τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 21. April 2021

In der Metaphysik lesen (1072a 19 – 29)

 Nicht zum allerersten Mal aber in einer sehr intensiven Weise ist im Abschnitt 6 das Verb energein zum Einsatz gekommen – nachdem kurz zuvor das gesuchte erste Prinzip damit definiert worden war, dass sein Wesen als energeia – Wirklichkeit, Verwirklichung – bestimmt wurde. Das Substantiv energeia wird durch das Verb energein verlängert oder verflüssigt – erster Aspekt. Zweiter Aspekt: diesem Verb – wirken, tätigsein – wird eine Differenzierung zugesprochen, die auch auf viele andere Verben zutrifft: dass es nämlich entweder einen Selbstbezug oder einen Fremdbezug ausdrückt. Dieser ziemlich banalen Differenzierung wird aber gleich eine dritte Möglichkeit hinzugefügt, die als Bezug auf ein Erstes bezeichnet wird – was schon weniger banal und eher spekulativ klingt. 

Es handelt sich um eine Unterscheidung von Richtungen, Bewegungsrichtungen, die man der Kinetik oder Topik zuordnen kann. Für Aristoteles ist ja die Ortsbewegung die primäre Weise von Bewegung, Veränderung oder Wirkung – was mit seinem fundamentalen Physikalismus zusammenhängt, der ihn von allen sich geisteswissenschaftlich gebenden Philosophen unterscheidet und trennt und absetzt und geradezu herabsetzt (wie diese meinen). 

 

Die reflexive und die transitive Richtung lassen sich ziemlich leicht unterscheiden. Aristoteles erläutert die reflexive Richtung an anderer Stelle als Bezugnahme auf sich selber als etwas anderes – also eine Transitivität, die aufs Subjekt zurückgebogen wird. Demgegenüber wäre die bloße Intransitivität – Beispiel: ich schlafe – ein einfaches Bei-sich-bleiben (und zwar wiederum ein extremes). 

 

Eine andere Form der Transitivität, für die das Dativ-Objekt typisch ist – Beispiel: ich vertraue dir, könnte man als Adressivität bezeichnen. Da ist die Tätigkeit komplexer, weil das Objekt komplexer ist.

 

Das trifft auch auf die dritte von Aristoteles genannte Wirkungsrichtung zu, die sich auf etwas bezieht, was nicht als Person bezeichnet wird, sondern als Ursache in einem primären sowie auch komplexen Sinn, da seine Verursachungsleistung die beiden oben genannten Richtungen zusammenfasst: causa sui atque alterius.

 

Dieses verbalistisch Zusammenkonstruierte scheint nun die Anforderungen zu erfüllen, die Aristoteles bei seiner Ursachensuche im Sinn hatte – ob wir da mit unserem Verstehen mitkommen, ist eine andere Frage. Aber die Untersuchung geht ja weiter und wird noch ganz andere Aspekte auftun. 

 

Trotzdem muß an dieser Stelle ein großer Einschub eingelegt werden. Denn die eben gesehene triadische Tätigkeitsdifferenzierung hebt sich schon in ihrem groben Ansatz – und ihr Ansatz ist ein relativ trivialer - dermaßen deutlich von einem Dreierschema ab, das ebenfalls auf antike also archaische also urtümliche Anfänge zurückgeht, nämlich auf den Begriff „Dialektik“, der jedoch im 19. Jahrhundert von dem Philosophen Hegel zum Motor nicht nur des Denkens sondern der Weltgeschichte und womöglich auch der Natur ernannt worden ist. Insofern vermutlich auch eine Konkurrenz zu der hier von Aristoteles mühselig gesuchten Ursachenkonzeption.

 

Der dialektische Dreischritt besteht aus These, Antithese, Synthese, also einer Reihe von Aussagen, von Behauptungen. Welche Reihe damit zustande kommt, dass aus der These die in ihr schon implizierte Negation hervortritt und gegen sie die Antithese auf den Plan ruft, womit eine endlose Folge von Setzungen und Gegensetzungen in die Welt tritt beziehungsweise überhaupt die Welt bildet. Denn das Schema der Logik wird zum Schema der Gesamtwirklichkeit. 

Die bloße Negation wird zur treibenden Kraft ernannt – insofern eine sehr einfache Konzeption. Es wird eigentlich nur eine positive Setzung „vorausgesetzt“ und mit der ist „alles“ entwickelt, also geschaffen und gegeben. Sowohl die Antithese wie auch die Synthese sind nur verschiedene „Versionen“ der einen These – daher läuft die Dialektik auf einen radikalen Monothetismus, auf einen bloßen Monismus hinaus, wie ihn irgendein Monotheismus nicht zustande bringt, denn der behauptet ja nur, dass es nur einen Gott gibt. Aber dass es außerdem noch diverse Dinge gibt, das muß er nicht ausschließen. 

