τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Freitag, 28. Oktober 2022

In der Metaphysik lesen (1082a 27 – 1082b 24)

Protokoll vom 26. Oktober  2022

 

 

Zu den derzeit gelesenen aristotelischen Ausführungen gegen die platonischen Ansichten von einem Qualitätsunterschied innerhalb der Zahlen präsentiert Bernd Schmeikal sozusagen als modernes Gegenprogramm eine zahlentheoretische Entwicklung, die von der Eins zur algebraischen Identität und weiter zum algebraischen Idempotent übergeht. Von allen drei gilt, daß sie mit sich selber multipliziert „nur“ das ergeben, was sie selber schon sind. Entsprechend dem schon im Kindergarten bekannten 1 x 1 = 1.

Allerdings bedarf es für jene Entwicklung einer gewissen „Geometrisierung“ der skalaren oder nackten Zahlen, die Vektoren, Richtung, Lage im Raum zustandebringt.

 

Ergänzend führt Bernd Schmeikal aus:

 

  • die Eins ist (seit Dedekind) eine Zahl im Zahlenkörper der reellen Zahlen
  • in einem Körper gibt es zwei innere zweistellige Operationen: die Addition und die Multiplikation, die eine Reihe von Bedingungen und Gesetzen erfüllen
  • In dem um die Null verkleinerten Körper K \ {0}  gibt es ein Element 1 so dass " 1 x a = a " für alle a in K gilt. Die 1 heisst neutrales Element oder Einselement in K. Die Eins im reellen Körper ist unsere 1.

 

Wie man sieht, ist damit auch die schon etwas bekanntere moderne Klassifizierung der Zahlen in natürliche, ganze, rationale, reelle und komplexe Zahlen berührt. Eine imaginäre Zahl (Beispiel: Wurzel aus -1) ist eine komplexe Zahl, deren Quadrat eine nichtpositive reelle Zahl ist.

 

Die schärfste Differenzierung, die Aristoteles bei Platon vorfindet (und kritisiert) betrifft die Zahl 1 und sie unterscheidet zwischen „dem Einen“ und der „Einzigkeit“.

Wo jedoch Aristoteles über die Zahlenlehre hinausgeht, wird bei ihm der 1 eine noch weitergehende Sonderstellung zugewiesen.

 

Für Aristoteles gibt es nur natürliche Zahlen - allerdings gilt ihm sowohl das Gezählte wie auch das Zählungsmittel als Zahl. Wobei eine gemeinsame Art oder Gattung das Maß für die Zählung liefert (z. B. kann man Mensch und Pferd zusammenzählen, sofern beide der Gattung Lebewesen angehören). Daran sieht man bereits, daß er die Mathematik der Physik unterordnet. Er verweigert ihr einen gleichen ontologischen Rang. Sie ist für ihn ja nur die zweite theoretische Wissenschaft und bekommt nicht den Ehrentitel „Philosophie“.

Stephan Herzberg erklärt, daß Aristoteles dem Einen einen höheren Rang zuspricht: es sei das Prinzip der Zahl, nicht aber selbst Gezähltes, weshalb die Eins im eigentlichen Sinn keine Zahl und die Zwei kleinste Zahl sei.[1]

Das heißt wohl, daß das Eine nach Aristoteles eine unvergleichliche Sonderstellung einnimmt, obwohl er das für die Zahl eins in Abrede stellt.

 

Im weiteren verfolgt Aristoteles sein oben genanntes Anliegen, indem er der platonischen Position unterstellt, sie müsse bei den Zahlen auch zwischen früheren und späteren unterscheiden, je nach dem, ob eine bestimmte Menge Teilmenge einer größeren oder einer noch größeren Gesamtmenge sei. Wenn die Gesamtmenge zusammengesetzt ist und wenn sie eine Idee ist, wäre auch die Idee zusammengesetzt und womöglich würde das auch auf die Dinge zutreffen, von denen die Ideen Ideen sind.

