τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 30. Oktober 2021

In der Metaphysik lesen (1075b 1 – 24)

27. Oktober 2021

 

Manfred Hulverscheidt (Berlin) hat mich auf den Philosophen Rainer Marten aufmerksam gemacht, von dem ein Buch den Titel Denkkunst. Kritik der Ontologie trägt.

 

Dieser Titel hat mich neugierig gemacht und Neugierde ist ja eine bessere philosophische Tugend als „eh schon alles wissen“. Ich habe schon öfter die Frage aufgeworfen, ob die Wissenschaft, die in der sog. Metaphysik ausgebreitet wird, tatsächlich so eine rein „theoretische“ sein kann, wie behauptet wird. Die beiden anderen Wissenschaftsgattungen bei Aristoteles sind ja die „poietische“ und die „praktische“. Die eine zielt auf poietische Leistungen, also wunschgeleitete Eingriffe in die Umwelt – etwa die Dichtkunst, die Heilkunst, die Kochkunst. Der anderen geht es um die Tugenden, um das Zurechtkommen miteinander. In dem Abschnitt, in dem „der Gott“ plötzlich gefunden wird und begrifflich bestimmt wird, nennt Aristoteles einige soziale Felder, in denen es gut oder vielleicht besser zugeht und zieht daraus Schlüsse für das „Gott“ Genannte. Das ist also ein praktischer Aspekt der sog. Metaphysik (der dann bei Kant viel bestimmender sein wird). Vor der thematischen Einbeziehung des Politischen in die Metaphysik ist für sie wie für alle Wissenschaften, auch die theoretischen, ihre Fundierung durch eine Entscheidung anzusetzen: Entscheidung zu Wissenschaft überhaupt und speziell zu so einer Wissenschaft mitsamt bestimmten Weichenstellungen auch für andere Bereiche.

 

Als den poietischen Aspekt der Metaphysik betrachte ich die Tatsache, daß sie von jemandem, in diesem Falle von Aristoteles, aber auch von einer nachfolgenden weit sich verzweigenden „Arbeiterschaft“ (Aristoteles hat sich selber als Arbeiter verstanden) gemacht worden ist. Jenes Machen impliziert handwerkliches Können auf verschiedenen Ebenen von Stoffsammeln und -organisieren, Lektüre wichtiger Vorläufer, Organisieren eines Schulbetriebes und einer Diskussionsgemeinschaft, Schreiben, später dann Abschreiben, Interpretieren, Übersetzen … eine Masse von Leistungen, die ich unter dem Titel des Schreibens oder der Schriftstellerei zusammenfasse – griechisch vielleicht als „Graphik“ oder als „Grammatik“ bezeichenbar. Wobei das Denken inkludiert sein soll, welches aristotelisch als Zusammenführung und Aufwölbung von Sehen und Sagen zu verstehen ist.

 

Ganz anders der Ansatz von Rainer Marten, der als direkter Heidegger-Schüler seinen Blick auf die Philosophiegeschichte mit Begriffen wie „Seinsfrage“ oder „Seinsdenken“ fokussiert, welche er dann auch noch mit dem Wort „Ontologie“ verquickt. Die drei Autoren, die er zusammenführt, um ihnen sein Thema zu entnehmen, sind Platon, Aristoteles, Heidegger. Er zieht sie sachlich auf einen gemeinsamen Nenner zusammen: Denken als elitäres Insistieren auf einer „Wesentlichkeit“ (etwas viel Erhabeneres als die aristotelische Kategorie des Wesens), von der aus die Niederungen des faktischen Lebens be- bzw. verurteilt werden. Er sieht in seinen drei Kronzeugen einerseits Protagonisten des philosophischen Denkens überhaupt, andererseits aber auch tendenzielle Verkenner und Verfälscher dieses Denkens, das sie entweder mit der Wissenschaft verwechseln oder in Mystizismus entgleisen lassen. 

Aus seiner Analyse, besser gesagt seiner einsichtsreichen Erzählung der europäischen Denkgeschichte kommt Marten zum Schluß, die Philosophie könne die ihr eigene Sendung, dem Denken in der Welt Raum und Zeit zu verschaffen, besser dann erfüllen, wenn sie es als eine mögliche Kunst erfindet und realisiert. Eine Kunst neben den anderen, die es schon gibt. Diese Kunst, er nennt sie „Noetik“, habe ihre eigenen Kriterien, Gebundenheiten und Entschiedenheiten. Zu ihren speziellen Aufgaben gehöre die Intelligibilisierung wie auch die Poetisierung des zu Denkenden. Sie habe wahrheitsliebend, ernst, bejahend zu sein. Sie habe nicht „a solo“ zu denken, sondern „in compagnia“. Im „Einander“.(Ich sage dazu: nicht in der Vergötzung irgendeines „Anderen“)

 

Martens Vorschlag, die Philosophie von Wissenschaft auf Kunst umzupolen, klingt tatsächlich  umstürzend. Die Frage ist, ob es sich um eine rein verbale Umdeutung handelt, ob er den Anspruch auf Erkenntnis und Wissen damit aufgibt oder wie dieser tatsächlich eingelöst werden kann und womöglich besser als bisher.

 

*

 

Wenn ich neulich auf die Brennesselsamen zu sprechen gekommen bin, dann nicht, weil ich hier meine „Innerlichkeit“ ausbreiten will (sowas Dekadentes kenne ich zwar auch, denn auch ich stamme aus dem 20. Jahrhundert nach Christus), sondern weil auch sie sich hervorragend dazu eignen, die beiden Dimensionen der Multikausalität zu veranschaulichen. Erstens sind die Brennesselsamen sozusagen hauptberuflich dazu da, im Sinne der genetischen Information (die von der Wissenschaft nicht abgeschafft worden ist!) als Ursachen für das Entstehen von Brennesseln zu wirken, sie können das aber nur, wenn, wie Bernd Schmeikal bemerkt, viele ganz andere Ursachen und Bedingungen, etwa Erde und Wasser, als Mitursachen dazukommen, die Stoffliches beitragen, und dazu noch das Sonnenlicht usw.. Zweitens können sie etwa in einem menschlichen Organismus zwar nicht Brennesseln hervorbringen, wohl aber andere Wirkungen zeitigen, die mit grünen Brennesselpflanzen anscheinend gar nichts zu tun haben, vielmehr in diesem Organismus akzidenzielle, möglicherweise erwünschte etwa heilsame Folgen haben. 

 

Im Sinne der erstgenannten Multikausalität hätte ich in bezug auf die Verursachung der Heiligen Schriften des Christentums die Aussage von Wolfgang Koch als Hinweis auf eine bestimmte Ursachensorte annehmen können. Denn die Erfahrung von Inspiration zeigt, daß einen ein interessanter Einfall, eine gedankliche Eingebung, erst zum Griff nach Papier und Bleistift, zum Hinschreiben von Wörtern, Sätzen, Absätzen und so weiter antreibt – eine noetische Bewegursachenkette, die materielle, technische (poietische) Ursachenketten in Gang setzt. 

 

Das Zusammenwirken verschiedener Ursachensorten ist der springende Punkt in dem Text, den wir jetzt lesen, auch wenn er ziemlich herrisch das „Gute“ und nicht das „Schlechte“ zum Prinzip erklärt. Diese Option ist es gerade, welche die aristotelischen Ausführungen über das „Theoretische“ im modernen Sinn hinaustreiben, das im Deskriptiven, Neutralen verbleibt, während das Optative und Normative als sogenannte „Werte“ etikettiert werden.

 

Seine Kritik an Empedokles formuliert Aristoteles wiederum als Kritik an einer „poiesis“, denn Empedokles „mache“ die Freundschaft zum Guten; sie ist aber Bewegprinzip und Stoffprinzip. Wenn ein und dasselbe Ding akzidenziellerweise Stoffprinzip und Bewegprinzip ist, ist dennoch das Sein (des Stoffes und des Bewegenden) nicht dasselbe. Wie also ist die Freundschaft Prinzip? Aristoteles insistiert auf einer Unterscheidung, scheint sich aber nicht sicher zu sein, ob sie hier auch in der Realität greift. Er wendet sich gegen die Ansicht, daß der Streit unvergänglich sein soll; da er mit der Natur des Schlechten eins sei, könne er nicht unvergänglich sein. Zwischen dem Guten und dem Schlechten bestehe auch keine theoretische Symmetrie, sie seien von Grund auf asymmetrisch. Andernfalls müßte wohl dem im Buch XII aufgefundenen und bestimmten Gott ein schlechter Gegen-Gott gegenüberstehen oder ein gleichrangiger Teufel. 

 

An die eigene Gotteslehre knüpft Aristoteles mit Anaxagoras an, der das Gute für ein Bewegprinzip hält: die Vernunft bewegt und sie bewegt um etwas willen, also um etwas Verschiedenen willen: also Differenz zwischen Vermögen bzw. Tätigkeit und Zweck oder Ziel, neudeutsch Objektorientierung. Diese Ansicht hält Aristoteles für die allgemein anerkannte. Eine andere Ansicht ist die von ihm selber entwickelte, die er mit dem Vorbehalt des „irgendwie“ formuliert: irgendwie ist die Heilkunst die Gesundheit. Das will nicht sagen, daß der Arzt selber gesund zu sein hat, sondern daß die Heilkunst, aber auch schon die Heilkunde irgendwie die Gesundheit, die Heilung, das Heil der Form nach enthält. Im Buch VII sagt er, die Form des Hauses sei in der Seele des Architekten. Die allgemeinste Formulierung dafür lautet: die Seele ist irgendwie alle die Dinge. 

Ferner hält Aristoteles dem Anaxagoras vor, zum Guten und zur Vernunft kein Gegenteil zu „machen“, d. h. anzunehmen. Diejenigen aber, die so etwas annehmen, kommen damit nicht zurecht. Es scheint also, daß die Annahme des Gegenteils notwendig ist, daß sie aber gleichzeitig ein Risiko darstellt, die Gefahr einer Entgleisung. Eine andere Fehlmeinung lasse die Dinge aus dem Nichtseienden entstehen; um nicht zu dieser Fehlaussage gezwungen zu sein, machen einige alle Dinge zu einem. 

 

Viele theoretische Aussagen, die Aristoteles für falsch hält, stellt er als „machen“ hin: ein A fälschlich zu einem B machen. Wenn Rainer Marten sagt, daß in der Noetik die Sujets denkerisch gestaltet werden – meint er damit nicht eine Verfälschung sondern, daß etwas so poetisiert und intelligibilisiert wird, daß es sozusagen zum ersten Mal in seine Fassung tritt. 

 

Der Aspekt, den Aristoteles hier in den Vordergrund rückt, ist der von Symmetrie oder Asymmetrie, also ein formaler Systemaspekt. 

 

Können zwei Prinzipien das Ganze beherrschen, regulieren, sich aufteilen? Oder bedarf es eines übergeordneten einen, dem kein anderes gegenübersteht?

Auf der Ebene der menschlichen Erkenntnismachenschaft: muß es zur Weisheit und zur würdigsten Wissenschaft ein Gegenteil geben? (1075b 21) 

 

Mit dem Begriff der Weisheit berührt Aristoteles einen Geistescharakter, der nicht an Wissenschaft gebunden ist und insofern der „Noetik“ entgegenkommt, jedoch nicht so strikt an ein Vermögen gebunden ist. Für Aristoteles schließen Weisheit und Wissenschaft einander ohnehin nicht aus; nur daß die Weisheit als höchstes Wissen auch den Göttern bzw. dem Göttlichen zukommt. Die „würdigste Wissenschaft“ kann nur Menschensache sein.

Für Aristoteles kann es für beide Superlative kein Gegenteil geben, weil ein Superlativ im Negativen nur als zufällige Feststellung auftreten könnte, es kommt ihm keine ebenbürtige Würde und folglich auch nicht eine ebenbürtige Wirklichkeit zu. Viele Möglichkeiten aber sehr wohl. 

