τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 28. Februar 2022

In der Metaphysik lesen (1077a 31 – 1078b 7)

23. Februar 2022

 

Wendet man die aristotelische Wahrnehmungslehre (mit dem Getrennt-Sein der beiden Seiten und dem Koinzidieren ihrer Aktualisierungen) auf den Vorgang des Lesens an, so führt das zu einem Lese-Verständnis, welches sowohl beim Leser wie auch beim Text Aktivierungen annimmt, die zu ein und derselben geworden sein müssen. Auch die wird jedoch nicht in jedem Fall so reichhaltig ausfallen wie beim Ereignis auf der Hohen Brücke zu vermuten war. Das Schwierige oder Unvollständige oder Divergierende erfahren wir beim Lesen der Metaphysik auf dem Hohen Markt seit vielen Jahren und jemand wie Lacan hat das selbst in Paris, einem Hoch-Ort des intellektuellen Lebens, ebenfalls im Hinblick auf dieses Buch gesehen und gesagt – also gedacht.

 

Im Buch XIII sind wir von der aristotelischen Theologie heruntergefallen auf Ernüchterungen betreffend den Realitätsgehalt der mathematischen „Dinge“. 

 

Im Unterschied zu Edwin A. Abbott weigert sich Aristoteles – jedenfalls hier -, den Hypersensualisten oder Surrealisten zu geben. Was nur aus Punkten oder Linien oder Flächen besteht, kann nicht wirklich bestehen. Nur ein Körper ist so vollendet, daß er ein Wesen ist und existieren kann. 

 

Dem Begriff nach mögen die mathematischen Dinge früher, im Sinn von elementarer sein. Wie die Dinge früher sind, aus deren Begriffen, die Begriffe der anderen Dinge zusammengesetzt sind. Affektionen wie etwa das Weiße oder das Bewegte sind elementarer als der weiße Mensch. Aber dem Wesen nach ist dieser, also das Zusammengesetzte, vorrangig. Das Weiße kann nicht selbständig existieren, das kann nur der Mensch.

 

Übrigens folgt Aristoteles nicht der modernen Redensart, wonach das Weiß keine Farbe ist. Weiß ist ebenso eine Farbe wie gelb oder rot. Alle Körper - jedenfalls die allermeisten - haben irgendwelche Farben. Weiß ist nur eine davon. Wenn Aristoteles zumeist von weißen Menschen spricht, dann sagt er implizit auch: das sind die mit dieser Farbe. Unfarbige Menschen gibt es nicht – die wären damit auch unsichtbar. Nicht einmal Edwin A. Abbott, der die Menschen (und die anderen Dinge) auf pure Geometrie reduziert hat, hat ihnen die Farben genommen. 

 

Diese Überlegungen führen also zur Feststellung, daß die mathematischen Dinge, indem sie nicht im vollen Sinn, in der Art der Wesen sind, aber auch nicht gar nicht sind, auf eine spezielle Weise „sind“ – was wiederum in die Aussage mündet „Denn vom Sein sprechen wir in vielfachen Bedeutungen.“ (107b 17).

 

Eine Neuformulierung des Grundsatzes der Ontologie, die eine kleine Wendung gegenüber den vielen früheren Formulierungen aufweist: der Infinitiv „sein“ macht das Verbale stärker als das nominale „Seiende“. Diese kleine sprachliche Wendung, die sich im Buch XIII bemerkbar macht, betont vor allem die Unterscheidung zwischen dem Selbständig-Sein und dem Unselbständig-Sein.

 

Wenn etwas „nur“ unselbständig ist, läuft es „natürlich“ Gefahr (das ist die Natürlichkeit der Grobiane, um nicht zu sagen der Darwinisten), daß ihm das Sein überhaupt abgesprochen wird. Dagegen muß ihm die Philosophie mit feinen Unterscheidungen zu Hilfe kommen, indem sie die feinen Unterschiede wahrnimmt, in Worte faßt und damit auch rettet. Da das Selbständig-Sein bei Aristoteles dem Extra-Dasein angenähert wird, wofür sich wiederum das lateinische und auch moderne Existieren anbietet, könnte man meinen, dieses Wort in diesem Sinn zu verwenden und zu sagen, das Mathematische oder die Akzidenzien „existieren“ nicht, sondern sie sind auf andere Weise: sie gelten, sie immanieren oder dergleichen. 

 

Trotzdem klingt die Aussage „x existiert nicht“ wie ein Todesurteil, das man – auch wenn man irgendwie dennoch gegeben ist – kaum überlebt. Daher sollte man mit Aussagen wie x oder y existieren nicht, vorsichtig sein. Es sei denn, man hat Freude daran, das, was einem nicht paßt, in die Inexistenz abzuschieben.

 

Dieses Vergnügen hat sich in der Moderne stark ausgebreitet und ich möchte ihm sogar einen theoretischen Ehrentitel verleihen und von „Inexistenzialismus“ sprechen. Jeder darf danach greifen. Für die Frankophilen erinnere ich an die zackige Formel  „. . . n’existe pas“.

 

Da Aristoteles vieles wußte, hat auch er schon gewußt, daß bestimmte Akzidenzien besonders interessant und vielleicht sogar wichtig sind. Gerade solche Sachen (so Aristoteles), bei denen es besonders auf die Individualität ankommt, spielen gewisse Affektionen, besser gesagt, gewisse Empfänglichkeiten, eine wichtige Rolle, die sogar, obwohl akzidenziell, mit Notwendigkeit vorkommen – nämlich beim Lebewesen, das entweder als weibliches oder als männliches (in dieser Reihenfolge) ist – ohne daß es etwas Weibliches oder etwas Männliches unabhängig von den Lebewesen gibt ( siehe 1078a 6ff.).  

 

Als Oberbegriff setzt Aristoteles hier nicht das einschlägige genos ein, sondern das unspezifische pathos.  

 

Hingegen sind wir bei unserer Parallellektüre, nämlich bei Hermann von Kärnten (12. Jahrhundert) schon auf das moderne Wort sexus gestoßen, der es denn auch im modernen Sinn versteht (obwohl er mit seiner Epochen- und Standeszugehörigkeit dies gar nicht dürfte). Wie ich als Übersetzer von Michel Foucaults Geschichte der Sexualität gemerkt habe, ist mit diesem Wort ein Erfahrungsfeld neu gegliedert worden – wobei die philosophische Aufmerksamkeit gut daran tut, die begrifflichen Strukturen nicht unbedacht mit den realitätsmäßigen zu identifizieren, also zu versuchen, die Genauigkeit und die Stimmigkeit der jeweiligen Bezeichnungen zu überprüfen. 

 

Dabei ist sich Aristoteles dessen bewußt, daß die Wissenschaftler mit ihren Aussagen Zeichen einführen, die von den Gegenständen zu unterscheiden sind. 

 

Er bringt ein ganz elementares Beispiel mit jemandem, der etwas in den Sand zeichnet und sagt, diese Linie sei einen Fuß lang – obwohl das so nicht stimmt (und im übrigen gibt es im Sand kaum eine Linie im geometrischen Sinn). Aber mit derartigen Identifizierungen kann die Wissenschaft, können sogar die Gegenstände der Wissenschaft leben, wenn sie richtig verstanden werden.[1]

 

Aristoteles schreitet aber noch weiter fort und sein Fortschritt erreicht die Schärfe der Wissenschaftskritik, wie sie seit dem 20. Jahrhundert (ich meine jetzt das zweite 20. Jahrhundert) üblich ist.

 

„Doch der Geometer betrachtet den Menschen nicht, insofern er Mensch ist, auch nicht, insofern er unzerlegbar ist, sondern insofern er Körper ist, harter oder geometrischer. Denn was an ihm, auch wenn er nicht unzerlegbar wäre, bestünde, das kann an ihm auch ohne diese Dinge bestehen. Daher sprechen die Geometer richtig und sie sprechen von Seienden und Seiende existieren. Denn Seiendes gibt es in zweierlei Sinn: einereits in Vollendung, andererseits stofflich.“ (1078a 25ff.)