 

Daß die Zahlen ein eigenes „Reich“ bilden, in dem man, wenn man Mathematiker ist, vielerlei Unterscheidungen, Operationen, Erfindungen durchführen kann, die ihre eigenen Gesetzlichkeiten befolgen und sogar erzeugen, ohne in bloße Willkürlichkeit auszuarten, das war in der Antike jemandem wie Pythagoras sehr wohl bekannt, der neben einigen bis heute anerkannten Lehrsätzen auch bestimmte Zahlenfiguren als Prinzipien für Entitäten und Zustände betrachtete, was Aristoteles schon im Buch I der Metaphysik (986a 8ff.) kritisiert hat.

 

Walter Seitter

 

 

 


[1] Siehe S. Herzberg: arithmos/Zahl, in O. Höffe (Hg.): Aristoteles-Lexikon (Stuttgart 2005): 83f.

Mittwoch, 26. Oktober 2022

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 17 (68vB - 68vF) Seite 150, Z 1 bis Seite 152, Z 1 bei Burnett

  19. Oktober 2022

 

 

Im zweiten Buch von Hermanns „De Essentiis“ wird zu Beginn der Begriff Natur eingeführt, als ein bestimmtes Gesetz der universalen Form, wobei habitudo hier mit Form übersetzt wurde. Kaum eingeführt ist schon klar, dass der Begriff zunächst schwierig zu bestimmen ist und in ein Verhältnis zu Gott gebracht werden muss. Hermann zitiert dabei aus der Fülle seiner Lektüren, beginnend mit Cicero, Ovid und Seneca, die von einer Identität von Natur und Gott ausgehen.

 

Hermann weiß alles, zumindest hat er einen gründlichen Überblick über die damals gerade noch bekannten wichtigen Autoren der Antike, ohne dass bei ihm der Gedanke eines unterschiedlichen Zeitalters oder einer notwendigen Wiedergeburt auftaucht. Die Fäden der Argumente werden von Platon zu den medizinischen Autoren seiner Zeit geführt und mit theologischen Gedanken über die Entstehung des Bösen sowie mit astrologischen Themen und kosmologischen Erwägungen zu historischen Ereignissen vermischt. Walter Seitter würde die Art der Wissenschaft, die von Hermann hier betrieben wird, am ehesten als Kosmologie bezeichnen und das ist gar nicht von der Hand zu weisen, da Hermann nach ein paar Seiten zu den Planeten zurückkehrt, wann immer ein Einfluss auf ein historisches Ereignis erklärt werden soll oder ein Lebensverlauf vorhergesagt werden soll.

 

Als andere Vorstellung der Natur wird von Hermann die dreifache Natur der Seele des Universums bei Platon vorgestellt. Aber da taucht mit einer gewissen drängenden Notwendigkeit die „andere Natur“ auf, denn in der medizinischen Ordnung sind „Dinge gegen die Natur“ hinzugefügt. Und noch schwerwiegender scheint es, dass die von Gott geschaffene Natur sich ins Gegenteil kehren kann, also zum Widersacher Gottes wird. Hermann fragt sich, woher dieses Widerständige kommen kann. Ein Grund wäre, dass man die Natur nicht so allgemein bestimmen kann, denn es würde den Versuch bedeuten, das Unbegrenzte durch feste Grenzen beschränken zu wollen.

Die Frage nach dem Widersacher Gottes in der Natur bleibt vorläufig als Anmerkung stehen und Hermann wendet sich wieder seinen begrifflichen Bestimmungen zu. Zuerst stellt er fest, dass die Natur von unaufhörlicher Dauer ist. Was ist das Unaufhörliche? Eine sich durch die universelle Zeugung verbreitende und bewahrende Habitudo, hier am ehesten als Gestalt zu übersetzen. Habitudo wird in der Folge entweder als Aufnahme und Ausübung oder Zustand von Kraft zwischen Gleichen und Gegensätzlichen bestimmt, was uns auf die folgende Einteilung der drei Teile der Natur vorbereitet, wobei wir es hauptsächlich mit den gespannten Mischungen aus Gleichen und Gegensätzlichen zu tun haben werden.

 

Also schreibt Hermann die Dreiteilung von Platons Weltseele als die drei Teile seiner Natur auf, die „gleiche Natur“, die „unterschiedliche Natur“ und die „gemischte Natur“, in die eine störende Andersheit einfließt. Diese „gemische Natur“ gehorcht dem „Gleichen“ und bewegt die „Unterschiedlichen“ und ist die Mutter der zweiten Zeugung und die zweite Ursache all ihrer Bewegungen. Denn wie die Zeugungen müssen auch die Ursachen in allgemeiner Weise aufgestellt werden, um eine Abfolge der Bewegungen nachvollziehen zu können.