 

Der Dreischritt von Aristoteles beginnt hingegen mit zwei voneinander unabhängigen positiven Setzungen: Bezug auf sich, Bezug auf anderes. Die Negation ist nicht der wundersame Automatismus, der alles hervorbringt. Als logische Funktion ist sie gleichwohl unentbehrlich; denn, um das, was geschieht, zu besprechen und zu ordnen, muß man auch „nicht“ und „nein“ sagen können. 

 

Die Differenzierung von Selbstbezug und Fremdbezug unterscheidet sich von der Differenzierung zwischen These und Antithese dadurch, dass sie nicht von der Kraft der Negation lebt, sondern zwei Richtungen formuliert, von denen die zweite sich durch keine Automatik aus der ersten „entwickelt“, denn es gibt viele mögliche zweite Richtungen, viele mögliche Gegenstände. Nicht Negation sondern Pluralität ist das Prinzip der Erweiterung. 

 

Mein Sprung von der Stelle 1072a 11ff. zur hegelschen Dialektik wird allerdings von der Antithetik angetrieben, die ich bei Aristoteles nachträglich feststelle: Antithetik gegenüber dem hegelschen Modell der negativen Motorik. Und zu dieser Gegenüberstellung, die nicht allzu üblich ist, hat mich auch eine Episode in der jüngeren Philosophiegeschichte angeregt, die so gut wie gar nicht bekannt geworden ist, obwohl der berühmte Philosoph Michel Foucault ihr Akteur, natürlich Koakteur, gewesen ist.

Im Mai 1975 fand am Pomona College in Kalifornien eine Diskussion zwischen Foucault und Studenten statt, die mit seinem Denken schon einigermaßen vertraut waren und ihre Fragen selber formuliert haben. Eine Frage ging dahin, ob sich seine Geschichtsauffassung von einer materialistischen Interpretation der Geschichte unterscheide. Darauf sagte Foucault, dass für Marx die Arbeit das konkrete Wesen des Menschen konstituiere. Und das sei eine unzutreffende, eine typisch hegelianische Idee. Daraufhin verteidigte ein Student die Auffassung, dass zwischen den Machtstrukturen und den Produktionsstrukturen ein reziprokes, ein dialektisches Verhältnis bestehe.

 

Foucault: Dieses Wort „Dialektik“ akzeptiere ich nicht. Nein und noch einmal nein! Es ist notwendig, dass die Dinge klargestellt werden. Sobald man das Wort „Dialektik“ ausspricht, fängt man an, auch wenn man es nicht sagt, das hegelsche Schema von der These und von der Antithese zu akzeptieren, und damit eine Form der Logik, die mir inadäquat erscheint ... Ein reziprokes Verhältnis ist kein dialektisches Verhältnis. 

 

Dagegen der Student, der auf dem Begriff des „Widerspruchs“ insistiert.

Foucault: Prüfen wir nun, was es mit dem „Widerspruch“ auf sich hat. .. Das Wort „Widerspruch“ (kontradiktorischer Gegensatz) hat in der Logik einen bestimmten Sinn. Man denke an einen Widerspruch in der Logik der Propositionen. Betrachtet man hingegen die Realität und sucht man gewisse Prozesse zu beschreiben und zu analysieren, so entdeckt man, dass solche Prozesse mit Widerspruch nichts zu tun haben. 

Zum Beispiel in der Biologie. Da findet man eine Reihe reziproker antagonistischer Prozesse, aber das heißt nicht, dass es sich um Widersprüche handelt.... Es gibt keine Dialektik in der Natur. Ich nehme mir das Recht, mit Engels nicht übereinzustimmen; denn in der Natur – und Darwin hat es sehr wohl gezeigt – findet man zahlreiche antagonistische Prozesse, die nicht dialektisch sind ... [1]

 

Ich hoffe, daß der sachliche Kern dieser historischen Antithetik (die man auch „Dialektik“ nennen kann), klar geworden ist, obwohl sie sich über mehr als zwei Jahrtausende hinzieht, nämlich von meiner Lektüre einer wenig beachteten Stelle bei Aristoteles zur damit in Widerspruch stehenden hegelschen Dialektik, der wiederum eine wenig bekannte Aussage Foucaults vehement widerspricht. Es geht also im Zickzack von Seitter zu Aristoteles und von da zu Hegel und von dem zu Foucault und wiederum zu Hegel – und zu mir als dem parteiischen Protokollanten.  

 

Ende des großen Einschubs und weiter zum Abschnitt 7 im Buch XII. Aristoteles behauptet, nachgewiesen zu haben, dass das Erste Ursache des ewigen Sichgleichbleibens, das Zweite Ursache des Andersseins, das Erste und das Zweite zusammen Ursachen des ewig gleichen Andersseins sind. 

