τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Samstag, 9. Oktober 2021

In der Metaphysik lesen (1075a 5 – 25)

6. Oktober 2021

 

 

Das Sonnen-Buch von Francis Ponge, das hier im August und September gelesen worden ist und daher auch in diesen Protokollen dokumentiert ist, hat sich als Kontrast und Supplement zur aristotelischen Metaphysik ausgezeichnet bewährt – im Gegensatz zur Diagnose von Wolfgang Koch, der Ponge mit anderen Dichtern des 20. Jahrhunderts in einen Topf wirft, in den Topf der „Begriffslosigkeit“. In den paßt nun Ponge besonders schlecht, der sein Dichtertum ganz ausdrücklich in die Nähe der Prosa, der Forschung, ja der „Kosmogonie“ rückt.

Er lädt der Sonne alle Kausalkompetenzen auf, die Aristoteles auf die uns bekannte Sonne, die anderen Fixsternen sowie das unwahrnehmbare Unbewegte Bewegende verteilt, weshalb Ponge sie zum „metaphysischen Gegenstand“ ernennt, aber auch zum „ontologischen Gestirn“. Der Begriff „Gegenstand“ (den es so bei Aristoteles nicht gibt), scheint ihm für die Sonne dermaßen unzureichend, daß er ihn mit den Zusatzbegriffen „Gegenspiel“ und „Gegenfreude“ ergänzt. Alle diese Begriffe halten sich im Rahmen des menschlich Verständlichen; Ponge verbleibt mit seiner Charakterisierung der Sonne im Bereich der Physik, den er allerdings mit Psychik und mit Dramatik erweitert. 

Die aristotelische Konzipierung des Unbewegten Bewegenden (die man der Philosophischen Theologie zurechnen kann) haben wir noch nicht vollständig durchmessen. Wir stehen im Abschnitt 9 des Buches XII. Einige besonders heikle gnoseologische Ausführungen haben wir gerade gelesen, sie handeln davon, welche Wissenschaften nicht nur äußere Sachen sondern auch bzw. oder gar ausschließlich sich selber zum Gegenstand haben. Da macht er über die poietischen und die theoretischen Wissenschaften überraschende Aussagen, die jedenfalls sehr deutlich die Frage aufwerfen, ob seine philosophische Theologie tatsächlich ganz und gar auf der Linie der theoretischen Vernunft liegt (Kant sollte mit dieser Linie radikal brechen). Wenn sich Aristoteles hier darauf festlegt, daß bei den theoretischen Wissenschaften der Begriff und das Denken die „Sache“ ist, dann ist das schon deswegen verwunderlich, weil auch die Physik, deren Sache die Körper sind, als theoretische Wissenschaft gilt. Die Sache der Theologie hingegen soll körperlos sein und da mag die Koinzidenz von Denken und Gedachtem kein Problem aufwerfen. Vorausgesetzt, das Gedachte ist nicht zusammengesetzt, teilbar und zeitlicher Veränderung unterworfen. Dies aber ist der Fall bei der „menschlichen Vernunft“, wie Aristoteles hier differenzierend feststellt (1075a 7), welche die zusammengesetzten Dinge und das Gute jeweils für eine bestimmte Zeit denkt, während die davon verschiedene – göttliche? - Vernunft sich so verhält, daß sie das Beste für den gesamten Zeitraum denkt und dabei sich selber denkt. 

 

Sophia Panteliadou stellt fest, daß in ihrer griechischen Textausgabe der ganze Absatz unter einem Fragezeichen steht, die Aussagen also hypothetisch gemacht werden. Problematisierend fährt der Text fort: verfügt die Natur des Ganzen über das Gute und Beste als ein selbständiges An-sich oder als eine Ordnung – oder überlagern sich die beiden Modalitäten (welche man mit neueren Begriffen „transzendent“ bzw. „immanent“ nennen könnte)?

 

Aristoteles plädiert eher für so ein Kombinations- oder Kompromißmodell und führt als konkretes Paradigma das Heer an, das er als allgemein bekanntes Phänomen voraussetzt. Bei dem liegt das Gute (aber er setzt dafür nicht das typisch philosophische Adjektiv-Neutrum ein, sondern das quasi substantivierte Adverb eu ein, welches eine Weise des Verhaltens meint) sowohl in der Ordnung (gemeint ist eine eher horizontale Regulierung) wie auch als der Feldherr – und zwar mehr als solcher (also mehr in einer überlegen ordnenden Instanz) existiert. Es braucht Ordnung - aber zwischen Feldherr und Ordnung besteht ein asymmetrisches Bedingungsverhältnis, in dem der Feldherr der Bedingende ist. 

 

Die philosophische Theologie kommt zustande, indem sie weitermacht und hier macht sie weiter, indem sie das religiöse Vokabular – „Gott“ und dergleichen – wieder fallen läßt. Leichten Herzens läßt sie es fallen, denn es ist damals wie heute endemisch wohlbekannt, begrifflich jedoch eher unverständlich bzw. mißverständlich und irreführend. Aristoteles zieht sich also auf den Minimalbegriff „richtig“, „gedeihlich“ zurück – eine momentane und nicht nur momentane Begriffspolitik, die bescheiden auftritt und gerade deswegen Respekt und Nachahmung verdient. Auch aus solchen trivialen Gründen ist das langsame Lesen dieses angeblich allen schon bekannten Textes gewinnbringend, nützlich – wofür auch immer. 

 

Das Heer war in der Antike – auch schon mit dem anhebenden Imperialismus des 4. Jahrhunderts – eine andere soziale Erscheinung als im Zeitalter autonomisierter Maschinen. Daher kann Aristoteles von diesem Beispiel für Ordnung, Anordnung zu anderen Phänomenen von Zusammenspiel übergehen – ja zu einer allgemeinen Aussage, die in Zeiten von Systemtheorie, Wechselwirkung und Ökologie trivial ist, d. h. notwendig. „Alle Dinge sind irgendwie zusammengeordnet, doch nicht in gleicher Weise, etwa Fische und Vögel und Pflanzen.“ (1075a 16) Er zieht dann das Haus heran, als Lebensgemeinschaft zwischen Freien, Sklaven, Tieren mit abnehmender Verpflichtung auf das Gemeinsame, da ihnen ihre jeweilige Natur unterschiedliche Funktionen für die Realisierung einer Aufgabe zuweist.

Mit diesen Beispielen berührt Aristoteles die Politik und die Ökonomik, also praktische Wissenschaften, die richtiges Verhalten zum Ziel haben, wie überhaupt im Buch XII, wo die „Metaphysik“ ihren Höhepunkt erreichen soll, das Wort „Verhalten“ immer häufiger auftritt. Geleitet durch das bescheidene Adverb eu, das bestimmt nicht auf einer rein theoretischen, neutral-deskriptiven Linie liegt, plädiert Aristoteles in diversen Politikfeldern mit gewissen Menschenmengen für Führerschaft. Seine philosophische Theologie hat einen politischen Einschlag. 

Am kommenden Mittwoch wird Karl Bruckschwaiger aus De essentiis von Hermann von Kärnten vortragen. 

 

Walter Seitter

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen