τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 15. Oktober 2022

In der Metaphysik lesen (1081b 28 – 1082a 26)

12. Oktober  2022

 

 

Zunächst ein Rückblick auf die früheste Periode des hiesigen Aristoteles-Lesens, die von 2007 bis 2010 gedauert hat: Lektüre der Poetik, des vielleicht meistgelesenen Textes aus seiner Hand, der hauptsächlich der Tragödie gewidmet ist. Den Anlaß bildet eine in der FAZ vom heutigen Tag erschienene Besprechung des seit einigen Jahren erscheinenden vielbändigen Basler Homer-Kommentars von Arbogast Schmitt. Dieser aber widmet seine Hauptaufmerksamkeit dem kommentierten Werk, nämlich der Ilias von Homer und er hebt zurecht deren Kompositionskunst hervor, der es gelinge, ein zehn Jahre dauerndes Kriegsgeschehen mit der Schilderung von nur wenigen Kriegstagen bündig zusammenzufassen und zu problematisieren. Schmitt verweist auch darauf, wie Aristoteles diese homerische Kompositionsleistung gewürdigt habe und dazu setzt er naheliegenderweise den entsprechenden Handlungsbegriff ein, den sowohl Aristoteles wie auch der deutsche Sprachgebrauch dafür kennen: den literaturwissenschaftlichen Handlungsbegriff, der einem literarischen Werk „eine“ Handlung zuspricht, auch wenn diese von vielen handelnden Personen zustandegebracht wird.

Als wir seinerzeit die aristotelische Schrift lasen, haben wir auch Arbogasts Schmitts Kommentar zur Kenntnis genommen und kritisiert (Siehe Poetik lesen (Berlin 2010, 2014)). Denn der versteift sich darauf, den aristotelischen Handlungsbegriff auf den ethischen zu reduzieren: das Handeln, also Verhalten oder Agieren jeweils einer Person, die damit ihren Charakter zum Ausdruck bringe. Ich habe damals Arbogast Schmitt auch mehrmals persönlich getroffen und ihm die Unhaltbarkeit seiner verkürzenden Deutung dartun wollen. Er hat das von sich gewiesen und erklärt, ein gescheiter Autor wie Aristoteles könne nicht ein und dasselbe Wort mit zwei Begriffen verbinden.

In seinem Zeitungsartikel öffnet er sich nun offensichtlich solchem Sprachgebrauch, der keinerlei Unklarheit aufkommen läßt. Und damit wird er auch Aristoteles gerecht, der einmal sogar die Ilias als Beispiel für eine einzige wenngleich umfangreiche Aussage bezeichnet. Schmitt tut das jetzt auf überzeugende Weise, wenn er schreibt: „Die Ilias ist durch und durch ein Antikriegsbuch.“

 

In der Poetik erklärt Aristoteles auch die Definition als einen Fall von Aussage, obwohl eine solche meist nur drei oder vier Wörter enthält und bestimmt keine Handlung nachahmt.

 

Ist die aristotelische Metaphysik (die ebenfalls keine Handlung darstellt, wohl aber sehr viele Wörter enthält) auch eine Aussage? Und wenn ja – welche? 

 

 

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Eine weitere Vorbemerkung zur herbstlichen Wiederaufnahme der Aristoteles-Lektüre bezieht sich auf ihren Ort, nämlich Wien, und dessen geographische Lage. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben mit dem Begriff „Geophilosophie“, für die äußerliche Situierung der Philosophie, welche herkömmlicherweise nur historisch vorgenommen wird, auch die Dimension oder die Dimensionalität der Geographie angemahnt. Tatsächlich wird diese schon seit jeher in die Philosophiegeschichte hineingenommen. Denn sie beginnt herkömmlicherweise mit der „griechischen“ Philosophie – und nur deshalb gilt das erste 6. Jahrhundert als zeitlicher Anfang der Philosophie. Oder aber die Philosophiegeschichte geht über den europäischen Raum hinaus – dann muß sie sich noch deutlicher geographisch bestimmen.

Vor kurzem habe ich im Stift Heiligenkreuz einen Vortrag von dem französischen Philosophen Rémi Brague gehört, der vor ca. 30 Jahren mit Europa, eine exzentrische Identität (Frankfurt 1993) eine wegweisende Untersuchung zur europäischen Berufung vorgelegt hat, die nahelegt, daß die westeuropäische Rezeption des Griechentums, die über das Latein und dann über den Philhellenismus lief, durch die orthodoxe und stärker slawisch geprägte Rezeption zu ergänzen ist.[1] Auf dieser Linie wurde etwa neben der Philosophie die sogenannte „Philokalia“ kultiviert, über die vielleicht Elena Repka demnächst referieren wird.