 

Wenn es sich nicht so verhielte, so würden gewisse Thesen stimmen, denen zufolge alles aus der Nacht, aus dem „Beisammensein aller Dinge“ oder aus dem Nichtseienden hervorgehen. Was unmöglich ist. Es gibt etwas, was sich immerzu in unaufhörlicher Bewegung kreisförmig bewegt – 

„Und das geht nicht nur aus dem Begriff sondern aus dem Werk klar hervor.“ (1072a 22) Nicht nur aus dem Logos, sondern aus dem Werk. Damit setzt sich Aristoteles von einem bestimmten Logizismus ab - so ähnlich wie Foucault oben von dem hegelschen. Was er dem Begriff gegenüberstellt, ist nicht einfach das Seiende oder die Sache oder das Wesen, wie man erwarten könnte. Sondern das Werk, das zum einen den Kern von energeia und energein bildet, die innerhalb der Ontologie eine Verschiebung in Gang setzen, und das zum anderen einen Hauptbegriff der „poietischen“ Wissenschaften in die 

 Ontologie aufnimmt, die angeblich zur Spitze der theoretischen Wissenschaften gehört. 

 

Wenn etwas initiativ und transitiv und erfolgreich etwas in Bewegung setzt, dann erbringt es eine Leistung, die mit dem Begriff „Werk“ in die Nähe der Kunst gerückt wird. 

 

Aristoteles unterscheidet drei Potenzen (ich wähle das Wort in Anlehnung an den mathematischen Begriff) von Bewegung überhaupt je nach der Anordnung von Aktiv und Passiv, von Bewegtheit und Ruhe. Anordnung ist übrigens ein Stichwort im Begriffslexikon von Buch V und der Begriff „Diathese“ bezeichnet in der Grammatik die Handlungsrichtungen von Verben.

 

Erste Potenz: In Bewegung sein, weil man von etwas bewegt wird. Zweite Potenz: in Bewegung sein, weil man bewegt wird und selber aktiv bewegt. Dritte Potenz: anderes bewegen und selber unbewegt sein. Diese Bewegungsmodalität verbindet Aristoteles mit dem Attribut „ewig“ – offensichtlich nicht ganz dasselbe wie „unaufhörlich“ (was schon mit dem privativen „un“ angezeigt wird). Und diesem wird auch die oben hervorgehobene Koinzidenz von Wesen und Verwirklichung zugesprochen. Und weil die griechischen Wörter für Wesenheit und Verwirklichung beide weiblich sind, wird die so gebildete Konzentration insgesamt ins weibliche Geschlecht gesetzt: kai ousia kai energeia ousa  (1072a 25).

Aber die dritte Bewegungspotenz hat noch eine ganz andere und uns gar nicht unbekannte Eigentümlichkeit. Mit ihr kippt die Bewegungslehre aus der Motorik, die zur Physik gehört, hinüber zur Motivation, die wir zur Psychik rechnen, wie Motivationsschwäche, Motivforschung und dergleichen belegen. Und damit geraten wir noch entschiedener als mit dem ergon in die Bereiche der Ästhetik (im modernen Sinn), der Ethik, der Politik. 

Aristoteles: das Erstrebte und das Erfasste, Erkannte, Verstandene, Gedachte bewegen – ohne selber in Bewegung zu geraten. Die ersten Instanzen des Erstrebten und des Erkannten sind dieselben. Denn das Begehrte ist das, was schön erscheint; gewollt aber wird vor allem, was schön ist. Wir erstreben etwas eher, weil es schön erscheint, als dass es schön erscheint, weil wir es erstreben. (1072 a 26ff.). „Schön“ heißt hier natürlich schön – aber auch richtig und gut. 

 

Was für eine Bewegungsursächlichkeit ist da am Werk? Zugesprochen wird sie passiven Partizipien wie „verstanden“ und „erstrebt“, die wir auf aktive Vollzüge zurückführen. Aber in der aristotelischen Konzeption sind wir, die Denkenden und Verstehenden (großartig) und Strebenden (Goethe: immerhin) die Bewegten, die passiven, die von außen in Bewegung gesetzt werden, was uns angeblich erhöht, zumindestens belebt. Während die erstrebten und erkannten Sachen ihre Überlegenheit damit zur Geltung bringen, dass sie schön ruhig ihre Schönheit und Schönheitsleistung vollziehen. Beispiel Staatsoper, die jeden Tag Hunderte und Tausende Angestellte, sogenannte Mitarbeiter, darunter einige sogenannte Stars sowie Zuhörer, Zuschauer, Begeisterte bewegt – nämlich zur Staatsoper. Die bleibt ruhig stehen. Oder mein SPAR gourmet in der Vorlaufstaße bewegt mich jeden Tag dazu, mich zu ihm hin zu bewegen, weil ich dort als gut erkannte oder gedachte Sachen finde. Die will ich allerdings aus ihrer dortigen Ruhe aufscheuchen und zu mir transportieren und so weiter ... 

 

Die sogenannte Metaphysik macht also, um ihre Bewegungslehre auszubauen, so einen Sprung in die Psychik. Ob damit die Physik verabschiedet wird, sei jetzt einmal dahingestellt.

 

Walter Seitter

 




[1] Michel Foucault: Dialogue sur le pouvoir, in: ders.: Dits er écrits, III (1976-1979)470f. 

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