τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 5. Mai 2021

In der Metaphysik lesen

Auf der Suche nach der (oder den) allerersten Ursache(n) und zwar Bewegursache(n) (die nur eine unter vier Ursachensorten ausmachen), unterscheidet Aristoteles drei Potenzen von Ursachen; die dritte, die ihn hier am meisten interessiert, ist eine solche Ursache, die etwas anderes bewegt, selber aber unbewegt bleibt. Auch hier verbleibt sein Vokabular zunächst im Bereich der Motorik, also der Physik, erhebt sich aber sofort in eine Dimension der Ontologie, indem sie zwei Hauptbestimmungen derselben, nämlich Wesen und Verwirklichung, in so einer Ursache koinzidieren lässt und ihr obendrein noch eine erhabene Qualität, nämlich „ewig“ (nicht bloß unaufhörlich) zuspricht. Jetzt könnte der Leser, vor allem derjenige, der schon weiß, welche Stufe der Text zwei Seiten weiter erklimmen wird, meinen, dass Aristoteles hiermit etwas „Metaphysisches“ im Sinn der gebildeten Umgangssprache andeutet. 

Und es könnte sein, dass er damit gar nicht unrecht hat, denn er ist ja ein fleißiger und verständiger Aristoteles-Leser. Aber die nächsten vier Sätze, welche das Gesagte erläutern nämlich lebensweltlich verständlich machen, führen Sachverhalte vor, die jedem bekannt sind und gemeinhin als Thema der Psychologie gelten. 

„In dieser Weise aber bewegt das Begehrte und das Gedachte; es bewegt, wiewohl es nicht bewegt wird. Von diesen ist das Erste identisch. Denn das, was begehrt wird, ist das schön Scheinende, das aber was zuerst gewollt wird, ist das schön Seiende. Wir begehren aber etwas viel mehr, weil es schön erscheint, als dass es schön erscheint, weil wir es begehren.“ (1072a 26ff.)

 

Die Sachen, die hier neu, jedenfalls in diesem Buch zum ersten Mal, eingeführt werden, werden explizit als Objekte eingeführt. Nicht etwa mit diesem Begriff, den es im Griechischen vielleicht so nicht gibt, sondern als bestimmte Verbmodalitäten, nämlich passive Perfektpartizipien (oder entsprechende Verbaladjektive). Objekte sind sie, weil sie von aktiven transitiven Tätigkeiten als Objekte „behandelt“ werden. Die Tätigkeiten, die sich auf die Objekte richten, werden hier in zwei Gruppen geteilt, die ich als „kognitive“ und als „volitive“ bezeichne. Da diese psychischen Vollzüge viele andere, zum Beispiel physische programmieren (Programmieren ist eine typisch psychische Leistung) sind deren Objekte auch Objekte in einem viel weiteren Sinn – etwa berührte oder angegriffene oder geschlagene oder gekaufte oder verzehrte Objekte. Im Großen und Ganzen sind es passive Objekte – das passive Genus ist an der Form der Partizipien erkennbar. Natürlich geht diesem Passiv ein Aktiv der transitiven Verben voraus. Die modernen Begriffe „Subjekt“ und „Objekt“ sind im Griechischen kaum ausgebildet. Hingegen spielen Partizipien eine tragende Rolle für die grammatischen Strukturen. Die berühmteste Partizipialform ist ja das „Seiende“ – ein aktives Partizip, das innerhalb der deutschen Sprache eher plump wirkt (vor allem mit der aristotelischen als-Wiederholung). 

Doch dieses als passiv aufzufassende psychische Objekt hat nun das besondere, dass Aristoteles ihm eine aktive Ursachenrolle zuspricht. Die begehrten und erkannten Sachen „bewegen“ den jeweils begehrenden und erkennenden Menschen zu irgendwelchen Verhalten gegenüber den Sachen. Die passiven Objekte sind – merkwürdiger Umschlag! - aktive Ursachen. Das alles spielt sich zunächst „nur“ psychisch ab (aber was heißt „nur“?). Dieser Umschlag vom Physischen zum Psychischen, vom Motorischen zum Motivatorischen – das ist die hier in wenigen Sätzen versteckte Wende in dieser sogenannten Metaphysik

 