 

Aristoteles verteidigt also die Geometer, obwohl sie den Menschen wesenswidrig geometrisieren: als zerlegbar betrachten. Denn damit verweisen sie auf etwas, was über den Menschen hinausgeht: auf die große Spannung innnerhalb der Gesamtrealität: zwischen Vollendung und Stofflichem.

 

Ich nehme an, die Verteidigung der Geometer ist für Aristoteles möglich, sofern diese sich als solche kenntlich machen. Dann aber gesteht er ihnen zu, daß sie mit der Thematisierung der Zerlegung die Polarität zwischen Vollendung und Stofflichkeit aufzeigen. 

 

(Man könnte die These vertreten, daß der Psychoanalytiker Jacques Lacan, der bereits als spezieller Kenner der Metaphysik-Problematik auffällig geworden ist, indem er die erweiterte Geometrie (und Zeichenkunst!) namens Topologie in den Menschen eingeschrieben und diesen zwischen Imaginärem, Symbolischem, Realem zerlegt hat, die Geometrisierung des Menschen auf die Spitze getrieben hat.)[2]

 

Er holt weiter aus und versteigt sich zu der Behauptung, das Gute (das in Handlungen vorkomme, also moralischer Art sei) und das Schöne (das auch an unbelebten Körpern vorkomme) werde sehr wohl von den mathematischen Wissenschaften behandelt. Sie würden sehr wohl von ihnen besprochen und aufgezeigt. Und wenn sie sie nicht nennen, so weisen sie doch ihre Werke und ihre Verhältnisse auf.

 

Die deutschen Übersetzungen, die mir vorliegen, wollen den Aristoteles ständig auf ein Beweisen festlegen, wo er nur von Zeigen spricht. Aristoteles hat eine lockere Inklusion von Sagen und Zeigen im Sinn (wo Wittgenstein später eine strikte Disjunktion voraussetzt). Das Schöne zeige sich vor allem in Ordnung, Gleichmaß und Begrenztheit und eben die werden am meisten von den mathematischen Wissenschaften aufgewiesen. 

 

Mit diesen Implikationen erweist sich das Schöne als Ursache vieler Dinge, Quasi-Ursache gewissermaßen. „Deutlicher werden wir darüber noch an einer anderen Stelle sprechen.“ (1078a 7)

 

Diese für die Zukunft in Aussicht genommene Stelle läßt sich im vorliegenden Text nicht finden, der hier also unvollendet erscheint. Wir befinden uns an der Abbruchkante des Geschriebenen. Es dürfte aber wohl die eine oder andere Stelle im davor liegenden Text geben, wo die Sache mit jener Irgendwie-Ursache schon angedeutet ist. 

 

Erstaunlich bleibt, wie Aristoteles hier den mathematischen Wissenschaften mehr Aktivitäten und Leistungen zutraut als anderswo. 

 

Walter Seitter

 




[1] Zeichnen in den Sand, Schreiben auf der Erde – solche „geographischen“ Praktiken waren in der Antike offensichtlich üblich – überliefert sind sie von Platon, von Jesus. 

[2] Siehe Walter Seitter: Jaques Lacan als Zeichner, in: ders.: Jacques Lacan und  (Berlin 1984) 

Mittwoch, 23. Februar 2022

Manfred Hulverscheidt: Künste, Wissenschaften und Philosophien

 

A Metaphysik – Kunst

Entscheidend für den Begriff der Kunst im Unterschied zu Wissenschaft und Philosophie ist für mich die dritte Bedeutung der dynamis, Betonung auf „y“. Nach a) der Fähigkeit, in einem anderen etwas zu bewegen oder zu verändern (kínesis, metabole), b) der Fähigkeit, diese kinetischen und metabolischen Veränderungen zu erleiden, erscheint als c) „die Fähigkeit, etwas schön oder nach Vorsatz auszuführen“ (A 1019a22) bzw. die Fähigkeit, die Ausführung dieser Vorsätze zu ertragen. Ich denke hier sofort an die Schöne Querulantin (La Belle Noiseuse) in dem Film von Jacques Rivette (1991). Aber auch das vierte Vermögen, die Immunität gegen Beschädigung und Zerstörung, ist für die Kunst an sich wichtig, auch wenn das Unzerstörbare nur im Heiligenschein eines großen Kunstwerks oder Künstlers besteht. Es ist das Vermögen zur Güte in einem idealen, nicht unbedingt stofflichen Sinne.

Zu diesem Kunstbegriff sagt Rainer Marten: „Mit eigener Verantwortung nehmen sich die Künste je bestimmter menschlicher Vermögen an, um sie für sich selbst zu brauchen und fruchtbar zu machen. Zu denken ist an Bildkunst, Schauspiel, Musik, Tanz, Dichtung und eben Denkkunst.“ (RM 200)

Ich bin stutzig. Kann ich demnach sagen: Jemand kann besonders bewegend, schön und gut denken und dann sagen, er sein ein Denkkünstler? so wie: Jemand kann besonders gut Tonstücke schreiben und musizieren, also betreibt er Musikkunst usw.? Schließlich kann man alles im Sinne von Gutsein und Schlechtsein verschärfen und generalisieren und daraus einen Kunstbegriff abstrahieren: die besondere Finesse, die sich in jeder Disziplin herauskitzeln lässt, und diese, von wem auch immer begutachtet, macht dann den Heilkünstler aus und unterscheidet ihn vom gewöhnlichen Kassenarzt oder den Dirigenten vom dritten Flötisten in einem Orchester.

Martens Versuch, die Denklehre (Noetik) als analoge Disziplin im Verhältnis zur objektiven Methodik des Wissenschaftlers oder zur subjektiven Entschiedenheit bzw. Finesse eines Künstlers der Kunst zu setzen, geht insofern in die richtige Richtung, als er süßlichen Vermischungen durch Beharren auf dem Denken als besonderer Disziplin den Weg versperrt. Aber ist es nicht dennoch besser, einen kreativen Wissenschaftler als genialen Entdecker, einen Künstler als entscheidendes Subjekt einer selbstbewussten Kunst, einen Sucher der Weisheit, der in der Erfahrung die Prinzipien der Weisheit aufsucht, diese befragt, jene buchstabiert, beide durchdenkt, schlicht einen Philosophen zu nennen?

Woher diese Scheu, statt mutig zu tradierten Wesensvorstellungen (Wissenschaft, Kunst, Weisheit) zu greifen, zu Amalgamen oder Bindestrichen aller Art Zuflucht zu nehmen? Als sei das Technisch-Handwerkliche bloß Mimesis, unterste Wahrnehmungsstufe, dagegen ‚das Subjektive‘, das ‚emotional Bewegende‘ als das für die Kunst Charakteristische hervorzuheben, das den eigentlichen Bildhauer, Komponisten, Schauspieler, Maler ausmacht und mit diesem oder jenem Wissenschaftler der Quantenphysik auf eine Stufe stellt. Der feuilletonistische Gedankenkitsch kann dann rasch losgelassen werden: Warum verzaubert diese Skulptur den Platz, verzückt dieses Musikwerk den Hörer, hypnotisiert dieser Film den Zuschauer, revolutioniert diese Formel unser gesamtes Weltbild, wirft ein einziger Gedanke all unsere Vorstellungen vom Anfang und Ende der Welt um?

Ist es am Ende doch wieder die berühmte Magie des Inneren, die generell der Kunst und den Künstlern angedichtet wird, die dann auf Wissenschaftler und Philosophen übergreift, diese zu Künstlern mit hohem Denkvermögen, jene zu kreativen Formalisten macht?