 

Walter Seitter

 

 

Nächste Sitzung am 10. November 2021

Freitag, 22. Oktober 2021

In der Metaphysik lesen (1075a 25 – 38)

 20. Oktober 2021

 

Vor längerer Zeit wurde hier erwähnt, daß mir erst vor kurzem die Existenz des Hermann von Kärnten bekannt geworden ist - und zwar durch eine im Vorjahr in Klagenfurt erschienene Biographie (geschrieben als fiktionale Autobiographie): 

Mario Rausch: Hermann de Carinthia. Eine Biographie (Klagenfurt 2021)

 

Jener mittelalterliche Wander- und Übersetzergelehrte hat im 12. Jahrhundert nach Christus gelebt, seine ungefähr fünf erhaltenen Bücher sind bisher nur von nicht-deutschen Verlagen ediert worden und jetzt hat Karl Bruckschwaiger sich daran gemacht, dasjenige Werk, das am ehesten der Philosophie zugerechnet werden kann, aus dem Lateinischen/Englischen ins Deutsche zu übersetzen: De essentiis

Am Mittwoch hat er nun angefangen, uns aus dem ersten Abschnitt seiner Übersetzung vorzulesen: Definitionen. Es könnte die erste Hermann-Lektüre in Wien gewesen sein. Die Dinge finden ja nicht nur in der Historie sondern auch in der Geographie statt – wofür gerade dieser Autor exemplarisch ist.

Der Text erinnert irgendwie an den der aristotelischen Metaphysik und wenn man ihn mit Sekundärbegriffen, die in der Aristoteles-Lektüre üblich sind, zudeckt, kann man sich leicht den Eindruck verschaffen, alles zu verstehen. Doch der Sprachduktus ist ein ganz anderer, die Begriffe scheinen anders verwendet zu werden, es werden auch ganz andere, orientalische Autoritäten herangezogen. Daher versuche ich jetzt keine Zusammenfassung - das nächste Hermann-Lesen hier wird am 10. November stattfinden. 

 

*

 

Zuletzt wurde die Frage aufgeworfen, wie es möglich ist, daß die im Buch XII auf wenigen Seiten ausgeführte „Theologie“ ihren Platz innerhalb einer theoretischen Wissenschaft neben Physik und Mathematik hat. In den beiden genannten Wissenschaften werden neutrale Tatsachen festgestellt oder demonstriert. Die Behauptungen der Theologie operieren indessen von Anfang an mit der Steigerungsskala von irgendwie Gutem (ausgedrückt mit dem winzigen eu) zu allerhöchst Gutem. Daraus ergibt sich meines Erachtens, daß die aristotelische Theologie einen Begriff des Theoretischen voraussetzt, der „Betrachtung“ in einem empathischen und emphatischen Sinn impliziert.

 

Übrigens hat Francis Ponge in seinem Sonnen-Buch religiöse Anwandlungen zwar vermeiden wollen, aber der eher neuzeitliche als antike Begriff „Gegenstand“ scheint ihm dennoch unangemessen für den Gegenstand „Sonne“ – weshalb er ihn mit Zusatzbegriffen wie „Gegenspiel“, „Gegenfreude“ suppl(ement)iert. Begriffsschöpfungen eines angeblich begriffslosen Dichters.

 

 

Auf der anderen Seite werfe ich die Frage auf, ob die theoretische Theologie des Aristoteles mit den poietischen Leistungen, als welche in der Antike alle möglichen Künste von der Kochkunst bis zur Baukunst galten, vielleicht mehr zu tun hat, als ihrer hohen Würde zu entsprechen scheint. Diese poietischen Leistungen setzen nämlich bei ganz banalen und oftmals minimalen Eingriffen in die materielle Umwelt an – etwa mit schwarzen Buchstabenzusammenstellungen auf weißem Papier. Aber die müssen gekonnt sein. 

 

Zur Verdeutlichung stelle ich eine etwas hinterhältige Frage, die einen Nebenschauplatz betrifft - nämlich die Heiligen Schriften des Alten wie auch des Neuen Testaments. Wie sind diese Schriften zustandegekommen – und zwar in der maßgeblichen Auffassung der religiösen Tradition? Wolfgang Koch antwortet sofort: durch Offenbarung Gottes.

 

Tatsächlich sind diese Schriften sowohl nach jüdischer wie auch nach christlicher Auffassung von menschlichen Autoren geschrieben worden – aber (doch was heißt: aber ?) mit göttlicher Inspiration. Wer noch nie selber geschrieben hat – aber inspiriert, wird das nicht verstehen. Anders die islamische Auffassung von der Entstehung des Korans. Übrigens ist Hermann der Kärntner seinerzeit vielleicht mit seiner Koran-Übersetzung (ins Lateinische für Petrus Venerabilis) am bekanntesten geworden - denn das war eine religionspolitische Sensation.

 

Auf meinen Einwand antwortet Wolfgang Koch, er gebe eben eine fromme Antwort und es sei doch wohl erlaubt, fromm zu sein. Ja das ist erlaubt, aber auf eine wissenschaftliche Frage sollte man eine wissenschaftliche Antwort geben – und die verstößt in diesem Fall überhaupt nicht gegen die Frömmigkeit, sondern eher gegen ein Kokettieren mit menschlicher Ohnmacht. Eine wissenschaftliche Antwort ist eine, die nicht nur von Freunden oder Anhängern akzeptiert wird, sondern auch von Fremden.

 

Und so bzw. ein bißchen anders ist auch die aristotelische Theologie ein menschliches Machwerk, heideggerisch eine Machenschaft – vielleicht eine gekonnte, eine einigermaßen schlüssige Antwort auf die Frage des Buches I, die im Buch I schon beantwortet worden ist, aber wohl doch zu schnell. Dann hat Aristoteles von Buch II bis zum Buch XI den Aufschub, den Umweg zu einer sehr späten Antwort vorbereitet – Umwege erhöhen die Ortskenntnis! Sein Aufschub, sein Umweg, der nahm die Form der sehr langwierigen und viel später „Ontologie“ genannten Wissenschaft vom Seienden als seienden an. Mit dem Begriffspaar Vermögen-Verwirklichung – mit dem hat er es gemacht und nicht mit dem lateinischen Wort „Prozess“ – das war im 4. Jahrhundert (vor) noch nicht in die Philosophensprache eingedrungen. 

 

Jedenfalls hat Aristoteles seine Theologie so gemacht wie er sie gemacht hat. Es gibt nur menschengemachte Theologien – man kann auch weiterhin welche machen, aber bitte nur, wenn’s unbedingt sein muß, das heißt, wenn man etwas Besseres zu bieten hat. 