 

Das wird alles im Habitus der Wissenschaft vorgetragen, obwohl der durch die Praxis erworbene Habitus Hermanns eher der eines Übersetzers in der Übersetzerschule von Toledo ist. Ein zweiter Habitus oder eine habituelle Mischung von Übersetzung und Wissenschaft?

 

Karl Bruckschwaiger

 

 

 

Nächste Sitzung: Mittwoch 26. Oktober 2022, Aristoteles Buch XIII

Sonntag, 16. Oktober 2022

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 17 (68vB - 68vF) Seite 150, Z 1 bis Seite 152, Z 1 bei Burnett

5. Oktober 2022

 

 

Am Beginn stand ein gemeinsames Resümieren des Sommers, der Lektüren, der Reisen, und der Pläne für die nächsten Wochen. Walter Seitter erzählte von seiner Lektüre und dem Übersetzen des Buches von Michel Serres „La Naissance de la physique dans le texte de Lucrèce De rerum natura„ aus dem Jahre 1977, wobei sich Walter indirekt natürlich mit Lukrez selbst beschäftigt, der für ihn ein weiteres Paradigma der Physik in der Antike darstellt. Dieses Buch von Serres ist noch nicht ins Deutsche übersetzt (wohl aber ins Englische), eine Aufgabe, die Walter sehr gut zu Gesicht stehen würde. Im Blog der Hermesgruppe gibt es bereits 9 Protokolle zu dieser Sommer-Dichter Lektüre: Serres – Lukrez, die auch gelesen werden wollen.

 

Darin bespricht Walter die allgemeine Vorstellung des Protokolls und was darin festgehalten werden sollte, als Erinnerung einer Sitzung, um wirtschaftliche oder juristische Entscheidungen daran knüpfen zu können. Es wurde der protokollarische Stil auch in die Literatur übernommen als Wahrnehmungsprotokoll, bei Handke etwa. Das kann ich selbst nur aus zweiter Hand protokollieren, es steht mir nicht direkt zur Verfügung wie Walter, da ich keinen Handke gelesen habe. Schon im ersten Protokoll zum Komplex Serres-Lukrez erhebt Walter Seitter den Anspruch die Textsorte „Protokoll“ in die Philosophie einführen zu wollen. Dabei ist es für ihn wichtig, dass der Protokollant sich nicht aus dem Schreiben herausnimmt, sondern sich am Umschreiben und Weiterschreiben des Gelesenen und Gehörten beteiligt. Diese Vorgabe hätte ich durch mein Vergessen des Gesprochenen und falsches Erinnern ohnehin übererfüllt. Ob dadurch ein eigenes philosophisches Schreiben entsteht, möchte ich nicht sofort behaupten wollen, aber die Chance könnte wenigstens gegeben sein.

Ich erzähle, dass ich im Gegensatz zu Handke seit 25 Jahren mit Interesse und Begeisterung Michel Serres lese, und ich habe schon 1995 eine Rezension zur dem Buch „Die Legende von den Engeln“ im Falter geschrieben, zur gleichen Zeit habe ich auch den von Serres herausgegebenen Sammelband „Elemente einer Geschichte der Wissenschaften“ gelesen und das Gelesene bei allen möglichen Gelegenheiten weiter verwendet. In diesem Buch sind Personen versammelt, die mehr als zwanzig Jahre später als klassische Autoren des Anthropozäns gelten können wie Bruno Latour und Isabelle Stengers. Und schon im ersten Aufsatz von Serres „Gnomon: die Anfänge der Geometrie“ stellt er sich die Frage: Eine griechische Mathematik oder zwei? Das ist eine Frage die sich Walter Seitter gerne im Bezug auf die Physik stellt und auch in der Sitzung wieder erwähnte, dass es in der Antike mehrere Physiken gab, die zwar miteinander diskutierten, aber nebeneinander existierten und sich nicht den Anspruch auf Wahrheit gänzlich streitig machten. Die von uns behandelten wären die hylomorphistische Physik des Aristoteles und die atomistische Physik von Demokrit-Epikur-Lukrez.

