τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 1. Oktober 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge – Sonne VIII

29. September 2021

 

Bekanntlich habe ich mich – zusammen mit Horst Ebert und Ivo Gurschler – in den letzten Jahrzehnten (die offensichtlich nicht die allerletzten waren) eingehend mit Pierre Klossowski beschäftigt, dem französischen Übersetzer, Schriftsteller, Philosoph und Zeichner, dessen Lebensspanne ungefähr das vorletzte Jahrhundert ausgefüllt hat.[1] Ähnliches gilt von Francis Ponge, dem französischen Dichter, Schriftsteller - ?, mit dem mich seit der Physik des Dasein und der Physik der Medien große Themenlinien verbinden und von dem ich das Büchlein Der Tisch übersetzt habe.[2]

 

Diese beiden französischen Autoren bilden für mein Kulturempfinden zwei weit auseinanderliegende Pole: zum einen eine postnietzeanische und poststrukturalistische Aufgeregtheit, zum anderen eine eher phänomenologisch orientierte „Neue Sachlichkeit“, die sich wenig um berühmte Autoritäten schert. 

 

Tatsächlich gehörten die beiden zu Lebzeiten sehr wohl ungefähr ein und demselben Intellektuellenmilieu an, für das unter anderen auch der Psychoanalytiker Jacques Lacan federführend gewesen ist (auch er ein Zeitgenosse des gesamten Jahrhunderts). Ponge gehörte von Anfang zu den Autoren der 1960 gegründeten Zeitschrift Tel Quel, einem Organ der Pariser Avantgarde, dessen Mitherausgeber Philippe Sollers 1970 einen Gesprächsband mit Ponge herausgebracht hat, als das gesamte Dossier über die Sonne noch nicht erschienen war. Darin macht Ponge betont schlichte Aussagen, wie etwa, daß für ihn die äußere Welt existiert, was also auf eine Art Realismus hinauslaufe, einen erweiterten Realismus, denn die Sprache, also die Wörter sind auch eine Außenwelt und für die Realität, für die Evidenz, für die Dichte dieser Wortwelt sei er ebenso sensibel wie für die Objekte der physischen Welt.[3]

 

 

Ponge hat gerade am „Gegenstand“ Sonne, für den er die Zusatzbegriffe „Gegenspiel“ und „Gegenfreude“ erfunden hat, fremdsprachliche Begriffe wie eben den deutschen „Sonne“ in seine Betrachtung einbezogen, was ihm auch durch gelegentliche Zusammenarbeit mit Helmut Heißenbüttel, Max Bense, Elisabeth Walther in Stuttgart nahegelegt worden ist. 

 

 

Nun trifft es sich, daß der Psychoanalytiker Claude Duprat (Paris), der 2016 Das Buch Klossowski mit Lacan in griechischer Sprache herausgebracht hat, derzeit mit mir über die Ponge-Lektüre korrespondiert und mich etwa darauf aufmerksam macht, daß Lacan bei Ponge die „Gabe des Wortes“, das „Wort als Gabe“ hervorhebt. Und ich kann ihm mitteilen, daß Ponge auch das deutsche Wort „Sonne“, das völlig anders geartete, als Gabe aufgenommen hat und daß er es weitergibt, was alles erst durch die zweisprachige Berliner Ausgabe des Jahres 2020 sichtbar geworden ist und von mir nach Paris weitergegeben wird. Intellektuelle Arbeit an so etwas wie der Sonne muß sich nicht in eine einzige Sprache einschließen.

 

„Man mag es ‚rhetorisch‘ nennen oder ‚kultistisch‘, egal wie, das, was wir als ‚Gegenspiel‘ bezeichnen. In ihm werden die schwindelerregende Dichte und die Absurdität der Sprache so betrachtet und manipuliert, daß durch die Vervielfältigung der Beziehungen und die Kräuselung der Bedeutungen der Funktionszusammenhang  geschaffen wird, der die Dichte, Vielfalt und Strenge der Welt verständlich macht.

 

Wenn wir das nicht ständig leisten konnten, dann beweist das nur, daß es für das Gegenspiel noch zu früh ist, für uns aber zu spät. 

Der Leser, der sich an unseren Zielen bildet und der uns vielleicht in hundert Jahren lesen wird, wird verstanden haben.“ (800)

 

„Was wir gleichwohl beizubehalten suchen mußten, ist eine gewisse Proportion zwischen dem Gloriosen und dem Verstiegenen, die an eine andere Proportion zwischen den Protuberanzen oder sichtbaren Flecken an der Peripherie des Gestirns im Verhältnis zu seiner grandiosen und dauerhaften Kugelform …  erinnern soll. Rühmen wir uns jetzt der prinzipiellen Unvollständigkeit dieses Textes, oder vielmehr seiner paradoxen und sich zurücknehmenden Vollständigkeit? Sie rührt her von jener Vervielfältigung der Gesichtspunkte, zwischen denen, in unserer Epoche, kein redlicher Charakter letzten Endes wählen kann. So konnten wir die Sonne, die wir nicht beherrschen können, nur zum Ziel oder in den Abgrund setzen … Denn genau daran finden wir Geschmack oder Gefallen: an der Lust am Schwierigen …“ (806)