 

Aristoteles bleibt bei der allgemeinsten Ursachenfrage und nennt eine ihm bekannte Antwort – mit einer überraschenden Formulierung: „Alle machen aus Gegenteilen alles.“ (1075a 27). Eine extrem lakonische Aussage mit dem einzigen Verbalprädikat „machen“. Mein Übersetzer legt es so auseinander: „Alle nämlich lassen alle Dinge aus Gegenteilen hervorgehen.“ Noch deutlicher: „Alle sagen, daß alle Dinge aus Gegenteilen entstehen.“ Aristoteles „macht“ aus theoretischem Behaupten ein „Machen“. Man kann das als eine Vorwegnahme des modernen Konstruktivismus ansehen. Oder eben als ziemlich brutale Reduzierung theoretischer Wissenschaft aufs Poietische. Und im Fall der zitierten Aussage auf die hegelsche Dialektik, die ja Realitätsverhältnisse wie Sprechverhalten auffasst und all das mit „Dialektik“ identifiziert. 

Oder hält Aristoteles nur unzutreffendes theoretisches Aussagen für ein „Machen“? Eher nicht – er rückt das Poietische ins Innerste der theoretischen Wissenschaften und liefert sie damit der Gefahr aus, mit „Erdichtungen“ verwechselt zu werden. Oder der Chance, in die Höhe der Poesie gerückt zu werden.

 

Wen meint er mit „alle“? Es können nur nähere Kollegen von ihm sein – nämlich Universalursachenforscher. Meint er wirklich, daß die alle behaupten, alle Dinge entstünden aus Gegenteilen? Das wäre dann eine Universaltheorie in einem anderen Sinn, eine konsensuale Theorie, der man zur Not eine minimale Zutreffendheit zugestehen könnte, insofern ein Entstehen von etwas aus etwas impliziert, daß das zweite „etwas“ mit dem ersten nicht identisch ist.

Sachlich wendet Aristoteles gegen solche Theorien ein, daß sie das Gute und das Schlechte als gleichrangige Ursachen ansehen, während in Wahrheit allein das Gute als universales Prinzip in Frage komme. Doch müsse man dann noch klären, ob das Gute als Zweck oder als Bewegendes oder als Form Prinzip sei. Womit wohl auch angedeutet ist, daß es zwar Prinzip aller Dinge aber nicht allzuständiges und folglich auch nicht einziges Prinzip sein kann. Eine Einschränkung, die so etwas wie Allmacht strikt ausschließt – was von christlichen Aristoteles-Anhängern gern ignoriert wird. 

 

Da der schon erwähnte Francis Ponge französisch geschrieben hat, stand er dem Latein näher als unsereiner und da er die Dimension der Ursächlichkeit für entscheidend hielt, war der Begriff „Prinzip“ ein wichtiger Gegenstand für ihn und da er ein Sehender war, hat er gesehen, daß die ersten fünf Buchstaben des Wortes so etwas wie „Fürst“ bedeuten, womit er wie Aristoteles einen politischen Aspekt in die Ursachenforschung einfügte – die Nuancierungen zwischen Allmacht und Übermacht und Gewaltenteilung. 

 

*

 

Gleich nach der Hermann- und Aristoteles-Sitzung am Hohen Markt fand im benachbarten Café Korb die Präsentierung des Buches Was ist Leben? (Wien 2021) von Renée Schroeder statt. Franz Schubert las einige Passagen, sodann machte die Biochemikerin einige Ausführungen zu den stofflichen Voraussetzungen des „Lebens“ und zum dazugehörigen Informationsmechanismus. Diese Dinge klingen ganz anders als sie in Aristoteles Buch stehen – aber sie sind nicht etwas ganz Anderes (jedenfalls nicht mit großem A). 

Zur Freude des Publikums verteilte Renée Schroeder einige Produkte aus ihrem „zweiten“ Berufsleben. Sie hat nämlich jetzt ein Haus im Gebirge und dort pflückt und verarbeitet sie Pflanzen, die von selber wachsen (das tun die „von Natur aus“). Ich bekam ein Sackerl mit Brennesselsamen: das sind winzig kleine dunkelgrüne Punkterl, die nicht luxuriös schmecken, aber interessante aphrodisische Wirkungen haben sollen. Ich selber habe an mir vulkanische Wirkungen festgestellt.

 

 

Walter Seitter

Samstag, 16. Oktober 2021

In der Metaphysik lesen * Wissenschaftsklassifikation

13. Oktober 2021

 

 

Da sich gezeigt hat, daß die im Buch XII vorgeschlagene und formulierte philosophische Theologie, die von Aristoteles als die Spitze der theoretischen Wissenschaften eingeführt wird, mit den „praktischen“ Kriterien der Gutheit und Bestheit operiert, die über das Theoretische im modernen Sinn hinausgehen, möchte ich untersuchen, ob die theoretischen Wissenschaften etwa auch mit dem Poietischen näher zusammenhängen, als die klare Grenzziehung zuzulassen scheint.

 

Dazu muß zuerst geklärt werden, was es mit der Einteilung der Wissenschaften in poietische, praktische, theoretische auf sich hat – denn auch dieses aristotelische Lehrstück ist kaum wirklich bekannt. Um über die drei Wissenschaftsgattungen Klarheit zu gewinnen, empfiehlt es sich sich die drei Leistungstypen vor Augen zu halten, denen die Wissenschaften zugeordnet sind. 

 

Poietische Leistungen sind Eingriffe in die materielle Umwelt, und zwar wunschgemäße – man nennt sie auch „Künste“, wobei in der Antike diese nicht auf „die Kunst“ beschränkt sind. Man kann sie auch „Techniken“ nennen.

 

In den praktischen Leistungen geht es darum, wie man miteinander zurechtkommt. Die ihnen zugeordneten praktischen Wissenschaften sind die Ethik, Ökonomik, Politik. 

 

In den theoretischen Leistungen geht es „nur“ darum, wahrzunehmen, zu überlegen, einzusehen, zu verstehen und zu sagen - was ist. 

 

Die poietischen Wissenschaften sind solche, die klären wollen, wie poietische Leistungen, das heißt Künste, Techniken, Fertigkeiten am besten durchgeführt werden. Solche Künste sind die Dichtkunst, die Heilkunst, die Kochkunst und dergleichen. Sophia Panteliadou erwähnt auch eine relativ neue, nämlich die Ausstellungskunst, die von Kuratoren ausgeübt wird und für die an den Kunsthochschulen jetzt Ausbildungsgänge eingerichtet werden, womit eine neue poietische Wissenschaft in die Welt gesetzt wird.