Im frühen 16. Jahrhundert wirkte in Wien Konrad Celtis (1459-1508), der schon seinerzeit die geographische und nachbarschaftliche Dimension der Philosophie betonte und in Istropolis (oder Preßburg oder Bratislava) eine Sodalitas Literaria Hungarorum gründete.[2] Politisch aber auch kirchenpolitisch bildet der nahegelegene Ort Devin (oder Theben) an der Mündung der March in die Donau den westlichen Vorposten eines globalen Orients. Im 9. Jahrhundert wirkten dort Kyrill und Method, die beiden sogenannten Slawenapostel.

 

Das heißt für uns, das hiesige Aristoteles-Lesen wird sich nicht nur an München, Berlin, Paris, London „orientieren“.

 

Wir lesen im Buch XIII weiter und ich werde jetzt das partielle Übersetzen der Textstellen ganz eng ans Griechische anlehnen, Aristoteles gewissermaßen entdeutschen und gräzisieren. Besser gesagt: ihn verfremden, exotisieren. Er ist nämlich bei uns jahrtausendelang „heimisch“ gemacht worden, mit dem Ergebnis, daß er sehr „bekannt“ und sogar berühmt geworden ist – aber in manchen Hinsichten unbekannt geblieben ist.

 

Der Text fragt, wie es neben der angeblichen Selbst-Dreiheit und Selbst-Zweiheit noch andere nämlich gewöhnliche Dreiheiten und Zweiheiten geben soll. Auf welche Weise sollen sie aus früheren und späteren Alleinheiten zusammengesetzt sein? Aristoteles nennt solche Annahmen sinnlos und frei erfunden.

 

Und er sagt auch, wieso sie der platonischen Schule zu unterstellen sind: weil die Lehre Platons von den beiden Prinzipien - vom Einen und von der unbestimmten Zweiheit – nur mit jenen Annahmen möglich sind.

Jene Annahmen beziehen sich also auf Rangunterschiede zwischen Zahlen: da gibt es einerseits die gewöhnlichen, die vergleichbaren, die rechenbaren, die mathematischen Zahlen und dann die sozusagen einzigartigen, die unvergleichlichen, die höheren Zahlen. Eine Zweiklassengesellschaft innerhalb der Zahlen. Man kann sich fragen, welche der beiden platonischen Thesen Aristoteles mehr stört.

Ich glaube es ist eher die Annahme der Rangunterschiede als die Lehre von den beiden Prinzipien. Diese Lehre ist ja wohl nur eine andere Formulierung für die Ausführungen über Einheit und Vielheit im Buch X der Metaphysik, nur daß sie eben die Zahl Zwei so herausstellt.

 

Naturgegebene Rangunterschiede zwischen gleichartigen Dingen oder gar die Behauptung, Unterschiede in der Vollkommenheit zwischen gleichartigen Dingen würden Ungleichartigkeit begründen, die Verfestigung von Qualitätsunterschieden zu Naturrangstufen – solche Auffassungen haben Aristoteles an Platon gestört. Und dies sogar im Reich der Zahlen, die seiner Meinung nach ohnehin nur gedachte, allerdings notwendigerweise gedachte Eigenschaften der Dinge sind, die Eigenschaften der Quantität.

Man muß sich aber nicht damit begnügen, diesen Streit zwischen Platon und Aristoteles darauf zurückzuführen, daß der erste ein Aristokrat war, für den Standesunterschiede selbstverständlich weil vorteilhaft waren, während der bürgerliche Aristoteles für solche Unterschiede wenig Verständnis aufgebracht hat.

Immerhin haben seine Eltern dem Aristoteles einen Namen gegeben, der ihm die Bestheit zugesprochen oder zugemutet hat. Der Unterschied zwischen gut, besser, best, erst recht der Unterschied zum Schlechten oder gar Bösen waren auch für Aristoteles unübersehbar und von großem Interesse. Aber sie gehören in die Ebene der Akzidenzien, also der Eigenschaften, die so oder so ausfallen können, ja die nach oben und nach unten steigerbar sind, während die Wesensbestimmungen kein Mehr oder Weniger kennen. Was eine Eiche ist, ist und bleibt Eiche; aber die Eigenschaften, die Zustände, die Vollkommenheiten oder Fehlerhaftigkeiten, die Glücke oder Unglücke der Eiche, die kommen dazu. Bei den Lebewesen, erst recht bei den Menschen, sind das Besser- oder Schlechtersein ständiges Thema: Thema der Sorge, der Vergleichung, des Erfolges oder Mißerfolges. Insofern ist die Festschreibung solcher Unterschiede bei Platon einerseits verständlich – aber als Festschreibung eher zweifelhaft, bei den Zahlen ist sie jedoch gar nicht plausibel.