Ein wichtiger Hinweis findet sich gleich zu Anfang unserer Lektüre der Metaphysik in den Protokollen: „Der antike Begriff der Kunst geht über den modernen weit hinaus, weil er auch Kochkunst, Heilkunst, Kriegskunst usw. umfasst. Außerdem geht der aristotelische Begriff der Kunst über den modernen noch in einer anderen Richtung hinaus, weil er auch Wissen, beinahe wissenschaftliches Wissen, jedenfalls lehren könnendes Wissen einschließt.“ (ML 26.01.11) Heisenbergs Theorien, auf die ich im Folgenden eingehen will, wären sicherlich auch als Objekt der Kunst denkbar, an dem dann allerlei freischaffende Veränderungen vorgenommen werden können, auch in seinem Erscheinen als Filmfigur eines historischen Dramas um die Entstehung der Atombombe.

 

B Kunst - Wissenschaft - Philosophie

Auf Werner Heisenberg, den berühmten Naturwissenschaftler, Mathematiker, Denker, Musiker, stieß ich vor kurzem zufällig, weil ich Deutschkurse für eine koreanische Oberschülerin gebe, die als mathematisch, musisch und sprachlich Begabte lieber ein Studium in Physik oder Biologie anstrebt, statt in Philosophie, Kunst- oder Literaturgeschichte, die sie zwar liebt, aber keineswegs zum Gegenstand so großer Anstrengungen wie der eines Studiums machen will. Nachdem wir einige botanische, zoologische und poetische Sprachspiele und Stoffe hinter uns hatten, äußerte sie den Wunsch, etwas über Quantentheorie zu machen. Und so stieß ich beim Stöbern nach Material auf ein Vortragsvideo, in dem der Wissenschaftsjournalist Ernst Peter Fischer Werner Heisenberg zunächst als bahnbrechenden Physiker vorstellt, der seine Erfahrungen auch philosophisch reflektiert hat, ihn dann jedoch auf dreierlei Weise als eigentlichen Künstler markieren will: 1. wegen bewiesener ‚Kreativität‘ bei der Entwicklung der Grundformeln ‚seiner‘ Quantenmechanik, 2. wegen der biographisch belegbaren Nähe des Physikers und Mathematikers zur Formen- und Gestaltlehre Goethes und 3. wegen eines autobiographisch überlieferten Moments der Ergriffenheit, in dem Heisenberg die Schönheit als Teil seiner inneren Wahrnehmung am Ende der geleisteten mathematischen Arbeit aufruft.

Ernst Peter Fischer sagt in seinem Vortrag: „Die Physiker waren ... vor Heisenberg beschäftigt, die Bahn des Elektrons genau auszurechnen, - bis Heisenberg kam. Heisenberg hat dann gesagt, dass die Bahn des Elektrons erst dadurch entsteht, dass ich sie berechne, d.h. die Bahn des Elektrons kommt von mir. - ... Und das ist der eigentliche Gedanke, d.h. Physik ist Kunst. Ich gebe der Welt eine Form und verstehe sie dadurch. Das macht auch der Künstler. Er gibt der Welt eine Form und zeigt sie uns. Das macht Heisenberg. Nur ist die Form in der Sprache der Mathematik geschrieben. Das ist vielleicht ein bisschen kompliziert, aber wer sich darauf einlässt, also nicht nur auf bestimmte abstrakte Malereien einlässt, sondern auf bestimmte Gedankengänge, wird feststellen, dass Heisenberg ein Künstler ist. Heisenberg hat als Künstler die Welt verstanden, indem er den Atomen die Formen gegeben hat, die Menschen zugänglich sind.“ (Film1, 11. Min.)

„So konzentrierte sich meine Arbeit immer mehr auf die Frage nach der Gültigkeit des Energiesatzes, und eines Abends war ich soweit, dass ich daran gehen konnte, die einzelnen Terme in der Energietabelle - oder wie man es heute ausdrückt: in der Energiematrix - durch eine nach heutigen Maßstäben reichlich umständliche Rechnung zu bestimmen.

Als sich bei den ersten Termen wirklich der Energiesatz bestätigte, geriet ich in eine gewisse Erregung, so dass ich bei den folgenden immer wieder Rechenfehler machte. Daher wurde es beinahe 3 Uhr nachts, bis das endgültige Ergebnis vor mir lag. Der Energiesatz hatte sich in allen Gliedern als gültig erwiesen, und da das alles von selbst ohne jeden Zwang herausgekommen war, so konnte ich an der mathematischen Widerspruchsfreiheit und Geschlossenheit der damit angedeuteten Quantenmechanik nicht mehr zweifeln.

Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken. Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir fast schwindelig bei dem Gedanken, dass ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte.“ (Film2 18. Min.)

Es spricht einiges dafür, dass der Atomphysiker Heisenberg mit dem aristotelischen Naturbegriff vertraut und historisch von ihm geprägt ist. Natur  ist a) Entstehung des Wachsenden b) innerer Urstoff c) Natura naturans, innerer Antrieb einer jeden Bewegung (kínesis próte). In dieser Hinsicht war Heisenberg ein gebildeter Demiurg, kein phantasiebegabter Poet, Maler oder Komponist. Schauen wir, was Werner Heisenberg im Wesentlichen beschäftigt hat.

 

C Impuls, Element, Atom     

Ich fasse die antike Kosmologie wie folgt zusammen, sofern sie von Grundelementen ausgeht: Das Atom ist das unteilbare im Substrat der Natur, der Materie. Es ist Prinzip (arché), Wesen (ousía), Eines (hén) das kontinuierlich durch sich selbst besteht (kath‘ hautó), als konstitutiver Bestandteil für das Wesen.

Heute wird das Atom anhand von Masse und Ladung definiert, mit entsprechendem Gerät nachgewiesen und als Quantität bestimmt, wenn auch post Heisenberg als prinzipiell ungenau, was sein Eins-Sein (heni einnai) infrage stellt. Für die Griechen gab es vier Atome/Elemente: Wasser, Erde, Luft, Feuer. Aus heutiger Sicht sind sie zu einem Medium degradiert worden, in welchem die chemischen Elemente Zirkonium, Hydrogen, Oxigen Helium in höchster Wahrscheinlichkeit anzutreffen sind, als kontinuierlich hohes Quantum. Platon hat den kosmischen Elementen den Himmel hinzugefügt, weil auch dieser sich nach eigenen Gesetzen bewegt und diesen Elementen fünf regelmäßige Polyeder (vielflächige Körper) zugeordnet,


die allesamt Ecken mit gleichen Kanten, Flächen mit gleichviel Ecken, gleichlangen Kanten, gleichgroßen Winkeln besitzen. In jedem dieser regelmäßigen Körper lässt ich eine Kugel, die alle Seiten tangiert, unterbringen. „Das Wort Atom“ so Heisenberg, „heißt das ‚Unteilbare‘. Es ist gebildet worden als Ausdruck für die Hypothese, daß es kleinste, unteilbare Einheiten gebe, aus denen alle Materie zusammengesetzt sei.“ (H 422). In Bezug auf die Kategorien Aristoteles‘ ist das Atom Wesenheit (ousía), Gestalt (morphé) und Form (eidos). Niels Bohr und Zeitgenossen betrachteten seine Gestalt als Kern (mit ProtonPlus in direkter Nachbarschaft zu NeutronNull als Kern) und ‚Bahn‘ eines immer negativ geladenen Elektrons, was man sich in Gestalt eines kugelförmigen Ensembles aus Kern und Hülle vorstellen kann. Die Dualität aus Kern und Hülle bindet die drei Elemente zu einem Atom mit Masse, Ladung und magnetischem Feld.