 

Die berühmteste poietische Wissenschaft ist wohl die „Poetik“, die schon rein sprachlich sehr naheliegt und die von Aristoteles selber in einem eigenen Buch (leider nicht vollständig erhalten) abgehandelt worden ist, welches Buch noch dazu hier von 2007 bis 2010 gelesen worden ist, was wiederum in zwei Merve-Bänden dokumentiert ist. Auch für die anderen eben erwähnten Künste muß es in einer wissenschaftlich orientierten Kultur entsprechende poietische Wissenschaften geben und eine solche Kultur gibt es mit Sicherheit seit Aristoteles. Also gibt es für die Heilkunst, als Hinführung zu ihr, die Heilkunde. Unser modernes Wort „Medizin“ umfaßt beide. Es gibt die Kochkunde, die Gastronomie, die ebenfalls an bestimmten Schulen gelehrt wird. Generell kann man sagen, daß die poietischen Wissenschaften häufig in „Lehren“, also in Ausbildungen bei „Meistern“ praktiziert werden.  

 

Diese Wissenschaftsklassifikation unterscheidet sich gravierend von der neuzeitlichen - aber Kunst- und Technische Hochschulen praktizieren seit langem so etwas wie die poietischen Wissenschaften. Da zeigt sich, daß aristotelische Begrifflichkeit bis heute faktisch funktioniert, auch wenn sie etwa wegen der Kategorie „Wesen“ von eingebildeten Modernen abgelehnt wird.

 

Werfen wir einen Blick in das Leben des Aristoteles, so erfahren wir, daß er mit siebzehn Jahren aus dem weit entfernten Stagira nach Athen gegangen ist, um in der platonischen Akademie zu studieren. Die war so etwas wie eine private Hochschule. Welche Wissenschaften hat man da gelehrt bzw. studiert? Mehr oder weniger solche in statu nascendi und wohl kaum solche, die er später „poietische“ genannt hat. Ein bißchen näher war man wohl an den „praktischen“ Wissenschaften Ethik und Politik, die in Platons Schriften eine große Rolle spielen (wenngleich seine persönlichen Versuche in Sizilien eher unter „Lehrgeld“ fielen). Am ehesten waren es wohl „theoretische“ Wissenschaften, die bei Platon „Dialektik“ hießen oder „Ideenlehre“. Die Geometrie galt als Voraussetzung. 

 

Diese theoretischen Wissenschaften waren seit Sokrates und den Vorsokratikern bereits in einer gewissen Entwicklung begriffen.

 

Aristoteles hat als theoretische Wissenschaften drei namhaft gemacht: Physik als die erste (aber als Philosophie die zweite); dann Mathematik, der er den Titel Philosophie verweigerte (wegen zu schwachen Realitätsbezugs); drittens diejenige, mit deren Titulierung er unsicher war: entweder Erste Philosophie oder Theologie. Sie bekam dann dreihundert Jahre nach seinem Tod mit dem Buchtitel Metaphysik diesen nachträglichen Namen. Der aber die aristotelische Unsicherheit über die Titulierung der dritten theoretischen Wissenschaft nur notdürftig verdeckt. 

 

Die Bezeichnung „Theologie“ für die gesamte dritte theoretische Wissenschaft ist eine krasse Fehlbezeichnung, denn sie trifft nur für höchstens zehn Seiten des Gesamttextes zu. Den überwiegenden Teil nehmen Ausführungen zu einer Wissenschaft vom „Seienden als seienden“ ein, die erst von Aristoteles erfunden worden ist und viel später den Namen „Ontologie“ bekommen hat. 

 

Die Erfindung einer weitgehend neuen Wissenschaft mitsamt dem Einbau einer nicht ganz so neuen „Theologie“, welche direkte Vorläufer bei Vorgängern hat und obendrein sich distant an die Volksreligion anlehnt – das ist eine Erfindung, der man den Titel einer Poesie nicht versagen kann, welcher wiederum nachträglich ein poetisches Können und somit auch eine poietische Lehre zuzusprechen ist. 

 

Insofern alle Wissenschaften von Menschen gemacht sind – Machenschaften, liegt ihnen allesamt Poietisches zugrunde. Denn poietisch heißt „macherisch“ (poetisch = dichterisch). 

Und insofern implizieren sie alle – aristotelisch gedacht – auch poietische Wissenschaften. In denen das aufklärende Sagen, das ordnende Schreiben, das Komponieren eines verständlichen Textes, das schriftstellerische Zusammenbasteln oder -konstruieren eines klaren Schriftgestells gelehrt wird oder worden sein muß. Diese poietischen Wissenschaften hat Aristoteles nicht als solche sondern in seinen diversen und umfangreichen Schriften zur Logik ausgebreitet. 

 

Zur „Wissenschaft vom Seienden als seienden“ fragt Bernd Schmeikal, der von Molekülen gehört hat, die einander spüren, ob da das Seiende sich selber denkt - ? Aristoteles: nur Menschen denken!  Und doch denkt er in seiner Theologie ein hybrides, ein Superwesen, das denkt und nur denkt und zwar nicht mit ohne sondern mit Leben und Lust. Ein Poem in steifer Prosa, das nur zustandekommt, wenn mehrere Wissenschaften davor und daneben durchgezogen worden sind – eine ausführliche Physik, eine kaum lesbare und langwierige und noch nicht gelesene (siehe Buch XIII und XIV) Ontologie …   

 

*

 

Mag sein, daß Rainer Marten mit seinem Buch Denkkunst. Kritik der Ontologie (Freiburg-München 2018) den hier skizzierten quasi aristoteles-immanenten Denkschritt ebenfalls vollzieht. Doch überhöht er ihn derart mit schönen Begriffserweiterungen, daß er kaum sichtbar wird.