Noch erstaunlicher ist, dass im 6. Aufsatz, die in diesem Buch Verzweigungen genannt werden, von Paul Benoît und Françoise Micheau über die Araber als Vermittler auch Hermann de Carinthia kurz als Übersetzter der Elemente des Euklid erwähnt wird.

Bei der Sitzung habe ich noch den Beginn des zweiten Buches von „De Essentiis“ zu lesen begonnen, wo uns Hermann auf eine Besprechung der Rolle der Mittleren, das heißt der Planeten, einstimmt und das allgemeine Gesetz der Habitudine oder Gestalt des Aufbaus der Welt einführt, das gewöhnlich als Natur bekannt ist.

Ich erzählte noch am Rande über einen Ausflug in das Sandland an der March am 22. und 23. Oktober und einer Wanderung nach Devin und Walter sprach über das dritte Theben, womit die Bewohner von Strasshof die Burg von Devin bezeichneten.

 

Karl Bruckschwaiger

 

nächste Sitzung: 12. Oktober 2022,  Aristoteles XIII. Buch

Samstag, 15. Oktober 2022

In der Metaphysik lesen (1081b 28 – 1082a 26)

12. Oktober  2022

 

 

Zunächst ein Rückblick auf die früheste Periode des hiesigen Aristoteles-Lesens, die von 2007 bis 2010 gedauert hat: Lektüre der Poetik, des vielleicht meistgelesenen Textes aus seiner Hand, der hauptsächlich der Tragödie gewidmet ist. Den Anlaß bildet eine in der FAZ vom heutigen Tag erschienene Besprechung des seit einigen Jahren erscheinenden vielbändigen Basler Homer-Kommentars von Arbogast Schmitt. Dieser aber widmet seine Hauptaufmerksamkeit dem kommentierten Werk, nämlich der Ilias von Homer und er hebt zurecht deren Kompositionskunst hervor, der es gelinge, ein zehn Jahre dauerndes Kriegsgeschehen mit der Schilderung von nur wenigen Kriegstagen bündig zusammenzufassen und zu problematisieren. Schmitt verweist auch darauf, wie Aristoteles diese homerische Kompositionsleistung gewürdigt habe und dazu setzt er naheliegenderweise den entsprechenden Handlungsbegriff ein, den sowohl Aristoteles wie auch der deutsche Sprachgebrauch dafür kennen: den literaturwissenschaftlichen Handlungsbegriff, der einem literarischen Werk „eine“ Handlung zuspricht, auch wenn diese von vielen handelnden Personen zustandegebracht wird.

Als wir seinerzeit die aristotelische Schrift lasen, haben wir auch Arbogasts Schmitts Kommentar zur Kenntnis genommen und kritisiert (Siehe Poetik lesen (Berlin 2010, 2014)). Denn der versteift sich darauf, den aristotelischen Handlungsbegriff auf den ethischen zu reduzieren: das Handeln, also Verhalten oder Agieren jeweils einer Person, die damit ihren Charakter zum Ausdruck bringe. Ich habe damals Arbogast Schmitt auch mehrmals persönlich getroffen und ihm die Unhaltbarkeit seiner verkürzenden Deutung dartun wollen. Er hat das von sich gewiesen und erklärt, ein gescheiter Autor wie Aristoteles könne nicht ein und dasselbe Wort mit zwei Begriffen verbinden.

In seinem Zeitungsartikel öffnet er sich nun offensichtlich solchem Sprachgebrauch, der keinerlei Unklarheit aufkommen läßt. Und damit wird er auch Aristoteles gerecht, der einmal sogar die Ilias als Beispiel für eine einzige wenngleich umfangreiche Aussage bezeichnet. Schmitt tut das jetzt auf überzeugende Weise, wenn er schreibt: „Die Ilias ist durch und durch ein Antikriegsbuch.“

 

In der Poetik erklärt Aristoteles auch die Definition als einen Fall von Aussage, obwohl eine solche meist nur drei oder vier Wörter enthält und bestimmt keine Handlung nachahmt.

 

Ist die aristotelische Metaphysik (die ebenfalls keine Handlung darstellt, wohl aber sehr viele Wörter enthält) auch eine Aussage? Und wenn ja – welche? 