Ich habe sie mit den Objektlehren bei Freud und bei Lacan assoziiert. Diese beiden haben die Psychoanalyse „natürlich“ innerhalb der Psychologie angesiedelt – aber Lacan wehrt sich dagegen und behauptet, die Psychoanalyse sei keine Psychologie. Wie dem auch sei, Lacan ist es, der die Koinzidenz von „Objekt“ und „Ursache“ – des Begehrens – ausdrücklich behauptet hat (höchstwahrscheinlich nicht in Unkenntnis von Aristoteles, denn Aristoteles nicht kennen, das gehörte gerade nicht zu den vielen Spezialitäten Lacans (während sich eine derartige Unkenntnis bei den heutigen Psychoanalytikern als Selbstverständlichkeit eingebürgert hat)[1]

 

Es gibt noch einen spezielleren Grund für die Assoziierung mit Freud und Lacan. Und der liegt darin, dass Aristoteles für seine „Psychologisierung“ des Ursachen-Begriffs zwei Seelentätigkeiten namhaft macht – das Begehren und das Denken, womit er die bei den Griechen und dann im ganzen Abendland übliche Präferenz für Vernunft und Denken in Frage stellt. Diese Präferenz ist erst bei Kant leise erschüttert worden, dessen philosophische Revolution in der Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft und im Primat für diese gipfelt. Die bei seinen Nachfolgern Fichte, Schopenhauer, Nietzsche weitergetriebene Priorisierung des Willens hat dann auch in der Psychoanalyse Wirkungen gezeigt.

Mein Übersetzer Franz F. Schwarz verweist im jetzt gelesenen Abschnitt auf eine längere Passage in der „Psychologie“ des Aristoteles, die bekanntlich auch die Seelen der Pflanzen und der Tiere berücksichtigt. In der menschlichen Seele unterscheidet Aristoteles einen vorstellenden und einen strebenden Teil. Und von der „theoretischen Vernunft“ sagt er ausdrücklich, dass sie nicht ausreicht, denn sie „erkennt nichts, was sich aufs Handeln bezieht, und sagt nichts aus über Zu-Meidendes und Zu-Erstrebendes“. (De an. 432b 29f.) „Worauf sich das Streben richtet, dies ist Prinzip der praktischen Vernunft. Der Endpunkt (des praktischen Denkens) ist der Anfang der Handlung. Daher erscheinen diese beiden mit gutem Grund die bewegenden Vermögen zu sein, Streben und praktisches Denken; denn das erstrebte Objekt bewegt und deshalb bewegt auch das Denken, weil sein Prinzip das erstrebte Objekt ist.“ (433a 20ff.) 

Damit wird der oben dekretierte Primat der Objekte, und zwar aller möglichen Objekte, aller möglichen Sachverhalte, die schön sind oder auch nur so erscheinen, relativiert. Dieser Primat scheint ja die Menschen einer unbestreitbaren Übermacht kosmischer und historischer Verhältnisse auszuliefern (was man zur Not auch masochistisch genießen kann). Manche antiken Denker sahen daraus keinen Ausweg – außer eben einem mehr oder weniger verzweifelten heroischen Widerstand. Aristoteles relativiert die Übermacht der Objekte mit ihrer Zurückführung auf die Strebungen und Verständnisse, die man so oder so modulieren kann bzw. soll, sodaß man nicht nur das, was schön, richtig und gut ist, von dem unterscheidet, was nur so erscheint, sondern auch zwischen dem einen und dem anderen Schönen. Womit die Ebene der praktischen Vernunft, also der Ethik betreten wird. Beispiel: welches erotische Lieben kann ich mir zumuten, um das Engagement und die Abhängigkeit, die damit verbundenen sind, tragen zu können? 

 

Der Einbau der Ethik in die Ontologie führt zu dem pragmatisch klingenden Grundsatz: Je nach dem, was man präferiert, wird man von dem oder dem motiviert. Oder noch kinetischer gesagt: je nach dem, was man vorzieht, wird man von dem oder dem angezogen. Für seelische Wesen scheint die Reziprozität der Verursachungen typisch zu sein. Eine Art von Gezerre zwischen den beiden oder mehreren Seiten – welche von ihnen jeweils initiativ und ausschlaggebend ist: Zufall oder Mut oder ?

 

Könnte man die so verstandene aristotelische Ursachen- und Bewegungslehre als „Kinesiologie“ bezeichnen?

 

Walter Seitter

 




[1] Ich erinnere an die Fulminanz, mit der Lacan die aristotelische Metaphysik als „Büchel“ verhöhnt – um für ein neues Verständnis Platz zu schaffen. Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 43. 

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