12. Oktober 2022
Zunächst ein Rückblick auf die früheste Periode
des hiesigen Aristoteles-Lesens, die von 2007 bis 2010 gedauert hat: Lektüre
der Poetik, des vielleicht meistgelesenen Textes aus seiner Hand,
der hauptsächlich der Tragödie gewidmet ist. Den Anlaß bildet eine in der FAZ
vom heutigen Tag erschienene Besprechung des seit einigen Jahren erscheinenden
vielbändigen Basler Homer-Kommentars von Arbogast Schmitt. Dieser aber
widmet seine Hauptaufmerksamkeit dem kommentierten Werk, nämlich der Ilias
von Homer und er hebt zurecht deren Kompositionskunst hervor, der es gelinge,
ein zehn Jahre dauerndes Kriegsgeschehen mit der Schilderung von nur wenigen
Kriegstagen bündig zusammenzufassen und zu problematisieren. Schmitt verweist
auch darauf, wie Aristoteles diese homerische Kompositionsleistung gewürdigt
habe und dazu setzt er naheliegenderweise den entsprechenden Handlungsbegriff
ein, den sowohl Aristoteles wie auch der deutsche Sprachgebrauch dafür kennen: den
literaturwissenschaftlichen Handlungsbegriff, der einem literarischen Werk
„eine“ Handlung zuspricht, auch wenn diese von vielen handelnden Personen
zustandegebracht wird.
Als wir seinerzeit die aristotelische Schrift lasen,
haben wir auch Arbogasts Schmitts Kommentar zur Kenntnis genommen und
kritisiert (Siehe Poetik lesen (Berlin 2010, 2014)). Denn der versteift
sich darauf, den aristotelischen Handlungsbegriff auf den ethischen zu reduzieren:
das Handeln, also Verhalten oder Agieren jeweils einer Person, die damit ihren
Charakter zum Ausdruck bringe. Ich habe damals Arbogast Schmitt auch mehrmals
persönlich getroffen und ihm die Unhaltbarkeit seiner verkürzenden Deutung
dartun wollen. Er hat das von sich gewiesen und erklärt, ein gescheiter Autor
wie Aristoteles könne nicht ein und dasselbe Wort mit zwei Begriffen verbinden.
In seinem Zeitungsartikel öffnet er sich nun
offensichtlich solchem Sprachgebrauch, der keinerlei Unklarheit aufkommen läßt.
Und damit wird er auch Aristoteles gerecht, der einmal sogar die Ilias als
Beispiel für eine einzige wenngleich umfangreiche Aussage bezeichnet.
Schmitt tut das jetzt auf überzeugende Weise, wenn er schreibt: „Die Ilias ist
durch und durch ein Antikriegsbuch.“
In der Poetik erklärt
Aristoteles auch die Definition als einen Fall von Aussage, obwohl eine
solche meist nur drei oder vier Wörter enthält und bestimmt keine Handlung
nachahmt.
Ist die aristotelische Metaphysik (die
ebenfalls keine Handlung darstellt, wohl aber sehr viele Wörter enthält) auch eine
Aussage? Und wenn ja – welche?
*
Eine weitere Vorbemerkung zur herbstlichen
Wiederaufnahme der Aristoteles-Lektüre bezieht sich auf ihren Ort, nämlich Wien,
und dessen geographische Lage. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben mit dem
Begriff „Geophilosophie“, für die äußerliche Situierung der Philosophie, welche
herkömmlicherweise nur historisch vorgenommen wird, auch die Dimension oder die
Dimensionalität der Geographie angemahnt. Tatsächlich wird diese schon seit
jeher in die Philosophiegeschichte hineingenommen. Denn sie beginnt
herkömmlicherweise mit der „griechischen“ Philosophie – und nur deshalb gilt
das erste 6. Jahrhundert als zeitlicher Anfang der Philosophie. Oder aber die
Philosophiegeschichte geht über den europäischen Raum hinaus – dann muß sie
sich noch deutlicher geographisch bestimmen.
Vor
kurzem habe ich im Stift Heiligenkreuz einen Vortrag von dem französischen
Philosophen Rémi Brague gehört, der vor ca. 30 Jahren mit Europa, eine
exzentrische Identität (Frankfurt 1993) eine wegweisende Untersuchung zur
europäischen Berufung vorgelegt hat, die nahelegt, daß die westeuropäische
Rezeption des Griechentums, die über das Latein und dann über den
Philhellenismus lief, durch die orthodoxe und stärker slawisch geprägte Rezeption
zu ergänzen ist.[1] Auf dieser Linie wurde etwa neben der
Philosophie die sogenannte „Philokalia“ kultiviert, über die vielleicht Elena
Repka demnächst referieren wird.
