τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 16. September 2023

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez XIV

Mittwoch, 13. September 2023

 

Allerdings hat auch dieser Mensch-Gott den Lauf der Welt nicht wirklich - ? – verändert.

Michel Serres gibt sich nicht der Illusion hin, daß mit dem Erscheinen einer solchen Figur oder einer neuen Lehre oder einer anderen Physik, die eine andere Richtung einschlägt, etwa eine venerische, oder heute würde man vielleicht sagen, eine „partizipative“ oder eine „mediopassive“ – alle Phänomene oder Ereignisse, die solchen Postulaten zuwiderzulaufen scheinen, aufhören.

Gleichwohl sagt Serres: Zurück zum Objekt! Die epikureische Lehre kennt nur zwei Objekte, die alle Dinge konstituieren: die Atome und das Leere. Das Leere, lateinisch inane, das kommt vom griechischen Wort für „entleeren“, „säubern“, „reinigen“. Die Entleerung – das ist das physische Pendant zur Katharsis.

Das zweite Objekt, das Atom, das Unteilbare, heißt so, weil es Teilung gibt, Dichotomisierung. Der Tempel teilt eine Gegend zwischen außen und innen, profan und sakral.

Das Atom – letzter oder erster Tempel.

Leere – letzte oder erste Säuberung.

Das sind die physi(kali)schen Entsprechungen des Tempels und der Katharsis.

Nicht die Politik oder die Soziologie werden auf die Natur projiziert, sondern das Sakrale. Unterhalb des Sakralen – die Gewalt. Unterhalb des Objekts - die Beziehungen.

Die bleibende Frage für uns: liegt die Gewalt nicht nur in der Anwendung der Wissenschaft – sondern auch im Nicht-Gewußten ihrer Begriffe?

 

(Das Nicht-Gewußte der Wissenschaften – liegt es in den Entscheidungen, den Weichenstellungen, die jedem Tun zugrundeliegen? Tun ist immer ein irgendwie, ein so oder so tun, es folgt irgendwelchen Bahnen, die nicht zur Gänze vom Tuenden bestimmt werden. Nicht nur der Tuende tut – auch es tut.

So auch das wissenschaftliche Tun.)

Athènes généralisées – kann die Welt nach Hiroshima an den Atomen sterben?

 

Die Irre des Irrationalen – wo liegt sie in unserer Rationalität? (165f.)

Leibniz schreibt vom Ursprung der Dinge, Lukrez von ihrer Natur. Die Natur hat keinen Ursprung – sie ist immer in statu nascendi. Die Zeit aber ist nichts ohne ein jedes der Dinge, und jedes Ding hat seine Zeit. Der Atomismus ist ein Pluralismus, ein chronischer Polymorphismus.

Das Chaos hört niemals auf. Ist die Welt geboren, somit die Natur, so hört das Atomengewölk nicht auf: die Natur entsteht daraus und kehrt dahin zurück. Das Chaos bleibt – um die Dinge herum.

Das Chaos umgibt die Welt – aber vor allem: es penetriert sie allüberall.

Die Unordnung produziert die Ordnung und arbeitet daran, sie auf sich selber wieder zurückzuführen.

 

Die Natur naturiert – und geboren wird der Mensch mit seiner sterblichen Seele. Der wahrnimmt, der erkennt - aufgrund derselben Bewegungsgesetze, aus der auch die Dinge entstehen. So kommt es zur Gesellschaft, zu den Techniken und den Austauschbeziehungen, Politik, Künste und Wissenschaften.

 

Venus erneuert immer wieder, was die Gewalt zugrunde gerichtet hat. Das schlußendliche Chaos ist ein Neuanfang – dank den Verbindungen, Vereinigungen und Begegnungen.

Kombination aus Abhang und Zyklus. (169ff.)

 

 

Der Sinn ist etwas Singuläres, er ist nicht überall und jederzeit. Er ist hier oder da, er war neulich und wird demnächst sein. Er ist plural und zufällig. Er passiert zu einer bestimmten Zeit – die aber ungewiß ist. Er ist unwahrscheinlich. Und weil er unwahrscheinlich ist, produziert er Information.