Es scheint mir, als sei mit dieser Vorstellung die antike Vorstellung prinzipiell nicht umgestoßen. Die Elemente (P,N,E) sind immanente Bestandteile einer Wesenheit Atom, „Teile (moría), welche immanent in den Dingen dieser Art dieselben begrenzen und als dies bestimmte Etwas bezeichnen, mit deren Aufhebung das Ganze aufgehoben ist, wie z.B. mit Aufhebung der Fläche der Körper, wie einige behaupten, und mit Aufhebung der Linie die Fläche aufgehoben ist; und überhaupt dieser Art scheint einigen die Zahl zu sein, weil nach ihrer Aufhebung nichts sei und sie alles begrenze.“ (A 1017b)

Wenn nun in der obigen Anekdote ein historischer Moment in Heisenbergs Entdeckung dessen, was er Quantenmechanik nennt, geschildert wird, dann besteht dessen Dramatik darin, dass er mit diesen dort im Jahre 1925 aufgeschriebenen Gleichungen der seit 2500 Jahren überlieferten Vorstellung der Unveränderbarkeit (Kontinuität) der Grundbestandteile des Kosmos theoretisch den Boden entzogen hat, indem er die Unbestimmtheit des Messvorgangs als Unbestimmbarkeit der Elemente (stoicheion) in seine Gleichungen integriert und mit dem Energiesatz in Widerspruchsfreiheit gebracht hat. „Die ‚Bahn‘ entsteht dadurch, dass wir sie beobachten.“ Das Akzidentelle (symbebekos) als Gegenstand der Wissenschaft, steht in scharfem Widerspruch zu Aristoteles, für den es dasjenige ist, „was sich zwar an etwas findet und mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden kann, aber weder notwendig noch in den meisten Fällen sich findet.“ (HPP 17 und A 1025a14)

Der griechischen Vorstellung der Elemente ging es um scharfe Bestimmung und Bestimmtheit des Seienden, nicht um grundsätzlich Unbestimmbares. Platons Idee der Elemente als fünffach triangulär strukturierte Körper blieben eine kunstvolle Idee, aber eine unfruchtbare Matrize in der Naturwissenschaft. Anders der aristotelische, von Platon etwas abweichende Begriff ousía: Das Atom/Element bleibt Substrat (Hypokeimenon) des Seienden, zugleich Selbständiges, zugleich Himmelskörper (ein göttlich‘ Ding). Seine Teile (moría) entziehen sich als Gestalt (morphé) und Form (eidos) (A 1018a) zwar der unmittelbaren Anschauung, aber was wäre das für eine Philosophie, die keine Fiktionen des möglichen Wissens dulden würde, keine Science Fiction. Die Kunst (erfahrungsbasierte techne) hat in letzter Zeit mit atemberaubender Geschwindigkeit ein Wahrnehmungsvermögen entwickelt, das sich den Idealvorstellungen kleinster Teile der Natur (physis verstanden als Materie) anzunähern vermag. Und nicht nur das: Jetzt muss auch diese gerätemäßig verschärfte Kunst als formulierbare Größe in die theoretische Betrachtung eingerechnet werden, um zu richtigen Ergebnissen zu kommen.  

Die Bahn des Elektrons kann in der von Niels Bohr hervorgerufenen Vorstellung der Immanenz des Atoms als Kern, Hülle, Zirkulation keinen beliebigen Wert annehmen. Nur auf einer begrenzten Zahl von Bahnen behält das Elektron mit seiner Ladung seine innere Ruhe und Kontinuität. Bohrs Postulat, dass ein Elektron diese Bahn wechseln und sich in Energie (Strahlung) verwandeln kann, betrifft somit nicht die ousía des Atoms als bestimmbares Element im Universum, aber dessen Unwandelbarkeit (hén einai), dessen Kontinuität wird gebrochen.

Heisenberg ist dies, als Nachfahre Aristoteles, Newtons und Kants, bewusst: „Nun müssen wir uns aber auch die Frage stellen: besitzen diese Elementarteilchen der Materie, Proton, Neutron und Elektron, wirklich die beiden Eigenschaften, die in der alten Atomphilosophie formuliert worden waren, nämlich die Unwandelbarkeit und die Identität aller Atome einer Sorte?“ (H 426) Er schaut 1954 auf die wichtigsten Ereignisse in der Empirie der Physik zurück: Das Neutron kann verändert werden. Man kann es vom Atomkern trennen (indem man diesen zertrümmert), und dann verwandelt es sich binnen ca. 15 Minuten „in ein Proton, ein Elektron und ein neutrales Teilchen, das wahrscheinlich die Ruhmasse 0 hat, das sogenannte Neutrino. Die Beständigkeit, die Demokrit von den Elementarteilchen der Materie gefordert hat, gibt es also beim Neutron nicht. Die alte Vorstellung, dass die Materie aus vielen gleichen kleinsten Einheiten besteht, die für alle Zeiten unveränderlich existieren, kann also offenbar nicht richtig sein.“ (H 427)

Während es das in sich zusammenhängend Ausgedehnte, Lückenlose, Ununterbrochene (hén qua synechés A 1016a) verliert, seine Kontinuität, beantwortet Heisenberg die zweite Frage nach der Einzigartigkeit des Atoms (dass es im wesentlichen Sinne Eines sei, hén kath‘ hautó) mit einem eindeutigen „Ja“. (H 427, A 1016a). Obwohl das Atom in seinem Innern verstümmelt (kolobón) ist, so bleibt es dieses Atom, nur eben „die Zahl ist dann ... nicht mehr dieselbe“ (A 1024a).

Er nennt außer dem o.g. Zerfallsprozess des Atoms nach Zertrümmerung seines Protons noch andere Beispiele aus der neuen Physik. Der Amerikaner Carl-David Anderson (1905-1991) entdeckte positiv geladene Elektronen, die sich mit negativ geladenen in der Weise vereinen, „daß bei dieser Vereinigung die Gesamtmasse der beiden Teilchen sich in Energie verwandelt und als Strahlung in den Raum ausgesandt wird.“ (H 248) Anderson konnte das von Paul Dirac (1902-1984) postulierte Positron (als positiv geladenes Elektron) experimentell nachweisen, was Heisenberg als Beweis für Albert Einsteins Behauptung (1905), Masse und Energie seien Äquivalente, angesehen hat. Durch das Vermögen der Beobachtung kosmischer Strahlung in großer Höhe wurden weitere Atome entdeckt, z.B. die Mesone, die eine irrwitzig geringe Lebensdauer besitzen (bis zu 1 Billionstel Sekunde), über die wir nur darum fundierte Aussagen treffen können, weil sie sich gerade noch in dem Bereich der Lichtgeschwindigkeit bewegen, wo ihre Strecke messbar und ihre Wirkung quantenmechanisch betrachtet erkennbar bleibt, was bedeutet, dass ihr Erscheinen als Prozess und nicht als reversibles Wechselspiel eines Impulses A hier (dasjenige, dem Dinge nicht innewohnende, von welchem die Entstehung anfängt, A1013a7) und eines Bewegten B dort betrachtet wird.