Im
frühen 16. Jahrhundert wirkte in Wien Konrad Celtis (1459-1508), der schon
seinerzeit die geographische und nachbarschaftliche Dimension der Philosophie
betonte und in Istropolis (oder Preßburg oder Bratislava) eine Sodalitas
Literaria Hungarorum gründete.[2] Politisch aber auch
kirchenpolitisch bildet der nahegelegene Ort Devin (oder Theben) an der Mündung
der March in die Donau den westlichen Vorposten eines globalen Orients. Im 9.
Jahrhundert wirkten dort Kyrill und Method, die beiden sogenannten
Slawenapostel.
Das
heißt für uns, das hiesige Aristoteles-Lesen wird sich nicht nur an München,
Berlin, Paris, London „orientieren“.
Wir
lesen im Buch XIII weiter und ich werde jetzt das partielle Übersetzen der
Textstellen ganz eng ans Griechische anlehnen, Aristoteles gewissermaßen
entdeutschen und gräzisieren. Besser gesagt: ihn verfremden, exotisieren. Er
ist nämlich bei uns jahrtausendelang „heimisch“ gemacht worden, mit dem
Ergebnis, daß er sehr „bekannt“ und sogar berühmt geworden ist – aber in
manchen Hinsichten unbekannt geblieben ist.
Der
Text fragt, wie es neben der angeblichen Selbst-Dreiheit und Selbst-Zweiheit
noch andere nämlich gewöhnliche Dreiheiten und Zweiheiten geben soll. Auf
welche Weise sollen sie aus früheren und späteren Alleinheiten zusammengesetzt
sein? Aristoteles nennt solche Annahmen sinnlos und frei erfunden.
Und
er sagt auch, wieso sie der platonischen Schule zu unterstellen sind: weil die
Lehre Platons von den beiden Prinzipien - vom Einen und von der unbestimmten
Zweiheit – nur mit jenen Annahmen möglich sind.
Jene
Annahmen beziehen sich also auf Rangunterschiede zwischen Zahlen: da gibt es
einerseits die gewöhnlichen, die vergleichbaren, die rechenbaren, die
mathematischen Zahlen und dann die sozusagen einzigartigen, die
unvergleichlichen, die höheren Zahlen. Eine Zweiklassengesellschaft innerhalb
der Zahlen. Man kann sich fragen, welche der beiden platonischen Thesen
Aristoteles mehr stört.
Ich
glaube es ist eher die Annahme der Rangunterschiede als die Lehre von den
beiden Prinzipien. Diese Lehre ist ja wohl nur eine andere Formulierung für die
Ausführungen über Einheit und Vielheit im Buch X der Metaphysik, nur daß
sie eben die Zahl Zwei so herausstellt.
Naturgegebene
Rangunterschiede zwischen gleichartigen Dingen oder gar die Behauptung,
Unterschiede in der Vollkommenheit zwischen gleichartigen Dingen würden
Ungleichartigkeit begründen, die Verfestigung von Qualitätsunterschieden zu Naturrangstufen
– solche Auffassungen haben Aristoteles an Platon gestört. Und dies sogar im
Reich der Zahlen, die seiner Meinung nach ohnehin nur gedachte, allerdings
notwendigerweise gedachte Eigenschaften der Dinge sind, die Eigenschaften der
Quantität.
Man
muß sich aber nicht damit begnügen, diesen Streit zwischen Platon und
Aristoteles darauf zurückzuführen, daß der erste ein Aristokrat war, für den
Standesunterschiede selbstverständlich weil vorteilhaft waren, während der
bürgerliche Aristoteles für solche Unterschiede wenig Verständnis aufgebracht
hat.
Immerhin
haben seine Eltern dem Aristoteles einen Namen gegeben, der ihm die Bestheit
zugesprochen oder zugemutet hat. Der Unterschied zwischen gut, besser, best,
erst recht der Unterschied zum Schlechten oder gar Bösen waren auch für
Aristoteles unübersehbar und von großem Interesse. Aber sie gehören in die
Ebene der Akzidenzien, also der Eigenschaften, die so oder so ausfallen können,
ja die nach oben und nach unten steigerbar sind, während die Wesensbestimmungen
kein Mehr oder Weniger kennen. Was eine Eiche ist, ist und bleibt Eiche; aber
die Eigenschaften, die Zustände, die Vollkommenheiten oder Fehlerhaftigkeiten,
die Glücke oder Unglücke der Eiche, die kommen dazu. Bei den Lebewesen, erst
recht bei den Menschen, sind das Besser- oder Schlechtersein ständiges Thema:
Thema der Sorge, der Vergleichung, des Erfolges oder Mißerfolges. Insofern ist
die Festschreibung solcher Unterschiede bei Platon einerseits verständlich –
aber als Festschreibung eher zweifelhaft, bei den Zahlen ist sie jedoch gar
nicht plausibel.
