zunächst „nur“ psychisch ab (aber was heißt „nur“?). Dieser Umschlag vom Physischen zum Psychischen, vom Motorischen zum Motivatorischen – das ist die hier in wenigen Sätzen versteckte Wende in dieser sogenannten Metaphysik

 

Ich habe sie mit den Objektlehren bei Freud und bei Lacan assoziiert. Diese beiden haben die Psychoanalyse „natürlich“ innerhalb der Psychologie angesiedelt – aber Lacan wehrt sich dagegen und behauptet, die Psychoanalyse sei keine Psychologie. Wie dem auch sei, Lacan ist es, der die Koinzidenz von „Objekt“ und „Ursache“ – des Begehrens – ausdrücklich behauptet hat (höchstwahrscheinlich nicht in Unkenntnis von Aristoteles, denn Aristoteles nicht kennen, das gehörte gerade nicht zu den vielen Spezialitäten Lacans (während sich eine derartige Unkenntnis bei den heutigen Psychoanalytikern als Selbstverständlichkeit eingebürgert hat)[1]

 

Es gibt noch einen spezielleren Grund für die Assoziierung mit Freud und Lacan. Und der liegt darin, dass Aristoteles für seine „Psychologisierung“ des Ursachen-Begriffs zwei Seelentätigkeiten namhaft macht – das Begehren und das Denken, womit er die bei den Griechen und dann im ganzen Abendland übliche Präferenz für Vernunft und Denken in Frage stellt. Diese Präferenz ist erst bei Kant leise erschüttert worden, dessen philosophische Revolution in der Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft und im Primat für diese gipfelt. Die bei seinen Nachfolgern Fichte, Schopenhauer, Nietzsche weitergetriebene Priorisierung des Willens hat dann auch in der Psychoanalyse Wirkungen gezeigt.

Mein Übersetzer Franz F. Schwarz verweist im jetzt gelesenen Abschnitt auf eine längere Passage in der „Psychologie“ des Aristoteles, die bekanntlich auch die Seelen der Pflanzen und der Tiere berücksichtigt. In der menschlichen Seele unterscheidet Aristoteles einen vorstellenden und einen strebenden Teil. Und von der „theoretischen Vernunft“ sagt er ausdrücklich, dass sie nicht ausreicht, denn sie „erkennt nichts, was sich aufs Handeln bezieht, und sagt nichts aus über Zu-Meidendes und Zu-Erstrebendes“. (De an. 432b 29f.) „Worauf sich das Streben richtet, dies ist Prinzip der praktischen Vernunft. Der Endpunkt (des praktischen Denkens) ist der Anfang der Handlung. Daher erscheinen diese beiden mit gutem Grund die bewegenden Vermögen zu sein, Streben und praktisches Denken; denn das erstrebte Objekt bewegt und deshalb bewegt auch das Denken, weil sein Prinzip das erstrebte Objekt ist.“ (433a 20ff.) 

Damit wird der oben dekretierte Primat der Objekte, und zwar aller möglichen Objekte, aller möglichen Sachverhalte, die schön sind oder auch nur so erscheinen, relativiert. Dieser Primat scheint ja die Menschen einer unbestreitbaren Übermacht kosmischer und historischer Verhältnisse auszuliefern (was man zur Not auch masochistisch genießen kann). Manche antiken Denker sahen daraus keinen Ausweg – außer eben einem mehr oder weniger verzweifelten heroischen Widerstand. Aristoteles relativiert die Übermacht der Objekte mit ihrer Zurückführung auf die Strebungen und Verständnisse, die man so oder so modulieren kann bzw. soll, sodaß man nicht nur das, was schön, richtig und gut ist, von dem unterscheidet, was nur so erscheint, sondern auch zwischen dem einen und dem anderen Schönen. Womit die Ebene der praktischen Vernunft, also der Ethik betreten wird. Beispiel: welches erotische Lieben kann ich mir zumuten, um das Engagement und die Abhängigkeit, die damit verbundenen sind, tragen zu können? 

 

Der Einbau der Ethik in die Ontologie führt zu dem pragmatisch klingenden Grundsatz: Je nach dem, was man präferiert, wird man von dem oder dem motiviert. Oder noch kinetischer gesagt: je nach dem, was man vorzieht, wird man von dem oder dem angezogen. Für seelische Wesen scheint die Reziprozität der Verursachungen typisch zu sein. Eine Art von Gezerre zwischen den beiden oder mehreren Seiten – welche von ihnen jeweils initiativ und ausschlaggebend ist: Zufall oder Mut oder ?

 

Könnte man die so verstandene aristotelische Ursachen- und Bewegungslehre als „Kinesiologie“ bezeichnen?

 

Walter Seitter

 




[1] Ich erinnere an die Fulminanz, mit der Lacan die aristotelische Metaphysik als „Büchel“ verhöhnt – um für ein neues Verständnis Platz zu schaffen. Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 43.