„Wenn ich Impuls (dasjenige, dem Dinge nicht innewohnende, von welchem die Entstehung anfängt, A1013a7) mit dem Ort des Bewegten multipliziere, dann erhalte ich, je nachdem ob ich mit dem Impuls anfange oder dem Ort, jeweils ein verschiedenes Ergebnis. „Heisenberg hat entdeckt, dass man zwar etwas wie Ort und Impuls verwenden kann, aber wenn man denen ganz spezielle Eigenschaften gibt, z.B. die, wenn ich zwei Größen miteinander multipliziere, Impuls mal Ort, dass das was anderes bringt als wenn ich Ort mal Impuls multipliziere.“ (Anton Zeilinger, Film2). Hans-Peter Dürr zieht aus dem Paradox der Naturbeobachtung, dass ihr Vermögen nie zu einer unmittelbar erkennbaren Wahrheit (episteme) gelangt, den Schluss: „Das Urelement ist ein Prozess, das ist auch der Grund, warum ich nicht von einem Atom rede, sondern von Wirks, also etwas, das sich verändert.“ (Film2 12:43)

Nun kommt das Sehen als primäre Tätigkeit des wissen Wollenden erneut ins Spiel (Aristoteles, Seitter). „Denn nicht zur zu praktischen Zwecken, sondern auch, wenn wir keine Handlung beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allem anderen vor, und dies deshalb, weil dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis (gnorízein) gibt und viele Unterschiede (diaphoraí) offenbart“ (A 980a25). Die arche des Aristoteles muss neu geschrieben werden. Die Natur (physis) erlaubt uns nicht, sie als Ursprung aller Bewegung und Veränderung zu erkennen, deren Prinzip das Zuerst der Bewegung durch sich selbst ist, das Zuerst des wahrscheinlichsten Ursprungs(ortes), das Zuerst vorhandener Materie, Zuerst eines Anstoßes (Impuls des Quantensprungs), „von welchem die Entstehung von etwas beginnt“ (A 1013a), Zuerst Entscheidende (prohaíresis), auch wenn diese auf dem höchst zweifelhaften Vermögen beruht, tyrannisch zu handeln, um zu verändern, - auf vermessenen Entscheidungen, anderen Künsten (Techniken) ihre Zwecke vorzuschreiben. Sie liefert dennoch fleißig allerlei Prämissen, in denen wir uns als Erkennende bewegen können.

 

D KUNST - WISSENSCHAFT - WEISHEIT

Um die gezielte Umwandlung der Bausteine der Welt sowohl theoretisch/kontemplativ als auch praktisch/realisierend zu betreiben, um Existenz, Beschaffenheit und Verhalten in der Erfahrung (empeirea) nachzuweisen, benötigen die Erforscher der Ursprünge, die Prinzipien sind, in der heutigen Welt entweder Raumfahrzeuge (zur Erforschung der kosmischen Strahlung und ihrer Elemente, Studium der Kristalle, Verhalten unter himmlischer Schwerelosigkeit) oder hochenergetische Beschleuniger wie beim C.E.R.N. in der Schweiz, wobei die Sprecher dieses viele Millionen verschlingenden Projekts immer wieder betonen, dass sie tatsächlich ein faustischer Beweggrund antreibt: zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.

Die Klugheit ihrer speziellen Herangehensweise an die Prinzipien des ursprünglichen Wachstumsvermögens (physis) scheint mir nicht zuletzt darin zu liegen, dass ihr künstlerisches Vermögen auf der Plausibilität einer Technik beruht, die mit enormen Kosten verbunden ist. Die Philosophie kann hier, als Hüterin der Weisheit  qua geschliffenem und geschärftem Denkvermögen nicht mithalten. Das machte erklärlich, warum sie sich ebenfalls dem Kreis der Künste anschließen will, weil sich im akademischen Bereich ihre Vermögenswerte auf einige Professorenstellen beschränken, die selten ein guter Nährboden für gedankliche Konzentration und seelische Ausdauer sind.

Als Medium der Kommunikation bedarf es der Nähe und Befragbarkeit von Weisen, wie sie z.B. von dem buddhistischen Mönch Pomnyun Sunim (Südkorea) in seinen beliebten Versammlungen gepflegt wird, hilfsweise einfacher Aufzeichnungsgeräte wie Mikrophon, Kamera, Schreib- und Druckmaschine, Sende- und Empfangsgerät, um Menschen aller Art als Fragende und Zuhörende zu erreichen. Und dies ist weit entfernt von den Gefilden emphatisch betriebener Kunst.

Aber auch diese wird ihren durch die Aristoteles-Lektüre erkennbare gewordenen Zwiespalt nicht überwinden. Es wird der ‚unverständige‘, nicht ‚hörfähige‘ Künstler eher dem Insekt ähneln, und diese Ähnlichkeit die Basis seiner Phantasie und seines Fatalismus gegenüber dem Zufall und Erstaunen bilden (A 980b). Denn nur der verständige Künstler, den Aristoteles im Auge hat, der aus vielfältiger Erfahrung durch Denken „eine allgemeine Annahme über das Ähnliche bildet“ (A 981a5), wird heute zweifellos ein gefragter Entwickler in den Konzernen des ‚Metauniversums‘ sein, gespeist aus den Formeln und Algorithmen der numerischen Geometrie, geschützt durch Überlagerungen der Quantenphysik, irgendetwas „Ähnliches“ schaffen, vielleicht sogar einen Hybriden aus Las Vegas, Tokio und Peking.

Aber so wie die Weisheit in den technisch verstandenen Künsten nach meiner Einschätzung in eitler Bespiegelung und Liäson mit entscheidungs- und zahlungskräftigen Mächten versinkt, droht ihr in der wunschgetriebenen Beziehung zur Kunst an sich das Schicksal eines von der Schönheit affektierten, verblendeten Denkens, das nicht in erhabener Weise das Gesehene, Gehörte und Verstandene analysiert und ordnet, sondern sich als etwas weiteres Schönes aufspreizt, so als liefere die Erhebung des Denkens zur Kunst allein schon den Ausgleich für den drohenden Abstieg zu einer Art wohlfeiler Lebens- und Entscheidungshilfe.

 

E DAS RELATIVE

Ich habe mir selbst, dem Künstler, als Ausgangspunkt einer Verständigung von Philosophie und Kunst via verschärftem Denken nach 11jährigem stillen Mitlesen der Metaphysik in Walter Seitters Hermesgruppe zur Schulung des Denkvermögens, verschrieben, die 30 Grundbegriffe der Metaphysik von Arche bis Akzidenz an ausgesuchten Erscheinungen einschließlich Verstümmelungen des Hier und Jetzt, Heutigen, Anschaubaren, Erleidbaren durchzulesen, durchzukauen und dabei die Kategorie des Relativen (pro sti), nicht nur in Hinsicht auf Zahl und Proportion, Übertreffendes und Übertroffenes, Tätiges (poiëtiká) und Leidendes (pathëtiká), sondern auch da zu erproben, wo pro sti, das Relative am Menschen, von Aristoteles mit erhabenen, aber auch dunklen Sätzen wie den folgenden beschrieben wird: „Ferner heißt alles das relativ, durch dessen Besitz etwas relativ ist, z.B. die Gleichheit ist etwas Relatives, weil das Gleiche relativ ist, und die Ähnlichkeit, weil das Ähnliche. In akzidentellem Sinne dagegen heißt z.B. der Mensch relativ, weil es ein Akzidens desselben ist, das Zweifache von einem anderen zu sein, und dies ein Relatives ist; oder das Weiße heißt relativ, wenn weiß und doppelt Akzidenzien desselben Dinges sind.“ (A 1021b)

Wird meine Schülerin in näherer Zukunft erfahren, warum es der Mühe wert war, eine neue Sprache nicht nur als nützliches Instrument, sondern in Beziehung zu ihrem Inneren, ihrem Geist zu setzen? Es wird wohl davon abhängen, wieviel Fragen sie dort entwickelt.

 

 

Anmerkungen

Die auf Aristoteles verweisenden altgriechischen Kategorien sind ohne Akzentsetzung in latinisierter Rohform wiedergegeben. Die Zitierkürzel lösen sich folgendermaßen auf:

A = Aristoteles: METAPHYSIK - übersetzt von Herrmann Bonitz (ed. Wellmann). Hamburg (Rowohlt) 20054

H = Elementarteile der Materie. Von Professor Dr. Werner Heisenberg, Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik, Göttingen. Vortrag gehalten im Süddeutschen Rundfunk Heidelberg, gesendet Anfang 1954. Zitiert aus: Blum, Dürr, Rechenberg (Hrsg.): Heisenberg. Gesammelte Werke  Bd. 1 . Physik und Erkenntnis. München-Zürich (Piper) 1984

RM = Rainer Marten: Denkkunst. Kritik der Ontologie. A.d.J. 1989. Neuaufl. München (Alber) 2018.

