Mittwoch, 13. September 2023
Allerdings hat auch dieser Mensch-Gott den Lauf der
Welt nicht wirklich - ? – verändert.
Michel Serres gibt sich nicht der Illusion hin, daß
mit dem Erscheinen einer solchen Figur oder einer neuen Lehre oder einer
anderen Physik, die eine andere Richtung einschlägt, etwa eine venerische, oder
heute würde man vielleicht sagen, eine „partizipative“ oder eine „mediopassive“
– alle Phänomene oder Ereignisse, die solchen Postulaten zuwiderzulaufen
scheinen, aufhören.
Gleichwohl sagt Serres: Zurück zum
Objekt! Die epikureische Lehre kennt nur zwei Objekte, die alle Dinge
konstituieren: die Atome und das Leere. Das Leere, lateinisch inane,
das kommt vom griechischen Wort für „entleeren“, „säubern“, „reinigen“. Die
Entleerung – das ist das physische Pendant zur Katharsis.
Das zweite Objekt, das Atom, das Unteilbare, heißt
so, weil es Teilung gibt, Dichotomisierung. Der Tempel teilt
eine Gegend zwischen außen und innen, profan und sakral.
Das Atom – letzter oder erster Tempel.
Leere – letzte oder erste Säuberung.
Das sind die physi(kali)schen Entsprechungen des
Tempels und der Katharsis.
Nicht die Politik oder die Soziologie werden auf die
Natur projiziert, sondern das Sakrale. Unterhalb des Sakralen – die Gewalt.
Unterhalb des Objekts - die Beziehungen.
Die bleibende Frage für uns: liegt die Gewalt nicht
nur in der Anwendung der Wissenschaft – sondern auch im Nicht-Gewußten ihrer
Begriffe?
(Das Nicht-Gewußte der Wissenschaften – liegt es in
den Entscheidungen, den Weichenstellungen, die jedem Tun zugrundeliegen? Tun
ist immer ein irgendwie, ein so oder so tun, es folgt irgendwelchen Bahnen, die
nicht zur Gänze vom Tuenden bestimmt werden. Nicht nur der Tuende tut – auch es
tut.
So auch das wissenschaftliche Tun.)
Athènes généralisées – kann die Welt nach Hiroshima an den Atomen sterben?
Die Irre des Irrationalen – wo liegt sie in unserer
Rationalität? (165f.)
Leibniz schreibt vom Ursprung der Dinge, Lukrez von
ihrer Natur. Die Natur hat keinen Ursprung – sie ist immer in statu
nascendi. Die Zeit aber ist nichts ohne ein jedes der Dinge, und jedes Ding
hat seine Zeit. Der Atomismus ist ein Pluralismus, ein chronischer
Polymorphismus.
Das Chaos hört niemals auf. Ist die Welt geboren,
somit die Natur, so hört das Atomengewölk nicht auf: die Natur entsteht daraus
und kehrt dahin zurück. Das Chaos bleibt – um die Dinge herum.
Das Chaos umgibt die Welt – aber vor allem: es
penetriert sie allüberall.
Die Unordnung produziert die Ordnung und arbeitet
daran, sie auf sich selber wieder zurückzuführen.
Die Natur naturiert – und geboren wird der Mensch
mit seiner sterblichen Seele. Der wahrnimmt, der erkennt - aufgrund derselben
Bewegungsgesetze, aus der auch die Dinge entstehen. So kommt es zur
Gesellschaft, zu den Techniken und den Austauschbeziehungen, Politik, Künste
und Wissenschaften.
Venus erneuert immer wieder, was die Gewalt zugrunde
gerichtet hat. Das schlußendliche Chaos ist ein Neuanfang – dank den
Verbindungen, Vereinigungen und Begegnungen.
Kombination aus Abhang und Zyklus. (169ff.)
Der Sinn ist etwas Singuläres, er ist nicht überall
und jederzeit. Er ist hier oder da, er war neulich und wird demnächst sein. Er
ist plural und zufällig. Er passiert zu einer bestimmten Zeit – die aber
ungewiß ist. Er ist unwahrscheinlich. Und weil er unwahrscheinlich ist,
produziert er Information.
Das „Ein und Alles“ produziert eine nulle
Information oder eine unendliche Information – also gar keine. Und keinen Sinn.
Wie entsteht der Sinn? Durch Sinnänderung.
Durch Gabelung, durch Rotation.
Siehe das N, das Z wird, wenn es umfällt und sich
hinlegt. Wie Aristoteles oder Rabelais bemerkt haben.
Universell entsteht nichts.
Damit etwas existiert und nicht
lieber nichts, muß im allgemeinen Fließen eine
Fluktuation, eine Schwankung auftreten. Eine Abweichung vom Gleichgewicht:
ein clinamen. Und es kommt zu einer Verschränkung, einer
Verbindung.
(Hier paraphrasiert Serres die berühmte
fundamentalontologische Frage, deren erste Formulierung Leibniz zugeschrieben
wird)[1]
Und die Verbindung kann sich halten.
Der Diamant, das Eisen, die Bronze bleiben
dieselben, so wie die Robe der Tiger und das Federkleid der Vögel. Die
Verbindung ist ein Gedächtnis, das sich gegen die Linie des Falls
durchhält. Die Natur codiert die selten auftretende Schwankung.
Die Buchstaben-Atome bilden ein Wort, einen Satz,
sie vereinigen sich zu einem Körper. Keineswegs immer und überall, wohl aber
hier und jetzt. Die Verkettung der Glieder – das ist das Ding oder sein erster
Kern.
Die Bestimmtheit ist nichts anderes als die
Beibehaltung des Codes.
Damit erscheint die Schrift – in den Dingen, aus den
Dingen.
Die Deklination produziert die Verbindung und die
codierte Sequenz.
Das ist nicht eine Vergleichung – es ist ein und
dasselbe Anfangen.
Der Code setzt sich ab vom entropischen Fallen, von
dem universellen und univoken Nicht-Sinn des Hinunterfallens.
Die Schrift ist negentropisch.
(Wie vielleicht schon einmal bemerkt, gebraucht
Serres diesen negativ markierten Begriff für eine Qualität, die sich vom
Negativen, vom Verfall, vom Nicht-Sinn gerade absetzt. Und die viel besser als
„ektropisch“ bezeichnet wird, wie das ja ursprünglich getan worden ist.
Vielleicht betont Serres den Gegensatz von Entropie
und Ektropie zu wenig und betrachtet die Ektropie doch nur als eine
Nebenwirkung der Entropie?)
Die Schrift ist eine im Kern der Verflechtungen
gespeicherte Information. Das clinamen, das die Schrift außerhalb
der Redundanz der Wiederholung produziert, setzt sich vom Gleichgewicht, vom
Universellen ab.
Der zur Existenz gelangende Körper wird zur Tafel
seines eigenen Gesetzes. Das Gesetz ist ihm nicht eingeschrieben – sondern er
ist durch und durch der Schriftzug seines Codes.
Die Atome sind nur das Alphabet im Abhang der Drift,
sie sind verknüpfte Buchstaben, Wörter, Sätze, sie sind ein geschriebener Text
– in den hartnäckigen Kristallen, in der Bronze, in den Föten, den Bäumen, den
Sternen.
Alles was existiert, existiert nur in der Form von
Schrift, von Code, in der Form von Gesetz, von Gesetzestafel, von foedus
naturae.
Die Verbindungen sind föderal:
Bündnisse. Die Wörter und die Dinge sind negentropische, sagen wir ektropische
Tafeln. Dank der declinatio entrinnen sie für die Zeit ihrer
Existenz, für die Zeit der Memorisierung des Codes, dem unumkehrbaren Fluß der
Auflösung.
Die zukunftsträchtigste Entdeckung des antiken
Atomismus ist wohl die: der Code entrinnt der Entropie.
Da die Existenz nur im Abstand vom Gleichgewicht
zustandekommt, kann man sagen: das clinamen ist der Anfang des
Transportes. (181ff.)
Walter Seitter
[1] Siehe D. Schubbe, J. Lemsnki, R. Hauswald
(Hg.): Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr
nichts? Wandel und Variationen einer Frage (Hamburg
2013); Nicholas Rescher: Why Is There Anything at All? (Freiburg-München
2018)