 

Walter Seitter

Dienstag, 12. Oktober 2021

In der Metaphysik lesen * Zwischenprotokoll

 

11. Oktober 2021

 

 

Die aristotelische Unterscheidung zwischen poietischen, praktischen und theoretischen Wissenschaften gerät durch die nähere Bestimmung der Theologie in Fraglichkeit, da diese eindeutig den theoretischen Wissenschaften zugeordnet wird, aber gerade im jetzt gelesenen Abschnitt mit „richtig“, „Gutes“, „Bestes“ operiert. Solche Qualitäten oder Kriterien gehören jedenfalls nicht in den Bereich der „theoretischen Vernunft“ im Sinne von Kant. Folglich muß sie bei Aristoteles eine etwas andere Bedeutung haben – nämlich Betrachtung aller Entitäten und Qualitäten darunter auch solcher wie „gut“, „schlecht“, „sinnlos“ und sogar „böse“. Aber eben nur emphatische und empathische Betrachtung und Besprechung ohne irgendwelche Handlungsanweisung, Empfehlung oder dergleichen. Die praktischen Wissenschaften hingegen setzen zwar mit Betrachtungen ein, gehen aber dann über zu Handlungsvorschlägen, -empfehlungen, -problemdarstellungen usw. Die antike „Theorie“ beschränkt sich nicht auf neutrale Tatsachen- und Strukturfeststellungen, sie hat einen weiteren Horizont.

 

Es empfiehlt sich, die drei Modalisierungen nebeneinander aufzuschreiben und in der Vertikalen unterschiedliche Verhaltensweisen einzutragen, dann entsteht so ein Diagramm:

 

 

 

VERNUNFT

 

PHILOSOPHIE

 

WISSENSCHAFTEN

 

LEISTUNGEN

 

 

     POIETISCH           PRAKTISCH              THEORETISCH

 

 

Wo sich die vertikalen Achsen mit der horizontalen treffen, kann man wichtige Phänomene benennen und damit viel Klarheit erzeugen und das aristotelische Denken mit unserer Realitätsauffassung vergleichen. Beispiel: welche poietischen Leistungen gibt es und welche poietischen Wissenschaften?

 

Am Schluß eine kleine Vermutung: auch wenn man die antiken theoretischen Wissenschaften so akzeptiert, wie sie konzipiert waren, muß man an ihnen etwas „Poietisches“ feststellen (sic!). 

 

 

Walter Seitter

Samstag, 9. Oktober 2021

In der Metaphysik lesen (1075a 5 – 25)

6. Oktober 2021

 

 

Das Sonnen-Buch von Francis Ponge, das hier im August und September gelesen worden ist und daher auch in diesen Protokollen dokumentiert ist, hat sich als Kontrast und Supplement zur aristotelischen Metaphysik ausgezeichnet bewährt – im Gegensatz zur Diagnose von Wolfgang Koch, der Ponge mit anderen Dichtern des 20. Jahrhunderts in einen Topf wirft, in den Topf der „Begriffslosigkeit“. In den paßt nun Ponge besonders schlecht, der sein Dichtertum ganz ausdrücklich in die Nähe der Prosa, der Forschung, ja der „Kosmogonie“ rückt.

Er lädt der Sonne alle Kausalkompetenzen auf, die Aristoteles auf die uns bekannte Sonne, die anderen Fixsternen sowie das unwahrnehmbare Unbewegte Bewegende verteilt, weshalb Ponge sie zum „metaphysischen Gegenstand“ ernennt, aber auch zum „ontologischen Gestirn“. Der Begriff „Gegenstand“ (den es so bei Aristoteles nicht gibt), scheint ihm für die Sonne dermaßen unzureichend, daß er ihn mit den Zusatzbegriffen „Gegenspiel“ und „Gegenfreude“ ergänzt. Alle diese Begriffe halten sich im Rahmen des menschlich Verständlichen; Ponge verbleibt mit seiner Charakterisierung der Sonne im Bereich der Physik, den er allerdings mit Psychik und mit Dramatik erweitert. 

Die aristotelische Konzipierung des Unbewegten Bewegenden (die man der Philosophischen Theologie zurechnen kann) haben wir noch nicht vollständig durchmessen. Wir stehen im Abschnitt 9 des Buches XII. Einige besonders heikle gnoseologische Ausführungen haben wir gerade gelesen, sie handeln davon, welche Wissenschaften nicht nur äußere Sachen sondern auch bzw. oder gar ausschließlich sich selber zum Gegenstand haben. Da macht er über die poietischen und die theoretischen Wissenschaften überraschende Aussagen, die jedenfalls sehr deutlich die Frage aufwerfen, ob seine philosophische Theologie tatsächlich ganz und gar auf der Linie der theoretischen Vernunft liegt (Kant sollte mit dieser Linie radikal brechen). Wenn sich Aristoteles hier darauf festlegt, daß bei den theoretischen Wissenschaften der Begriff und das Denken die „Sache“ ist, dann ist das schon deswegen verwunderlich, weil auch die Physik, deren Sache die Körper sind, als theoretische Wissenschaft gilt. Die Sache der Theologie hingegen soll körperlos sein und da mag die Koinzidenz von Denken und Gedachtem kein Problem aufwerfen. Vorausgesetzt, das Gedachte ist nicht zusammengesetzt, teilbar und zeitlicher Veränderung unterworfen. Dies aber ist der Fall bei der „menschlichen Vernunft“, wie Aristoteles hier differenzierend feststellt (1075a 7), welche die zusammengesetzten Dinge und das Gute jeweils für eine bestimmte Zeit denkt, während die davon verschiedene – göttliche? - Vernunft sich so verhält, daß sie das Beste für den gesamten Zeitraum denkt und dabei sich selber denkt. 

 

Sophia Panteliadou stellt fest, daß in ihrer griechischen Textausgabe der ganze Absatz unter einem Fragezeichen steht, die Aussagen also hypothetisch gemacht werden. Problematisierend fährt der Text fort: verfügt die Natur des Ganzen über das Gute und Beste als ein selbständiges An-sich oder als eine Ordnung – oder überlagern sich die beiden Modalitäten (welche man mit neueren Begriffen „transzendent“ bzw. „immanent“ nennen könnte)?

 

Aristoteles plädiert eher für so ein Kombinations- oder Kompromißmodell und führt als konkretes Paradigma das Heer an, das er als allgemein bekanntes Phänomen voraussetzt. Bei dem liegt das Gute (aber er setzt dafür nicht das typisch philosophische Adjektiv-Neutrum ein, sondern das quasi substantivierte Adverb eu ein, welches eine Weise des Verhaltens meint) sowohl in der Ordnung (gemeint ist eine eher horizontale Regulierung) wie auch als der Feldherr – und zwar mehr als solcher (also mehr in einer überlegen ordnenden Instanz) existiert. Es braucht Ordnung - aber zwischen Feldherr und Ordnung besteht ein asymmetrisches Bedingungsverhältnis, in dem der Feldherr der Bedingende ist. 