ML = Mittwoch-Lektüre der Sektion Ästhetik | Neue Wiener Gruppe | Lacan SchuleWien (26. Jänner 2011). Auf Basis dieser Protokolle erschienen: Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I - VI) Freiburg-München (Alber) 2018.

HPP = Werner Heisenberg: Physik und Philosophie (Physics and Philosophy 1958). Stuttgart 2011. Heisenberg, zit. aus dem Vorwort von G. Rasche und B.L. van der Waerden.

Film1 = Ernst Peter Fischer: Vortrag in der Fernseh-Reihe: Urknall Weltall und das Leben. (Harald Lesch & Josef M. Gaßner) München (Bayerischer Rundfunk) 2015.

Film2 = Werner Heisenberg. Fernsehreihe. Folge 6: Der Teil und das Ganze. Thomas Gonschior. München (BR) 2011.

Montag, 21. Februar 2022

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 8 (62rB - 62vF)

 16. Februar 2022

 

 

Wenn Hermann Schwierigkeiten hat, die Entstehung der Körper aus Materie oder dem Unkörperlichen der ersten Samen folgerichtig zu entwickeln und deshalb als Zwischenstufe den „unkörperlichen Körper“ einführt, kommt es zum ersten und größten Unterschied zwischen den erhaltenen Handschriften, in denen der Text überliefert ist. Charles Burnett gibt an, drei Handschriften verwendet zu haben, erstens die Handschrift N in der Biblioteca Nazionale in Neapel, möglicherweise aus der Zeit von Hermann selbst, zweitens die Handschrift C in Oxford im Corpus Christi College aus dem 14. Jahrhundert und drittens die Handschrift L im Britisch Museum in London aus dem Jahre 1423. Die Manuskripte L und C sind etwas umfangreicher, Burnett führt sieben Stellen an, wo der Unterschied auch inhaltlich augenfällig ist.

 

Es geht also um die Selbst-Identität der ersten Samen, um das sogenannte „Dasselbe-Sein“ der Materie, die allen Zeugungen vorausgeht. Da fehlt offenbar etwas, deswegen werden in den Handschriften LC noch die ersten einfachen Elemente wie Hitze, Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit als grundlegende Formen eingeführt, die die Materie vor der Ankunft der Körper mit den ersten Unterschieden versieht. Diese Welt der materiellen Körper wird erst in der zweiten Zeugung aus den Mischungen dieser Elemente oder Prinzipien zu den Körpern gemacht, die daraus entstehen und wieder vergehen. Als nächstes versucht Hermann den Ursprung der Materie aus den ersten Samen gegen die Vorstellung der Elemente als Teile oder Teilchen abzugrenzen, mit dem Argument, das die Teile sich in ihren jeweiligen Orten aufhalten, während die Samen universelle Elemente sind, die für die Notwendigkeit der Form in den Zusammensetzungen der Körper bereitgestellt sind.

 

Womit wir bei der Klärung sind, was Form überhaupt ist, und welche Vereinbarungen zwischen den Prinzipien der Dinge bestehen, die erste Bewegung der Zusammensetzungen ist das Hinzutreten der Form zur Materie. Wenn Hermann mit den Unterschieden in der Materie durch die Form beginnt, kommt er zum Gedanken, das es keine Erkenntnis (notitiam) der Materie geben kann ohne Teilungen, uns so jeder Begriff (notio) von der Form herkommt. Um das Spiel mit dem lateinischen Wort nota weiterzutreiben, wird jetzt von Formen der Dinge als Zeichen (nota) jedes Aufbaus gesprochen. Man könnte mit gleicher Berechtigung nota auch mit Merkmal oder Markierung übersetzen, eventuell auch als Note in einem musikalischen Aufbau. Denn in diesen Noten, Zeichen oder Merkmalen liegt die Erkenntnis aller Dinge, wobei es zwei Teile von Unterschieden in den Dingen gibt, den der Art und der Anzahl. Die Anzahl ist kein Unterschied in der Substanz, sondern im Einzelwesen. Die Formen der Dinge sind von „Derselben-Art“, untereinander erkennbar, tragen zur Schönheit des Aufbaus der Welt bei. Schönheit und Wohlgeformtheit, Hermann nennt es Glätte (expolitio), sind der Form eigentümlich. Die Gattung ist von der Materie bestimmt, die es von der Essenz bekommt, und die Arten von den Unterscheidungen, die das Individuum bestimmen. Daher sind die Arten der Dinge die Formen, die sie beschreibbar machen. Die Form selbst kann noch viele verschiedene Zeichen enthalten, die die Unterscheidungen in der Form selbst vermehren. Aber der erste Beweggrund darf nicht vergessen werden, der muss als Schöpfungsrest noch bewahrt werden, weil wir sonst in einem Materie-Form-Dualismus aufgehen würden.

Bezüglich dem Vermögen bestehen alle Formen in der Materie potentiell, dort wo die Form ist, besteht die Materie in seiner Aktualität. An dieser Stelle wird mit einem Zitat von Boethius noch einmal bekräftigt, dass nicht nur die Erkenntnis aus der Form möglich ist, weil es von der Materie als Ungeformtem kein Wissen geben kann, sondern dass auch das Sein der Dinge nur in der Form liegt. Hermann kommt so zum Schluss, das die Formen der Dinge die Substanzen selbst sind. Das Individuum kann nicht mehr bestimmt werden sondern nur beschrieben.

Hier bricht der Text in seiner Argumentation.

Der erste Ursprung aller Formen wird jetzt nicht in einem Bewegungsgrund gesucht, sondern von der reinen Form der Göttlichkeit als Abbild herkommend in einem Spiegel in viele Teilbilder zerspringend. Ein kurzer theologischer Exkurs.

 

Wir kehren zum Resümee der Bestandteile der Form zurück, die zum einen aus einer inneren Habitudo besteht, die das Verhältnis der Mischung angibt, und zum andern aus der äußeren Vervollständigung (absolutio) im Aufbau der Gestalt oder Figur des Dinges.

 

Karl Bruckschwaiger

 

 

nächste Sitzung: 23. Februar 2022 – Aristoteles lesen, XIII Buch, ab 1077a, 30

Sonntag, 13. Februar 2022

In der Metaphysik lesen (1077a 15 – 30)

9. Februar 2022

 

Anstelle der im letzten Protokoll in Aussicht gestellten künstlerischen Reaktionen auf die Metaphysik-Lektüre verweise ich auf das im Jahre 1884 von Edwin A. Abbott publizierte Buch Flächenland (Laxenburg 1999), das mit seiner skurrilen Geometrie-Reduktion der Realität auf die aristotelischen Behauptungen zum schwachen Status der Geometrie zu antworten scheint, und übrigens seinen historischen Teil auf die letzte, auf „unsere“ Jahrhundertwende vordatiert. In diesem Buch wird vorgeführt, wie Menschen auf selbständig existierende geometrische Flächen reduziert werden und wie derartige Menschen agieren ….

Aristoteles problematisiert auch den Status der Optik sowie der Harmonik und da heute der Musiker Maximilian anwesend ist, fragen wir uns, was unter „Harmonie“ im strikten Sinn zu verstehen ist. Was wir „Musik“ nennen, enthält mehrere „Dimensionen“ – nämlich Harmonie als gleichzeitiges Erklingen unterschiedlich hoher Töne, Melodie als Nacheinander von unterschiedlichen Tönen im Zeitablauf, Rhythmus als Gliederung des Zeitablaufs auch ohne Tonunterschiede ….

