τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 28. April 2021

In der Metaphysik lesen (1072a 30 – 1072b 1)

 Auf der Suche nach ersten Bewegursachen und zwar Bewegursachen für alle Dinge zieht Aristoteles nun solche Ursachen in Betracht, die ewig sind, selber unbewegt sind und gleichermaßen als Wesen und Verwirklichung anderes in Bewegung setzen. Das sieht nach einem anspruchsvollen Konzept aus und ist es wohl auch, aber erläutert wird es mit dem Hinweis auf eher triviale Objekte und zwar Objekte im präzisen Sinn des Wortes: Objekte unseres Wünschens und Denkens. Mit „wünschen“ und „denken“ werden zwei Modalitäten psychischer Tätigkeit bezeichnet, zwei Felder des Psychischen, von denen das erste, das optative Feld, bisher nur wenig genannt worden ist, während das zweite, das kognitive Feld, öfter thematisiert worden ist, etwa auch mit den Begriffen Wissenschaft und Wahrnehmung. Die beiden Tätigkeitsarten werden hier zwar unterschieden aber als zusammengehörig geführt – wie das ja auch schon im allerersten Satz der Metaphysik geschieht: „Alle Menschen streben nach Wissen.“ Hier im Buch XII wird das optative Feld mit drei Verben bezeichnet aber auch gegliedert: erstreben, begehren, wollen. Das kognitive Feld mit einem Verb, nämlich „denken“, das allerdings auch so etwas wie erkennen, dafürhalten, verstehen heißt. Die Objekte dieser Tätigkeiten werden nicht einzeln genannt, sondern pauschal als „schön“ bezeichnet und damit auch als „richtig“ oder „gut“ – womit sie dem optativen Feld angeschlossen werden, aber aus dem kognitiven nicht ausgeschlossen. Ich selber habe auf der Objektseite beispielshalber die Staatsoper mit ihren ästhetischen Leistungen genannt, aber auch einen Spar-Supermarkt in meiner Nähe, der mit seinen dort aufgestellten Nahrungsmitteln mich zu sich hin (Heidegger würde weniger reflexiv sagen zu ihm hin) in Bewegung setzt – und zwar nicht physisch-motorisch, sondern psychisch motivatorisch (die physische Motorik muß ich dann selber irgendwie, vielleicht organisch (aber auch anorganisch) organisieren). 

Der aristotelische Objektbegriff, der mit Partizipien wie „erstrebt“, „begehrt“, „gewollt“ sowie „gedacht“, „erscheinend“, „seiend“ gekennzeichnet wird, hat in der neueren Theoriegeschichte ein Pendant bei Sigmund Freud mit dem Liebesobjekt und vielerlei Differenzierungen und dann bei Jacques Lacan, der das Objekt des Begehrens anatomisch und formalistisch noch weiter differenziert hat und ausdrücklich auch als Ursache funktionalisiert hat. Diese beiden in Wien vielleicht wohlbekannten Objektlehren liegen genau auf derselben – naturgemäß psychologischen – Ebene wie die hier in der letzten Etappe vor dem theologischen Momentum skizzierte Lehre von gewissen Objekten als Bewegursachen. Die Komplexität dieser Theorien zeigt sich bei Lacan in seiner Aufspaltung des volitiven Feldes zwischen Bedürfnis, Begehren und Anspruch, zu denen der Wille und die Liebe dann noch dazukommen, ebenso wie in seiner Zerklüftung des kognitiven Feldes in Imaginäres, Symbolisches und Reales (plus Phantasma und Illusion). Übrigens nennt Aristoteles auch das Geliebtsein, und zwar das erotische, als ein Attribut, welches Dinge ursächlich bewegend macht (siehe 1072b 4)

Die zusammen mit Karl Bruckschwaiger angestellten Vergleiche zwischen ursachentheoretischen Aussagen bei Aristoteles und objekttheoretischen Aussagen bei Freud und Lacan habe ich wie oben ersichtlich gestern Abend ins Protokoll, in diesem Fall in den Computer geschrieben. Erstens irgendwie aus Pflichtgefühl (das wäre dann eine subjektive Ursache) zweitens oder vielmehr noch höhergradig erstens, weil sie mir „interessant“ erscheinen also „schön“ im aristotelischen Sinn: sie sind interessante Objekte, die zu Ursachen werden, indem sie mich bewegen, sie hervorzubringen und ein bißchen auf Dauer zu stellen. Diese objekthaften Ursachen bewegen mich, mich meinerseits zu aktivieren und subjekthaft ursächlich, urheberisch zu werden. 