 

 

*

 

Eine weitere Vorbemerkung zur herbstlichen Wiederaufnahme der Aristoteles-Lektüre bezieht sich auf ihren Ort, nämlich Wien, und dessen geographische Lage. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben mit dem Begriff „Geophilosophie“, für die äußerliche Situierung der Philosophie, welche herkömmlicherweise nur historisch vorgenommen wird, auch die Dimension oder die Dimensionalität der Geographie angemahnt. Tatsächlich wird diese schon seit jeher in die Philosophiegeschichte hineingenommen. Denn sie beginnt herkömmlicherweise mit der „griechischen“ Philosophie – und nur deshalb gilt das erste 6. Jahrhundert als zeitlicher Anfang der Philosophie. Oder aber die Philosophiegeschichte geht über den europäischen Raum hinaus – dann muß sie sich noch deutlicher geographisch bestimmen.

Vor kurzem habe ich im Stift Heiligenkreuz einen Vortrag von dem französischen Philosophen Rémi Brague gehört, der vor ca. 30 Jahren mit Europa, eine exzentrische Identität (Frankfurt 1993) eine wegweisende Untersuchung zur europäischen Berufung vorgelegt hat, die nahelegt, daß die westeuropäische Rezeption des Griechentums, die über das Latein und dann über den Philhellenismus lief, durch die orthodoxe und stärker slawisch geprägte Rezeption zu ergänzen ist.[1] Auf dieser Linie wurde etwa neben der Philosophie die sogenannte „Philokalia“ kultiviert, über die vielleicht Elena Repka demnächst referieren wird.

Im frühen 16. Jahrhundert wirkte in Wien Konrad Celtis (1459-1508), der schon seinerzeit die geographische und nachbarschaftliche Dimension der Philosophie betonte und in Istropolis (oder Preßburg oder Bratislava) eine Sodalitas Literaria Hungarorum gründete.[2] Politisch aber auch kirchenpolitisch bildet der nahegelegene Ort Devin (oder Theben) an der Mündung der March in die Donau den westlichen Vorposten eines globalen Orients. Im 9. Jahrhundert wirkten dort Kyrill und Method, die beiden sogenannten Slawenapostel.

 

Das heißt für uns, das hiesige Aristoteles-Lesen wird sich nicht nur an München, Berlin, Paris, London „orientieren“.

 

Wir lesen im Buch XIII weiter und ich werde jetzt das partielle Übersetzen der Textstellen ganz eng ans Griechische anlehnen, Aristoteles gewissermaßen entdeutschen und gräzisieren. Besser gesagt: ihn verfremden, exotisieren. Er ist nämlich bei uns jahrtausendelang „heimisch“ gemacht worden, mit dem Ergebnis, daß er sehr „bekannt“ und sogar berühmt geworden ist – aber in manchen Hinsichten unbekannt geblieben ist.

 

Der Text fragt, wie es neben der angeblichen Selbst-Dreiheit und Selbst-Zweiheit noch andere nämlich gewöhnliche Dreiheiten und Zweiheiten geben soll. Auf welche Weise sollen sie aus früheren und späteren Alleinheiten zusammengesetzt sein? Aristoteles nennt solche Annahmen sinnlos und frei erfunden.

 

Und er sagt auch, wieso sie der platonischen Schule zu unterstellen sind: weil die Lehre Platons von den beiden Prinzipien - vom Einen und von der unbestimmten Zweiheit – nur mit jenen Annahmen möglich sind.

Jene Annahmen beziehen sich also auf Rangunterschiede zwischen Zahlen: da gibt es einerseits die gewöhnlichen, die vergleichbaren, die rechenbaren, die mathematischen Zahlen und dann die sozusagen einzigartigen, die unvergleichlichen, die höheren Zahlen. Eine Zweiklassengesellschaft innerhalb der Zahlen. Man kann sich fragen, welche der beiden platonischen Thesen Aristoteles mehr stört.

Ich glaube es ist eher die Annahme der Rangunterschiede als die Lehre von den beiden Prinzipien. Diese Lehre ist ja wohl nur eine andere Formulierung für die Ausführungen über Einheit und Vielheit im Buch X der Metaphysik, nur daß sie eben die Zahl Zwei so herausstellt.