Interessant
die Stelle, an der Aristoteles auf die Ebene der Qualitäten übergeht: Art und
Gattung, Wesen und Eigenschaften. Und dazu zieht er die uns allen wohlbekannte
Spezies Mensch heran, deren Angehörige doch wohl die Weltmeister in
Sachen etwas Besseres sein wollen, Unterschiede kultivieren, sich für die
Besten halten sind. Aristoteles nennt da die Lebewesen dazu, mit denen sich ja
die Menschen vergleichen und sich für etwas Höheres halten, auch die
Zweifüßigkeit nennt er, die der Mensch zwar mit einigen anderen Tieren
gemeinsam hat; die aber beim Menschen, wie wir seit Ödipus (von Theben) wissen,
nach einer gewissen Vierfüßigkeit und vor einer gewissen Dreifüßigkeit
vorkommt.
Die
senile Dreifüßigkeit erwähne ich nicht nur, weil sie mir persönlich wohlbekannt
ist und weil damit auch der König Ödipus, der Rätsellöser, in die Reihe der
Anthropologen aufgenommen wird, sondern weil Aristoteles selber an einer der
ungelesensten Stellen seines Werks, im Buch V der Metaphysik, ihre
mögliche Voraussetzung in einem ontologischen Begriff namhaft macht, im Begriff
verstümmmelt (1024a 10ff.). Die von Ödipus genannte Dreifüßigkeit
erfüllt sogar den spätantiken Begriff des „Metaphysischen“ aufs Allerexakteste,
denn sie tritt ein, wenn das Physische eine Beschädigung erfahren hat.
Die
mögliche Menscheneigenschaft des Weißseins wird von Aristoteles oftmals
ziemlich schematisch erwähnt. Auch sie dient häufig dazu, daß die einen
Menschen sich über andere erheben. Das dürfte wohl auch bei den antiken
Griechen schon der Fall gewesen sein, auch bei ihnen in Verbindung mit der
Sklavenpolitik, mit einer bestimmten Herrenpolitik.
Dann
noch eine Bemerkung zur Frage, wie aus vielen eine Einheit entstehen kann: durch
Berührung, durch Vermischung, durch Lage, also durch Nähe. Alle drei
Möglichkeiten beziehen sich auf physische Dinge und auf Räumlichkeit, also von
vornherein nicht auf Zahlen, wie ich meine. Aristoteles aber schließt nicht die
Zahlen überhaupt von diesen Einheitsbildungen aus, sondern die Zahlen, die sich
für was Besseres halten, die Einsen, die ich „Alleinheiten“ nenne – er nennt
sie „Monaden“, also Alleinseinwoller, Einzelgänger, Mönche im Sinne des
Eremitentums: jeder braucht da mindestens einen Quadratkilometer Wüste, nur so
kann er sich von den dürftigen Pflanzen nähren und von dem wenigen Tauregen,
der da fällt.
Diese
extreme Lebensform, extrem auch im wörtlichsten, im räumlichen Sinn, hat
dennoch oder vielmehr gleichwohl oder vielmehr genau mit ihrer Absonderung und
Sonderlichkeit Faszination ausgeübt und Nachahmung und Anhängertum und Zuzug
und Gemeinschaftsbildung erfahren, woraus dann die sogenannten Monasterien,
Klausuren oder Klöster entstanden. Entstanden aus der Verweigerung der intensivsten
Einheitsbildung, die Aristoteles „Vermischung“ nennt. Was ist das wohl für
eine?
Walter
Seitter
[1] Siehe Rémi Brague: Die
Geschichte der europäischen Kultur als Selbsteuropäisierung, in: Tumult.
Schriften zur Verkehrswissenschaft 22.
[2] Siehe Walter Seitter: The
Mathematical-Poetic Renaissance in Austria (Johannes von Gmunden, Georg von
Peuerbach, Regiomontanus, Conrad Celtis), in Czech and Slovak Journal
of Humanities. Philosophica 1/2016. Ich erwähne noch, daß Konrad Celtis es
fertiggebracht hat, am oder im Stephansdom bestattet zu werden. Davon zeugt ein
schönes Epitaph, das jetzt an der Ostwand des Nordturms (des halben) angebracht
ist und auf dem er bis heute schreibt: VIVO.