 

Am späten Abend hat dann ein anderes Objekt sein bereits bestehendes Bekannt- und Gewünschtsein erneuert und hat mich dazu bewegt (oder bewogen?) im Internet mir unbekannte Porträts aufzusuchen. Dieses Objekt ist die amerikanische Artistin Tanner Mayes und das Porträt, das ich gefunden habe, wird im Begleittext mit „Tanner Mayes sich an ihrem Halskettchen festhaltend“ beschrieben und so sieht es aus: 

 

 


 

Es erscheint mir schön und damit erfüllt es die Bedingung, die Aristoteles für die dritte Potenz von Bewegursachen aufstellt. Und den freudschen und lacanschen Kriterien für Objekthaftigkeit entspricht es auch - zumindest denen für sekundäre oder bildhafte Objekthaftigkeit. Wie man sieht, hat es mich dazu bewegt, es in dieses Aristoteles-Protokoll aufzunehmen und das ist wohl doch eine ziemlich gewaltige jedenfalls unübliche Transferleistung – unüblich für ein Aristoteles-Protokoll und unüblich vielleicht auch für diese Amerikanerin, die normalerweise in anderen Milieus beheimatet ist. 

 

Ich kehre zum Text zurück, der zuletzt seine Sprunghaftigkeit beträchtlich gesteigert hat. Er meint, die dominante Ursächlichkeit liege so, dass wir etwas begehren, weil es schön erscheint – und nicht umgekehrt. (1072a 29). Also Vorrang des Objekts – aber des Objekts mit dem kognitiven Charakter des Erscheinens, welcher bei den Griechen in hohem Ansehen stand (eine genau passende und daher sehr erlaubte Tautologie) aber auch bei den Griechen und vor allem bei den platonisch induzierten nicht ganz vom Verdacht frei war, weniger Sein mitzuteilen als es – das Erscheinen – eigentlich enthält (immerhin enthält das Wort „erscheinen“ alle Elemente des Wortes „sein“). 

 

Daraufhin im apodiktischen Ton: „Denn Prinzip ist die Intelligierung. Die Intelligenz aber wird vom Intelligiblen bewegt, intelligiert wird jedoch die jeweils andere Zusammenreihung, in der das Wesen Erstes ist und davon das einfache und das verwirklichte Wesen (das Eine und das Einfache sind nicht dasselbe, das Eine bezeichnet ein Maß, das Einfache hingegen ein bestimmtes Verhalten.) Doch auch das Schöne und das um seiner selbst willen Erwählte gehören in dieselbe Zusammenreihung. Das Erste ist immer das Beste oder dem Besten analog.“. 1072a 31ff.)

 

Jetzt habe statt mit Denken mit Intelligieren übersetzt, um in den verschiedenen (grammatischen) Wortformen denselben Wortstamm durchhalten zu können, der das kognitive Feld bestimmt – ich hätte auch Erkenntnis oder Kognition einsetzen können. Auch die verschiedenen Ontologie-Dimensionen kommen wieder zum Zug. Sensationell, dass das „Einfache“ ins Zeitwörtliche sozusagen verflüssigt wird, und zwar zu einem Verb, das bei Aristoteles eher selten auftaucht – nämlich zur intransitiven Bedeutung von echein (transitiv: haben, halten) – intransitiv: sich verhalten, sich so oder so verhalten, wobei diesem Verb auch reflexive und adressative Bedeutungen anhängen: sich zu etwas verhalten.[1]

 

Fortsetzung des Textes mit einem Begriff, der gar nicht so aussieht wie ein Begriff. Gegenüber dem Synonym „Zweck“ hat „worumwillen“ die Besonderheit, dass es das eigentlich Erstrebte weniger als letztes Ziel sondern mit einem komplizierenden Präpositionalausdruck als sozusagen Intimes, als Herzensanliegen formulieren hilft. Handlungsweisen, deren Intensität und Engagement über die transitiven und sogar über die adressativen hinausgeht – ich schlage vor, sie die „komplikstiven“ zu nennen. Das eben von Aristoteles ins Spiel gebrachte intransitive echein kann den Rahmen für alle diese Handlungsrichtungen bilden. 

 

Bevor ich auf die Unterscheidung eingehe, die Aristoteles dem Ausdruck worumwillen anhängt, stelle ich fest, mit allen jetzt eingesetzten Begriffen für volitive, motivierende, heute sagt man dynamische Verhalten, die strikt „theoretische“ Linie eigentlich schon verlassen wird – und zumindest eine Kurve, wenn schon nicht der Bruch zur „praktischen“ Problematik hin initiiert wird (im aristotelischen wie im kantischen Sinn). 

Damit rührt dieser Text an die Frage, die, wie mir Gerhard Weinberger mitteilt, Emmanuel Levinas zum Problem erhoben hat, indem er die Ethik zur „Ersten Philosophie“ erklärt – während bei Aristoteles der Titel „Erste Philosophie“ über einem ungeklärten Nebeneinander oder Ineinander zwischen einer kaum titulierten Ontologie und einer nur sehr kleinen Theologie steht, die beide einen rein theoretischen Charakter tragen sollen, obwohl der nicht konsequent durchgehalten wird.

 

Walter Seitter

 




[1] In den Menschenfassungen (op. cit.) habe ich das „sich zu etwas verhalten“ als basales Verb zur Bestimmung des „Politischen“ vorgeschlagen.

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