 

Die philosophische Theologie kommt zustande, indem sie weitermacht und hier macht sie weiter, indem sie das religiöse Vokabular – „Gott“ und dergleichen – wieder fallen läßt. Leichten Herzens läßt sie es fallen, denn es ist damals wie heute endemisch wohlbekannt, begrifflich jedoch eher unverständlich bzw. mißverständlich und irreführend. Aristoteles zieht sich also auf den Minimalbegriff „richtig“, „gedeihlich“ zurück – eine momentane und nicht nur momentane Begriffspolitik, die bescheiden auftritt und gerade deswegen Respekt und Nachahmung verdient. Auch aus solchen trivialen Gründen ist das langsame Lesen dieses angeblich allen schon bekannten Textes gewinnbringend, nützlich – wofür auch immer. 

 

Das Heer war in der Antike – auch schon mit dem anhebenden Imperialismus des 4. Jahrhunderts – eine andere soziale Erscheinung als im Zeitalter autonomisierter Maschinen. Daher kann Aristoteles von diesem Beispiel für Ordnung, Anordnung zu anderen Phänomenen von Zusammenspiel übergehen – ja zu einer allgemeinen Aussage, die in Zeiten von Systemtheorie, Wechselwirkung und Ökologie trivial ist, d. h. notwendig. „Alle Dinge sind irgendwie zusammengeordnet, doch nicht in gleicher Weise, etwa Fische und Vögel und Pflanzen.“ (1075a 16) Er zieht dann das Haus heran, als Lebensgemeinschaft zwischen Freien, Sklaven, Tieren mit abnehmender Verpflichtung auf das Gemeinsame, da ihnen ihre jeweilige Natur unterschiedliche Funktionen für die Realisierung einer Aufgabe zuweist.

Mit diesen Beispielen berührt Aristoteles die Politik und die Ökonomik, also praktische Wissenschaften, die richtiges Verhalten zum Ziel haben, wie überhaupt im Buch XII, wo die „Metaphysik“ ihren Höhepunkt erreichen soll, das Wort „Verhalten“ immer häufiger auftritt. Geleitet durch das bescheidene Adverb eu, das bestimmt nicht auf einer rein theoretischen, neutral-deskriptiven Linie liegt, plädiert Aristoteles in diversen Politikfeldern mit gewissen Menschenmengen für Führerschaft. Seine philosophische Theologie hat einen politischen Einschlag. 

Am kommenden Mittwoch wird Karl Bruckschwaiger aus De essentiis von Hermann von Kärnten vortragen. 

 

Walter Seitter

Freitag, 1. Oktober 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge – Sonne VIII

29. September 2021

 

Bekanntlich habe ich mich – zusammen mit Horst Ebert und Ivo Gurschler – in den letzten Jahrzehnten (die offensichtlich nicht die allerletzten waren) eingehend mit Pierre Klossowski beschäftigt, dem französischen Übersetzer, Schriftsteller, Philosoph und Zeichner, dessen Lebensspanne ungefähr das vorletzte Jahrhundert ausgefüllt hat.[1] Ähnliches gilt von Francis Ponge, dem französischen Dichter, Schriftsteller - ?, mit dem mich seit der Physik des Dasein und der Physik der Medien große Themenlinien verbinden und von dem ich das Büchlein Der Tisch übersetzt habe.[2]

 

Diese beiden französischen Autoren bilden für mein Kulturempfinden zwei weit auseinanderliegende Pole: zum einen eine postnietzeanische und poststrukturalistische Aufgeregtheit, zum anderen eine eher phänomenologisch orientierte „Neue Sachlichkeit“, die sich wenig um berühmte Autoritäten schert. 

 

Tatsächlich gehörten die beiden zu Lebzeiten sehr wohl ungefähr ein und demselben Intellektuellenmilieu an, für das unter anderen auch der Psychoanalytiker Jacques Lacan federführend gewesen ist (auch er ein Zeitgenosse des gesamten Jahrhunderts). Ponge gehörte von Anfang zu den Autoren der 1960 gegründeten Zeitschrift Tel Quel, einem Organ der Pariser Avantgarde, dessen Mitherausgeber Philippe Sollers 1970 einen Gesprächsband mit Ponge herausgebracht hat, als das gesamte Dossier über die Sonne noch nicht erschienen war. Darin macht Ponge betont schlichte Aussagen, wie etwa, daß für ihn die äußere Welt existiert, was also auf eine Art Realismus hinauslaufe, einen erweiterten Realismus, denn die Sprache, also die Wörter sind auch eine Außenwelt und für die Realität, für die Evidenz, für die Dichte dieser Wortwelt sei er ebenso sensibel wie für die Objekte der physischen Welt.[3]

 

 

Ponge hat gerade am „Gegenstand“ Sonne, für den er die Zusatzbegriffe „Gegenspiel“ und „Gegenfreude“ erfunden hat, fremdsprachliche Begriffe wie eben den deutschen „Sonne“ in seine Betrachtung einbezogen, was ihm auch durch gelegentliche Zusammenarbeit mit Helmut Heißenbüttel, Max Bense, Elisabeth Walther in Stuttgart nahegelegt worden ist. 

 

 

Nun trifft es sich, daß der Psychoanalytiker Claude Duprat (Paris), der 2016 Das Buch Klossowski mit Lacan in griechischer Sprache herausgebracht hat, derzeit mit mir über die Ponge-Lektüre korrespondiert und mich etwa darauf aufmerksam macht, daß Lacan bei Ponge die „Gabe des Wortes“, das „Wort als Gabe“ hervorhebt. Und ich kann ihm mitteilen, daß Ponge auch das deutsche Wort „Sonne“, das völlig anders geartete, als Gabe aufgenommen hat und daß er es weitergibt, was alles erst durch die zweisprachige Berliner Ausgabe des Jahres 2020 sichtbar geworden ist und von mir nach Paris weitergegeben wird. Intellektuelle Arbeit an so etwas wie der Sonne muß sich nicht in eine einzige Sprache einschließen.