 

Aristoteles behauptet nun, die Töne hätten keine selbständige Existenz: erstens seien sie gebunden an Bewegungen von Körpern und zweitens an das Hören von Lebewesen wie etwa uns Menschen. Maximilian stellt die Frage, ob Töne oder Geräusche nicht auch völlig unabhängig von menschlichen oder tieriscnen Wahrnehmungen existieren – und das seit Jahrmillionen. Aristoteles würde dazu sagen: die Erzeugung von Tönen oder Geräuschen geschehe unabhängig von uns. Aber zu Tönen oder Geräuschen führe sie nur, wenn Hörende da sind. Was wir den Donner nennen, ist ja nicht die Erschütterung von Luftmassen, die gemessen und aufgezeichnet werden können, sondern der akustische Eindruck auf Ohren wie die unsrigen – eben dieses typische Donnerrollen und -explodieren, das es nur für Ohren gibt (nach Aristoteles reichen alle Sinnesorgane von den Körperoberflächen zurück bis zum Herz).

Wahrnehmendes und Wahrnehmbares „sind“ unterschieden und zumeist getrennt. Wahrnehmung hingegen ist ein Geschehen, ein Ereignis (bezeichnet mit einem -ung-Wort) folgener Art:

 

Wahrnehmendes als solches aktualisiert sich genau dann, wenn Wahrnehmbares als solches sich aktualisiert und die beiden Aktualisierungen zu einer einzigen werden und zwar so, daß die beiden seinsmäßig getrennt bleiben, ja ihr Getrenntsein kommt gerade in der Wahrnehmung zur Erscheinung. Wo sonst? Wahrnehmung und Erscheinung sind zwei Seiten eines Vorgangs. Wahrnehmendes und Erscheinendes hingegen „sind“ im expliziten Sinn zumeist getrennt.

 

Neulich hatte ich auf der Hohen Brücke, die dem Hohen Markt nahe ist (ebenfalls ein Hoher Ort) eine Erscheinung (ich habe ständig irgendwelche Erscheinungen), welche mir den Duktus der aristotelischen Wahrnehmungslehre deutlich vor Augen führte.

Ein junges Paar fotografierte sich – und zwar mit verteilten Rollen. Sie in ziemlich sommerlicher Aufmachung, keineswegs winterlich vermummt, lehnt am Geländer und will fotografiert werden. Er in lässiger Arbeitskleidung fuchtelt mit der Kamera (ziemlich massives Objektiv) herum , deutet und redet auf sie ein, um ihr die gewünschten Posen mitzuteilen. Sie posiert bereitwillig, Oberkörper mehr so oder so, Sonnenbrille mehr hinauf oder mehr herunter, auch etwas Nabel. Sie exhibiert sich – mit diesem Ausdruck will ich sie nicht etwa psychiatrisieren, sondern ihr Aktivieren ihrer Sichtbarkeit benennen und anerkennen, ihrer momentanen sowie ihrer künftigen Sekundärsichtbarkeit (auf Bildern). Er aktiviert sein Sehen, verstärkt es apparativ, steigert es, will es qualifizieren – um ihr Gesehenwerden zu steigern, zu qualifizieren. Er steigert sein Sehen vielleicht zum Sehertum, jedenfalls zum Voyeurieren.

(Dem Philosophen muß das Sehertum mehr oder weniger zufallen, das Voyeurtum kann es.)[1]

Das junge Paar im Februar 2022 auf der Hohen Brücke hat mein Aristoteles-Verstehen stärker gefördert als manches Rechthaben-Wollen von eifrigen Lesern. Beispiel für „nützliches“ (und noch dazu auch gefälliges) Künstlertum. Die aristotelische Wahrnehmungslehre wird im Aristoteles-Handbuch gut zusammengefaßt (383-388, von Stephan Herzberg).

 

*

 

Aristoteles betont neuerlich, daß die mathematischen Dinge keine selbständigen Wesen sind und er behauptet, daß seine Ansicht auch der allgemeinen Meinung entspreche - womit er darauf verzichtet, mit seiner Ansicht als Rebell oder Avantgardist dazustehen. Oder übertragen in die moderne Philosophiegeschichte: als professioneller und konfessioneller „Kritiker“.

 

Realitätselemente oder -aspekte, die akzidenzieller oder schwächer sind, können in der Entstehung, also in der Zeit früher vorkommen, aber in ihrem Wesen, also in ihrem Seinsgehalt, stehen sie hinter anderen zurück, sind sie nachgeordnet. So die unbeseelten oder unbelebten gegenüber den belebten Dingen (Körpern).

 

Liegt in diesem Satz eine Nähe zur modernen Evolutionslehre?

 

Dann die Frage, ob die mathematischen Größen miteinander eine Einheit bilden – und wodurch so eine Einheit begründet sein könnte. Etwa durch eine Seele, so wie bei den Lebewesen die verschiedenen Teile, Körperteile durch die Seele zusammengehalten werden?

Und zurück zum Körper mit seinen drei Dimensionen. Aristoteles behauptet, die beiden Dimensionen der Fläche würden als erste entstehen, die dritte Dimension zuletzt, obwohl nein weil der dreidimensionale Körper dem Wesen nach vorrangig ist und vollendeter und ganzer, sofern er auch ein beseelter sein kann.

 

Und dann noch weiter zurück genau zu der Frage, die vom Flächenland, dem fröhlich-frechen Buch des gescheiten Engländers Edwin A. Abbott ganz anders beantwortet wird als von Aristoteles selber: „Wie aber sollte wohl eine Linie oder eine Fläche beseelt sein? Eine solche Behauptung ginge weit über unsere Sinneswahrnehmungen hinaus.“ (1077b 29f.)

 

Für den Sensualisten Aristoteles ist sie damit vorläufig vom Tisch.

 

Immerhin läßt er sich vom Engländer die Frage aufdrängen – als hätte er bereits damals gewußt, daß so ein hypersensualistischer Engländer so ein Land ernsthaft beschreiben würde und daß in einem hartnäckigen Wiener Aristoteles-Seminar dieses Buch einbezogen wird (was Wolfgang Koch vorgeschlagen hat).

 

In der Annahme, daß das Lesen eine Tätigkeit ist, die mit dem Sehen eng verwandt ist bzw. viel Sehen einschließt (aber auch viel Übersehen), werfe ich die Frage auf, ob man zur Aufklärung über das Lesen (also über die hiesige Tätigkeit) auch die aristotelische Wahrnehmungslehre heranziehen kann.

 

Dann müßte man auf einer Seite das Lesbare, also den Text, anschreiben, auf der anderen Seite den Leser. Die beiden Seiten existieren getrennt voneinander, sie bestehen ja in aller Regel aus ganz verschiedenen Materialien. Der Text erscheint als Oberflächengestaltung an solchen Körpern wie Papierblätter oder Bildschirmen, der Leser oder die Leserin ist selber ein Körper, der der Spezies „Mensch“ angehört.

Die aristotelische Hypothese würde nun lauten, die Lesetätigkeit würde darin bestehen, daß auf beiden Seiten Aktualisierungen stattfinden: der Leser hat zum Text gegriffen, er schaltet sein Sehen um auf den Lesemodus, das ergibt ein ganz anderes Sehen als das Sehen von Mitmenschen oder von Mehlspeisen, dieses andere Sehen wird eingeschaltet und eine Zeit lang aufrechterhalten, so lange, wie man lesen will bzw. muß. Es handelt sich dabei um eine spezielle Leistung. Und der Begriff der Leistung ist überhaupt geeignet, den aristotelischen Begriff der Aktualisierung verständlich zu machen. Mag sein, daß die Rede von „Leistung“ heute nicht sehr beliebt ist. Aber Aristoteles kommt es ohnehin nicht darauf an, sich beliebt zu machen. Bekanntlich kann langes Lesen müde machen; selbst wenn man unbedingt weiterlesen will, weil der Text einen in Spannung versetzt, selbst dann kann es sein, daß man aufhören oder ein Pause machen will.

