τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 23. September 2023

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez XV

Mittwoch, 20. September 2023

 

 

So finden sich also die foedera naturae in den Kern der Dinge gepresst und gedruckt: sie codieren die Schwere, die Hitze, das Flüssige, das Widerständige im Takt einer jeden Verbindung. Den Kern für das Physische der Dinge, welches Lukrez als Verbindung bezeichnet.

 

Entfernt vom Kern, an der Peripherie der Umstände, abseits von der minimalen declinatio, erst recht vom Gleichgewicht, wirbeln die eventuellen Akzidenzien: Knechtschaft, Reichtum und Armut, Freiheit, Krieg, Eintracht. Die Historie, das Recht, die gesellschaftlich-politischen Verfassungen. Sie sind nicht von Natur aus codiert.

 

Sondern wir codieren sie - abseits vom sogenannten Gleichgewicht, dem faden. Wir machen daraus Gesetze, Texte geschrieben auf Pergament oder graviert in den Stein.

 

Gesetze, Verträge, Berichte.

 

Das sind unsere Bündnisse: Zivilrecht und Verfassungen, soziale, politische, historische und kulturelle Institutionen.

 

Da die Natur sie nicht codiert, müssen wir es tun, um uns eine eigene Geschichte und Zeit zu geben.

 

Unser kollektives Gedächtnis. Seither repetieren wir, imitieren wir, weit weg vom Gleichgewicht, die naturierende, die gebärende Aktivität der Natur, die ihrerseits am Rande des Niedergangs codiert.

 

Die Gesetze der Natur sind nicht föderal, weil sie unsere menschlichen Gesetze nachahmen – das Gegenteil ist der Fall.

 

Unsere Schriften, unsere Erinnerungen, unsere Geschichte und unsere Zeit sind negentropisch, sie gehen auf die anfänglichen Bedingungen zurück, sie bewahren sie und halten sie aufrecht - wie die Natur es vorgemacht hat.

 

Die Historie ist eine Physik - nicht umgekehrt.

Die Sprache ist zuerst in den Körpern.

 

Der Fall ist ohne Gedächtnis, ohne Code. Die Natur codiert nicht das Universelle. Was immer auch die anfänglichen Bedingungen sein mögen – es fällt.

 

Das clinamen führt die erste Codierung durch, es führt eine neue Zeit ein: das Geschriebene, das Gedächtnis, die Umkehrbarkeit, die Negentropie. Der Raum ist von Gesetzestafeln durchsät. Die Physik der Ortschaften wird durch die foedera naturae regiert.

 

An den äußersten Grenzen der Körper schwirren die Umstände und Flüchtigkeiten unserer Geschichte, welche wir durch die bürgerlichen Gesetze, durch unsere Verträge und mit unseren Texten festhalten.

 

(Natürlich gehört auch dieser Text dazu und sogar mein deutschsprachiges Exzerpieren bzw. Protokollieren des Serres-Textes, also diese Lukreziographie, welche einen Parallelstrang zu meiner Aristotelographie darstellt und ihrerseits, da Serres die Göttin Venus als erkenntnispolitische Instanz anruft, gelegentlich durch ein amerikanisches Venus-Foto geschmückt wird: Tannerographie (wie im Protokoll XII). Die diversen Graphien ergänzen einander addieren einander kumulieren einander wie überhaupt die Wissenschaftsgeschichte eine Kumulationsgeschichte ist.)

 

Drei Ebenen:

 

Das Allgemeine, das Vergeßliche.

Die Natur mit ihrem Gedächtnis.

Die Geschichte – zweite Natur.

 

Die Physik der Atome, in der der Code emergiert, wird ein zweites Mal geschrieben in dem Text, der De natura rerum genannt wird. (S. 185f.)

 

 

Walter Seitter

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