Interessant die Stelle, an der Aristoteles auf die Ebene der Qualitäten übergeht: Art und Gattung, Wesen und Eigenschaften. Und dazu zieht er die uns allen wohlbekannte Spezies Mensch heran, deren Angehörige doch wohl die Weltmeister in Sachen etwas Besseres sein wollen, Unterschiede kultivieren, sich für die Besten halten sind. Aristoteles nennt da die Lebewesen dazu, mit denen sich ja die Menschen vergleichen und sich für etwas Höheres halten, auch die Zweifüßigkeit nennt er, die der Mensch zwar mit einigen anderen Tieren gemeinsam hat; die aber beim Menschen, wie wir seit Ödipus (von Theben) wissen, nach einer gewissen Vierfüßigkeit und vor einer gewissen Dreifüßigkeit vorkommt.

Die senile Dreifüßigkeit erwähne ich nicht nur, weil sie mir persönlich wohlbekannt ist und weil damit auch der König Ödipus, der Rätsellöser, in die Reihe der Anthropologen aufgenommen wird, sondern weil Aristoteles selber an einer der ungelesensten Stellen seines Werks, im Buch V der Metaphysik, ihre mögliche Voraussetzung in einem ontologischen Begriff namhaft macht, im Begriff verstümmmelt (1024a 10ff.). Die von Ödipus genannte Dreifüßigkeit erfüllt sogar den spätantiken Begriff des „Metaphysischen“ aufs Allerexakteste, denn sie tritt ein, wenn das Physische eine Beschädigung erfahren hat.

Die mögliche Menscheneigenschaft des Weißseins wird von Aristoteles oftmals ziemlich schematisch erwähnt. Auch sie dient häufig dazu, daß die einen Menschen sich über andere erheben. Das dürfte wohl auch bei den antiken Griechen schon der Fall gewesen sein, auch bei ihnen in Verbindung mit der Sklavenpolitik, mit einer bestimmten Herrenpolitik.

 

Dann noch eine Bemerkung zur Frage, wie aus vielen eine Einheit entstehen kann: durch Berührung, durch Vermischung, durch Lage, also durch Nähe. Alle drei Möglichkeiten beziehen sich auf physische Dinge und auf Räumlichkeit, also von vornherein nicht auf Zahlen, wie ich meine. Aristoteles aber schließt nicht die Zahlen überhaupt von diesen Einheitsbildungen aus, sondern die Zahlen, die sich für was Besseres halten, die Einsen, die ich „Alleinheiten“ nenne – er nennt sie „Monaden“, also Alleinseinwoller, Einzelgänger, Mönche im Sinne des Eremitentums: jeder braucht da mindestens einen Quadratkilometer Wüste, nur so kann er sich von den dürftigen Pflanzen nähren und von dem wenigen Tauregen, der da fällt.

 

Diese extreme Lebensform, extrem auch im wörtlichsten, im räumlichen Sinn, hat dennoch oder vielmehr gleichwohl oder vielmehr genau mit ihrer Absonderung und Sonderlichkeit Faszination ausgeübt und Nachahmung und Anhängertum und Zuzug und Gemeinschaftsbildung erfahren, woraus dann die sogenannten Monasterien, Klausuren oder Klöster entstanden. Entstanden aus der Verweigerung der intensivsten Einheitsbildung, die Aristoteles „Vermischung“ nennt. Was ist das wohl für eine?

 

Walter Seitter

 

 

 

 




[1] Siehe Rémi Brague: Die Geschichte der europäischen Kultur als Selbsteuropäisierung, in: Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 22.

[2] Siehe Walter Seitter: The Mathematical-Poetic Renaissance in Austria (Johannes von Gmunden, Georg von Peuerbach, Regiomontanus, Conrad Celtis), in Czech and Slovak Journal of Humanities. Philosophica 1/2016. Ich erwähne noch, daß Konrad Celtis es fertiggebracht hat, am oder im Stephansdom bestattet zu werden. Davon zeugt ein schönes Epitaph, das jetzt an der Ostwand des Nordturms (des halben) angebracht ist und auf dem er bis heute schreibt: VIVO.

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