 

„Man mag es ‚rhetorisch‘ nennen oder ‚kultistisch‘, egal wie, das, was wir als ‚Gegenspiel‘ bezeichnen. In ihm werden die schwindelerregende Dichte und die Absurdität der Sprache so betrachtet und manipuliert, daß durch die Vervielfältigung der Beziehungen und die Kräuselung der Bedeutungen der Funktionszusammenhang  geschaffen wird, der die Dichte, Vielfalt und Strenge der Welt verständlich macht.

 

Wenn wir das nicht ständig leisten konnten, dann beweist das nur, daß es für das Gegenspiel noch zu früh ist, für uns aber zu spät. 

Der Leser, der sich an unseren Zielen bildet und der uns vielleicht in hundert Jahren lesen wird, wird verstanden haben.“ (800)

 

„Was wir gleichwohl beizubehalten suchen mußten, ist eine gewisse Proportion zwischen dem Gloriosen und dem Verstiegenen, die an eine andere Proportion zwischen den Protuberanzen oder sichtbaren Flecken an der Peripherie des Gestirns im Verhältnis zu seiner grandiosen und dauerhaften Kugelform …  erinnern soll. Rühmen wir uns jetzt der prinzipiellen Unvollständigkeit dieses Textes, oder vielmehr seiner paradoxen und sich zurücknehmenden Vollständigkeit? Sie rührt her von jener Vervielfältigung der Gesichtspunkte, zwischen denen, in unserer Epoche, kein redlicher Charakter letzten Endes wählen kann. So konnten wir die Sonne, die wir nicht beherrschen können, nur zum Ziel oder in den Abgrund setzen … Denn genau daran finden wir Geschmack oder Gefallen: an der Lust am Schwierigen …“ (806)

 

In der Notiz zu einem Detail hatte Ponge zunächst die „Abweichung im Fall der Atome“ vermerkt, sodann aber gestrichen …. Ein Detail in der Atomenlehre Epikurs, der abweichend von Demokrit nicht nur Atome und leeren Raum annimmt, sondern eine minimale Abweichung in den Parallelregen der fallenden Atome einführt …. Lukrez spricht hier von clinamen und von örtlicher sowie zeitlicher Unbestimmtheit, die Ponge auch für die Wortentstehung in Anspruch nimmt.

 

Das Wir

 

(hier lauert die Gefahr des Hochmutes)

Wir (das wir ist der zeitliche Aufruhr des ich, 

die zeitliche Sphäre des ich, die dritte 

(zeitliche) Dimension des ich)

 

Die Sonne und das Denken

 

Die Sonne ist ein so blendendes Objekt, daß 

keiner der überlegenen Geister sie für längere Zeit ins Auge fassen,

folglich im Hinblick auf sie immer nur Aphorismen vorbringen konnte …“ (830)

 

 

Die beiden unterstrichenen Wortgruppen sehen im Französischen so aus:

 

Le Nous

 

und

 

Le soleil et la pensee

 

was griechisch-buchstäblich aber auch französisch-semantisch doch wieder an den „überlegenen Geist“ denken läßt, der im Buch XII der Metaphysik das Erste Prinzip viel kürzer abhandelt als nach dem Plan vorgesehen, der das Gesamtwerk „Theologie“ nennen wollte. Stattdessen hat er eine ziemlich neue -logie ausgebreitet, die erst 2000 Jahre später den Namen Ontologie bekommen hat, den wiederum Ponge hier an prominenter Stelle einmal einsetzt. Auch sein – nachträglich zusammengestelltes – Buch entwirft sich auf eine noch längere Posthumität hin, sodaß wir gerade noch oder schon die Chance haben, es zu lesen. 

 

Posthume Bücher mit nachträglichen Lesern.

 

Noch überlegener wären Geister, die jetzt schon sagen können, was jetzt not tut. Könnten es selbe Geister sein?

 

 

 

 … DIE SONNE IN GLÄNZENDER STELLUNG … DIE SONNE IN SCHWIERIGKEITEN … DIE SONNE IN KOMPOSITION … DIE SONNE IN GEFAHR DURCH WÖRTER …DIE SONNE IN SINGULÄRER STELLUNG … DIE SONNE IN VORTEILHAFTER HALTUNG … IN DIVERSEN STELLUNGEN … IN VARIABLEN STELLUNGEN … IN IHRER LETZTEN STELLUNG … IN NEUER STELLUNG … IN POSITUR GEWORFEN … IN POSITUR GEWORFEN … IN DER LAGE GESAGT ZU WERDEN … IN VERBALER POSITUR .. IN DEN ABGRUND POSTIERTE SONNE … SONNE AM ENDE AUFGESPIESST … SONNE IN VERSCHIEDENEN STELLUNGEN … DIE SONNE IN DEN ABGRUND GESTOSSEN … DIE SONNE IN ABGRÜNDIGER STELLUNG  .. IN LINKISCHER STELLUNG  …“ (836)

 

Eine lose Aneinanderreihung von Titulierungen, die nicht titriert, nicht durchgeführt, auf die Probe gestellt werden, überprüft werden. Das Buch könnte noch weiter ausgeführt werden, dann würde es noch nachträglicher und posthumer werden. 

 

Ich aber schließe diese Lektüre des Sonnenbuches hiermit ab, welche einen Kontrast wie auch ein Supplement zur Lektüre der Metaphysik bildet, die ihrerseits noch immer nicht abgeschlossen ist.

 

Wenn Ponge die Sonne mit einer gewissen Feierlichkeit „das ontologische Gestirn“ (766) nennt, dann ist auch das eine bloße Überschrift, die nichts über ihre Stellung im Kosmos oder gar über dem Kosmos aussagt. Für den Ontologen sagt sie nur aus, daß die Sonne so wie jedes Ding oder Unding gewisse formale Eigenschaften aufweist, die in der „formalistischen“ Disziplin namens „Ontologie“ gesammelt und klassifiziert werden. In der sogenannten Metaphysik ist diese Disziplin begründet und ausführlich ausgeführt worden – wohl kaum vollständig. 

 

An diesen Schluß setze ich meinerseits ein Detailfoto von der amerikanischen Artistin Tanner Mayes: einen nächtlichen Stern, eine kleine Gegensonne.

 

 

 


 

Am nächsten Mittwoch, dem 6. Oktober, wird wieder Aristoteles gelesen: Metaphysik 1075a 5ff.

 

Walter Seitter