 

In der Notiz zu einem Detail hatte Ponge zunächst die „Abweichung im Fall der Atome“ vermerkt, sodann aber gestrichen …. Ein Detail in der Atomenlehre Epikurs, der abweichend von Demokrit nicht nur Atome und leeren Raum annimmt, sondern eine minimale Abweichung in den Parallelregen der fallenden Atome einführt …. Lukrez spricht hier von clinamen und von örtlicher sowie zeitlicher Unbestimmtheit, die Ponge auch für die Wortentstehung in Anspruch nimmt.

 

Das Wir

 

(hier lauert die Gefahr des Hochmutes)

Wir (das wir ist der zeitliche Aufruhr des ich, 

die zeitliche Sphäre des ich, die dritte 

(zeitliche) Dimension des ich)

 

Die Sonne und das Denken

 

Die Sonne ist ein so blendendes Objekt, daß 

keiner der überlegenen Geister sie für längere Zeit ins Auge fassen,

folglich im Hinblick auf sie immer nur Aphorismen vorbringen konnte …“ (830)

 

 

Die beiden unterstrichenen Wortgruppen sehen im Französischen so aus:

 

Le Nous

 

und

 

Le soleil et la pensee

 

was griechisch-buchstäblich aber auch französisch-semantisch doch wieder an den „überlegenen Geist“ denken läßt, der im Buch XII der Metaphysik das Erste Prinzip viel kürzer abhandelt als nach dem Plan vorgesehen, der das Gesamtwerk „Theologie“ nennen wollte. Stattdessen hat er eine ziemlich neue -logie ausgebreitet, die erst 2000 Jahre später den Namen Ontologie bekommen hat, den wiederum Ponge hier an prominenter Stelle einmal einsetzt. Auch sein – nachträglich zusammengestelltes – Buch entwirft sich auf eine noch längere Posthumität hin, sodaß wir gerade noch oder schon die Chance haben, es zu lesen. 

 

Posthume Bücher mit nachträglichen Lesern.

 

Noch überlegener wären Geister, die jetzt schon sagen können, was jetzt not tut. Könnten es selbe Geister sein?

 

 

 

 … DIE SONNE IN GLÄNZENDER STELLUNG … DIE SONNE IN SCHWIERIGKEITEN … DIE SONNE IN KOMPOSITION … DIE SONNE IN GEFAHR DURCH WÖRTER …DIE SONNE IN SINGULÄRER STELLUNG … DIE SONNE IN VORTEILHAFTER HALTUNG … IN DIVERSEN STELLUNGEN … IN VARIABLEN STELLUNGEN … IN IHRER LETZTEN STELLUNG … IN NEUER STELLUNG … IN POSITUR GEWORFEN … IN POSITUR GEWORFEN … IN DER LAGE GESAGT ZU WERDEN … IN VERBALER POSITUR .. IN DEN ABGRUND POSTIERTE SONNE … SONNE AM ENDE AUFGESPIESST … SONNE IN VERSCHIEDENEN STELLUNGEN … DIE SONNE IN DEN ABGRUND GESTOSSEN … DIE SONNE IN ABGRÜNDIGER STELLUNG  .. IN LINKISCHER STELLUNG  …“ (836)

 

Eine lose Aneinanderreihung von Titulierungen, die nicht titriert, nicht durchgeführt, auf die Probe gestellt werden, überprüft werden. Das Buch könnte noch weiter ausgeführt werden, dann würde es noch nachträglicher und posthumer werden. 

 

Ich aber schließe diese Lektüre des Sonnenbuches hiermit ab, welche einen Kontrast wie auch ein Supplement zur Lektüre der Metaphysik bildet, die ihrerseits noch immer nicht abgeschlossen ist.

 

Wenn Ponge die Sonne mit einer gewissen Feierlichkeit „das ontologische Gestirn“ (766) nennt, dann ist auch das eine bloße Überschrift, die nichts über ihre Stellung im Kosmos oder gar über dem Kosmos aussagt. Für den Ontologen sagt sie nur aus, daß die Sonne so wie jedes Ding oder Unding gewisse formale Eigenschaften aufweist, die in der „formalistischen“ Disziplin namens „Ontologie“ gesammelt und klassifiziert werden. In der sogenannten Metaphysik ist diese Disziplin begründet und ausführlich ausgeführt worden – wohl kaum vollständig. 

 

An diesen Schluß setze ich meinerseits ein Detailfoto von der amerikanischen Artistin Tanner Mayes: einen nächtlichen Stern, eine kleine Gegensonne.

 

 

 


 

Am nächsten Mittwoch, dem 6. Oktober, wird wieder Aristoteles gelesen: Metaphysik 1075a 5ff.

 

Walter Seitter

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