Das „Ein und Alles“ produziert eine nulle Information oder eine unendliche Information – also gar keine. Und keinen Sinn.

Wie entsteht der Sinn? Durch Sinnänderung.

Durch Gabelung, durch Rotation.

Siehe das N, das Z wird, wenn es umfällt und sich hinlegt. Wie Aristoteles oder Rabelais bemerkt haben.

Universell entsteht nichts.

Damit etwas existiert und nicht lieber nichts, muß im allgemeinen Fließen eine Fluktuation, eine Schwankung auftreten. Eine Abweichung vom Gleichgewicht: ein clinamen. Und es kommt zu einer Verschränkung, einer Verbindung.

(Hier paraphrasiert Serres die berühmte fundamentalontologische Frage, deren erste Formulierung Leibniz zugeschrieben wird)[1]

Und die Verbindung kann sich halten.

Der Diamant, das Eisen, die Bronze bleiben dieselben, so wie die Robe der Tiger und das Federkleid der Vögel. Die Verbindung ist ein Gedächtnis, das sich gegen die Linie des Falls durchhält.  Die Natur codiert die selten auftretende Schwankung.

Die Buchstaben-Atome bilden ein Wort, einen Satz, sie vereinigen sich zu einem Körper. Keineswegs immer und überall, wohl aber hier und jetzt. Die Verkettung der Glieder – das ist das Ding oder sein erster Kern.

Die Bestimmtheit ist nichts anderes als die Beibehaltung des Codes.

Damit erscheint die Schrift – in den Dingen, aus den Dingen.

Die Deklination produziert die Verbindung und die codierte Sequenz.

 

Das ist nicht eine Vergleichung – es ist ein und dasselbe Anfangen.

Der Code setzt sich ab vom entropischen Fallen, von dem universellen und univoken Nicht-Sinn des Hinunterfallens.

Die Schrift ist negentropisch.

 

(Wie vielleicht schon einmal bemerkt, gebraucht Serres diesen negativ markierten Begriff für eine Qualität, die sich vom Negativen, vom Verfall, vom Nicht-Sinn gerade absetzt. Und die viel besser als „ektropisch“ bezeichnet wird, wie das ja ursprünglich getan worden ist.

Vielleicht betont Serres den Gegensatz von Entropie und Ektropie zu wenig und betrachtet die Ektropie doch nur als eine Nebenwirkung der Entropie?)

Die Schrift ist eine im Kern der Verflechtungen gespeicherte Information. Das clinamen, das die Schrift außerhalb der Redundanz der Wiederholung produziert, setzt sich vom Gleichgewicht, vom Universellen ab.

Der zur Existenz gelangende Körper wird zur Tafel seines eigenen Gesetzes. Das Gesetz ist ihm nicht eingeschrieben – sondern er ist durch und durch der Schriftzug seines Codes.

Die Atome sind nur das Alphabet im Abhang der Drift, sie sind verknüpfte Buchstaben, Wörter, Sätze, sie sind ein geschriebener Text – in den hartnäckigen Kristallen, in der Bronze, in den Föten, den Bäumen, den Sternen.

Alles was existiert, existiert nur in der Form von Schrift, von Code, in der Form von Gesetz, von Gesetzestafel, von foedus naturae.

Die Verbindungen sind föderal: Bündnisse. Die Wörter und die Dinge sind negentropische, sagen wir ektropische Tafeln. Dank der declinatio entrinnen sie für die Zeit ihrer Existenz, für die Zeit der Memorisierung des Codes, dem unumkehrbaren Fluß der Auflösung.

Die zukunftsträchtigste Entdeckung des antiken Atomismus ist wohl die: der Code entrinnt der Entropie.

Da die Existenz nur im Abstand vom Gleichgewicht zustandekommt, kann man sagen: das clinamen ist der Anfang des Transportes. (181ff.)

 

Walter Seitter




[1] Siehe D. Schubbe, J. Lemsnki, R. Hauswald (Hg.): Warum  ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?  Wandel und Variationen einer Frage (Hamburg 2013);  Nicholas Rescher: Why Is There Anything at All? (Freiburg-München 2018)

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