 

Naturgegebene Rangunterschiede zwischen gleichartigen Dingen oder gar die Behauptung, Unterschiede in der Vollkommenheit zwischen gleichartigen Dingen würden Ungleichartigkeit begründen, die Verfestigung von Qualitätsunterschieden zu Naturrangstufen – solche Auffassungen haben Aristoteles an Platon gestört. Und dies sogar im Reich der Zahlen, die seiner Meinung nach ohnehin nur gedachte, allerdings notwendigerweise gedachte Eigenschaften der Dinge sind, die Eigenschaften der Quantität.

Man muß sich aber nicht damit begnügen, diesen Streit zwischen Platon und Aristoteles darauf zurückzuführen, daß der erste ein Aristokrat war, für den Standesunterschiede selbstverständlich weil vorteilhaft waren, während der bürgerliche Aristoteles für solche Unterschiede wenig Verständnis aufgebracht hat.

Immerhin haben seine Eltern dem Aristoteles einen Namen gegeben, der ihm die Bestheit zugesprochen oder zugemutet hat. Der Unterschied zwischen gut, besser, best, erst recht der Unterschied zum Schlechten oder gar Bösen waren auch für Aristoteles unübersehbar und von großem Interesse. Aber sie gehören in die Ebene der Akzidenzien, also der Eigenschaften, die so oder so ausfallen können, ja die nach oben und nach unten steigerbar sind, während die Wesensbestimmungen kein Mehr oder Weniger kennen. Was eine Eiche ist, ist und bleibt Eiche; aber die Eigenschaften, die Zustände, die Vollkommenheiten oder Fehlerhaftigkeiten, die Glücke oder Unglücke der Eiche, die kommen dazu. Bei den Lebewesen, erst recht bei den Menschen, sind das Besser- oder Schlechtersein ständiges Thema: Thema der Sorge, der Vergleichung, des Erfolges oder Mißerfolges. Insofern ist die Festschreibung solcher Unterschiede bei Platon einerseits verständlich – aber als Festschreibung eher zweifelhaft, bei den Zahlen ist sie jedoch gar nicht plausibel.

Interessant die Stelle, an der Aristoteles auf die Ebene der Qualitäten übergeht: Art und Gattung, Wesen und Eigenschaften. Und dazu zieht er die uns allen wohlbekannte Spezies Mensch heran, deren Angehörige doch wohl die Weltmeister in Sachen etwas Besseres sein wollen, Unterschiede kultivieren, sich für die Besten halten sind. Aristoteles nennt da die Lebewesen dazu, mit denen sich ja die Menschen vergleichen und sich für etwas Höheres halten, auch die Zweifüßigkeit nennt er, die der Mensch zwar mit einigen anderen Tieren gemeinsam hat; die aber beim Menschen, wie wir seit Ödipus (von Theben) wissen, nach einer gewissen Vierfüßigkeit und vor einer gewissen Dreifüßigkeit vorkommt.

Die senile Dreifüßigkeit erwähne ich nicht nur, weil sie mir persönlich wohlbekannt ist und weil damit auch der König Ödipus, der Rätsellöser, in die Reihe der Anthropologen aufgenommen wird, sondern weil Aristoteles selber an einer der ungelesensten Stellen seines Werks, im Buch V der Metaphysik, ihre mögliche Voraussetzung in einem ontologischen Begriff namhaft macht, im Begriff verstümmmelt (1024a 10ff.). Die von Ödipus genannte Dreifüßigkeit erfüllt sogar den spätantiken Begriff des „Metaphysischen“ aufs Allerexakteste, denn sie tritt ein, wenn das Physische eine Beschädigung erfahren hat.

Die mögliche Menscheneigenschaft des Weißseins wird von Aristoteles oftmals ziemlich schematisch erwähnt. Auch sie dient häufig dazu, daß die einen Menschen sich über andere erheben. Das dürfte wohl auch bei den antiken Griechen schon der Fall gewesen sein, auch bei ihnen in Verbindung mit der Sklavenpolitik, mit einer bestimmten Herrenpolitik.

 

Dann noch eine Bemerkung zur Frage, wie aus vielen eine Einheit entstehen kann: durch Berührung, durch Vermischung, durch Lage, also durch Nähe. Alle drei Möglichkeiten beziehen sich auf physische Dinge und auf Räumlichkeit, also von vornherein nicht auf Zahlen, wie ich meine. Aristoteles aber schließt nicht die Zahlen überhaupt von diesen Einheitsbildungen aus, sondern die Zahlen, die sich für was Besseres halten, die Einsen, die ich „Alleinheiten“ nenne – er nennt sie „Monaden“, also Alleinseinwoller, Einzelgänger, Mönche im Sinne des Eremitentums: jeder braucht da mindestens einen Quadratkilometer Wüste, nur so kann er sich von den dürftigen Pflanzen nähren und von dem wenigen Tauregen, der da fällt.

 

Diese extreme Lebensform, extrem auch im wörtlichsten, im räumlichen Sinn, hat dennoch oder vielmehr gleichwohl oder vielmehr genau mit ihrer Absonderung und Sonderlichkeit Faszination ausgeübt und Nachahmung und Anhängertum und Zuzug und Gemeinschaftsbildung erfahren, woraus dann die sogenannten Monasterien, Klausuren oder Klöster entstanden. Entstanden aus der Verweigerung der intensivsten Einheitsbildung, die Aristoteles „Vermischung“ nennt. Was ist das wohl für eine?

 

Walter Seitter

 

 

 

 




[1] Siehe Rémi Brague: Die Geschichte der europäischen Kultur als Selbsteuropäisierung, in: Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 22.

[2] Siehe Walter Seitter: The Mathematical-Poetic Renaissance in Austria (Johannes von Gmunden, Georg von Peuerbach, Regiomontanus, Conrad Celtis), in Czech and Slovak Journal of Humanities. Philosophica 1/2016. Ich erwähne noch, daß Konrad Celtis es fertiggebracht hat, am oder im Stephansdom bestattet zu werden. Davon zeugt ein schönes Epitaph, das jetzt an der Ostwand des Nordturms (des halben) angebracht ist und auf dem er bis heute schreibt: VIVO.

Montag, 3. Oktober 2022

Zusatz-Protokoll

2. Oktober 2022

 

Die Sache mit den erkenntnispolitischen Orientierungen, welche auch den Wissenschaften zugrundeliegen, „obwohl“ sie auf Begründetheit, kritische Absicherung und Objektivität ihrer Aussagen Anspruch erheben, diese Sache, die ich in den zuerst 1985 erschienenen Menschenfassungen als Problem benannt und einerseits historisch illustriert, andererseits auch theoretisch skizziert habe, und auf die Michel Serres in seiner Lukrez-Paraphrase langsam aber sicher zusteuert, die ist nun offensichtlich publikumswirksam bekannt geworden, und zwar in der Serres-Version.

Eine der einschlägigen Textstellen habe ich in meinem letzten Sommer-Dichter-Lektüre-Protokoll Nummer IX vom 28. September 2022 zitiert:

„Die Mars-Natur, die martialische Physik, wird von festen, von harten Körpern gebildet, die venerische Natur und Physik entsteht im Fließenden.“

 

Und nun lese ich, daß Francis Fukuyama in seinem neuen Buch Der Liberalismus und seine Feinde (Hamburg 2022) eine Autorin zitiert, die behauptet, es gebe eine männliche Physik, das sei die Festkörpermechanik, und eine weibliche Physik, nämlich die Strömungsmechanik.[1] Allem Anschein nach ist diese Aussage der obigen Serres-Stelle nachgebildet – aber mit grober Entstellung. Dazu sagt Fukuyama, da werde die Identitätspolitik absolut gesetzt, alles sei beeinflußt durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, es gebe keine objektive Realität.

Serres deutet in seinem Text schon an, daß er mit dieser These nicht die Objektivität der Wissenschaft in Abrede stellt, sondern ihr einen „subjektiven“ Faktor unterschiebt, was eine heikle und mißverständliche Hypothese sei.

 

Es besteht also aller Grund, die Serres:Lukrez-Lektüre fortzusetzen.

 

 

 

Walter Seitter


[1] Karl Gauhofer im Gespräch mit Francis Fukuyama: Der alte Haß auf die neue Vielfalt, in: Die Presse, Spectrum, 1. Oktober 2022.