 

Von welcher der beiden Seiten geht die Aktualisierung zunächst aus? Vom Leser, der als solcher aktivisch bezeichnet wird - oder von der Seite, die eher mit passiven Wortformen bezeichnet wird: lesbar, gelesen, lesenswert. Also von der sogenannten objektiven Seite, auf der der Text liegt, der anscheinend nichts kann als daliegen.

 

Gleichwohl kann die objektive passive Seite die initiierende sein; der interessante, der spannende, der gefährliche, der gebietende, der unbarmherzig vernichtende Text: all das gibt es seit ein paar tausend Jahren.

Andererseits und möglicherweise sogar in ein und demselben Dispositiv die Selbstaktivierung des Lesenden: etwa mit dem Studieren, das mit Mühe oder gar Frustration einhergeht. So eine Anstrengung kann lange durchgehalten werden und im Glücksfall verbindet sie sich mit Einsicht oder Erfüllung, die von der anderen Seite kommt. Es wandelt sich die Aktivitätsverteilung – es gibt viele Formen der Balance, des Hin und Her.

 

Beide Seiten haben ihre Aktivitätsschancen, die sehr unterschiedlich sind – und doch in eine Art Gleichgewicht kommen können: ein äußerst heterogenes Gleichgewicht.

Der fixierte Text bietet den Vorteil, daß der Leser immer wieder zurückspringen kann, um nur nachzuschaun - oder um erneut einen Leseversuch zu machen.

 

Macht Aristoteles irgendeine Aussage zum Text als solchem?

 

Wir haben eben die Stelle zu wenig beachtet, wo von der möglichen Einheit zwischen den mathematischen Größen die Rede war. Kann so eine Einheit, ein Einssein, ein Zusammenbleiben durch so etwas wie eine Seele hergestellt werden?

 

Einige Zeilen zuvor haben wir gelesen, daß die Mathematiker allgemeine Sätze hinschreiben – und zwar über die wahrnehmbaren Dinge und die Lebewesen hinaus (da klingt schon so etwas wie der Hypersensualismus an (mit dem Aristoteles dann doch nichts zu tun haben will)).

 

Schreiben die Mathematiker mathematische Dinge so an, daß sie sie zusammenschreiben und damit Zusammenhänge herstellen?

Was für ein Schreiben ist das? Es ist das Schreiben der mathematischen Forschung, der mathematischen Lehre, der angewandten Mathematik in Physik oder Ökonomie. Überall da sind es beseelte, das heißt gedachte Zusammenhänge, die nicht frei von Begehren oder Streben sein müssen.

 

Auch dabei handelt es sich um Texte – die gelesen werden können, sollen, müssen vielleicht auch wollen, wenn man die Autoren der Texte ebenfalls in Betracht zieht. Hinter den oben als irgendwie passiv und dann doch auch aktiv aufgefaßten Texten sind auch solche Akteure anzunehmen, die Aristoteles unter die Lebewesen zählen würde. Und so ein Akteur, so ein Autor ist er selber,  wenn auch kein mathematischer. Autor des uns vorliegenden, beschäftigenden, ärgernden, es uns schwermachenden Textes.

 

Natürlich verdient auch das hiesige Aristoteles-Lesen eine Qualifizierung als hartnäckiger Aktivismus, von mir aus Aktivistik. Von 2007 bis 2011 haben wir die Poetik gelesen, deren Hauptgegenstand die Tragödie gewesen ist, welche in der Klassik vielleicht noch weniger als Text sondern vielmehr als Mimenspiel betrachtet worden ist. Aristoteles sagt von ihr, sie habe gleichsam eine Seele – das ist die dargestellte Geschichte.

Jeder gut gemachte Text, der etwas Beachtliches vergegenwärtigt, hat eine „Seele“ und kann daher leibhaftige Menschen beeindrucken, überraschen, überfallen oder überwältigen.

 

Allerdings sind wir nicht die einzigen Lese-Aktivisten. Unzählige Vor-Leser, Mit-Leser und Gegen-Leser scharen sich seit Jahrhunderten um den Text der Metaphysik , machen uns das Lesen überhaupt möglich – in diesem speziellen Fall aber eher unmöglich, weil sie den Text mit allzuviel Bedeutung aufgeladen haben.

 

Die Seite der Leser mit ihren Parteiungen, mit ihren verschiedensten Haltungen (brave Begeisterung, oberlehrerhafte Beschimpfung, kalte Verachtung (die aber eher zum Nicht-Lesen tendiert, überhaupt ist das Nicht-Lesen der ständig mitlaufende Nullpunkt zum Lesen)).

Angesichts der Komplexität der Leserseite verwundert es nicht, daß sich seit langem zwei – oder mindestens zwei – Wissenschaften formiert haben, die sich dafür zuständig erklären, das Lesen, Verstehen, Weitergeben, Übersetzen, Weiterschreiben der Texte zu sichten, zu ordnen und zu verbessern.

 

Es sind das die Philologie und die Hermeneutik. Die erste, wörtlich „Liebe zu den Wörtern“, stammt hauptsächlich aus dem antiken Heidentum. Auch sie setzt voraus, daß Wörter Bedeutungen haben, macht jedoch aus dieser Voraussetzung kein großes Bedeutungsvorwissen.

 

Die zweite, die Hermeneutik, unterwirft sich von Anfang an einer bestimmten Botschaft, die von den Texten weitergegeben und ausgebreitet wird – ihre Disziplinen sind die Theologie und die Jurisprudenz.

 

Die Philologie kümmert sich hauptsächlich um solche Texte, die wichtige Dinge sagen, ohne den Menschen feste Vorschriften machen zu wollen, also etwa um Dichtungen.

 

Als Wahrnehmungsaktivist muß ich natürlich Entscheidungen treffen, und das tue ich jetzt einmal für die Philologie.

 

Aber was macht der Text der Metaphysik? Läßt er sich von unseren Aktualisierungsversuchen, die einmal mehr hermeneutisch, einmal mehr philologisch ausfallen, beeindrucken? Läßt er sich aus seiner man muß schon sagen verkorksten Situation (zwischen redaktionellen Defiziten und kumulierter Sinnaufladung) lösen? Zu einem normalen Text von aristotelischem Format läßt er sich wohl nicht glätten.

Er bleibt das Aussagengebirge, das seit dem 1. Jahrtausend (dem ersten 1.) durch immer wieder neue Erschütterungen und Magmaaufschichtungen und Abtragungen zu einem künstlichen Ungeheuer geworden ist und weiter wird. Wir können dieses Trümmer-Ungetüm nur in seiner Rohheit abtasten und durch neue Applikationen vielleicht die alte Widerspenstigkeit erspüren.

Wie man jetzt die Verstiegenheit einer alten Kathedrale mit einem modernen Aufstiegssimulakrum erst recht sichtbar macht, so können wir vielleicht mit Zusatz- oder Gegenlektüren den Text dazu verführen, sich deutlicher zu zeigen. Die Sonne von Francis Ponge ist als direkte Parallelaktion sehr geeignet gewesen (was die Sittenpolizei mit ihrer Rüge für die Sonnenstrahlen auf Julias Oberschenkel auch prompt bestätigt hat). Hingegen erweist sich der schöne Buchtitel Aristoteles in der Sonne des Seins (von Francois Sichère) als allzuschöne Verfälschung.

Aus dem Bereich der Bildhauerei habe ich in der schon öfter zitierten ersten Dokumentierung der Metaphysik-Lektüre eine neuere, eine griechische Aristoteles-Skulptur als Zugabe zu meinem Text-Verständnis publizieren können, die sich nicht nur auf den ersten Blick von den in Griechenland üblichen zentralen Marmorstandbildern unterscheidet, sondern auf einen zweiten oder dritten Blick seltsame und bedenkenswerte Auffälligkeiten bereithält.

Eine komparative Zusatzlektüre wie die des Hermann von Kärnten könnte geeignet sein, das aristotelische Vokabular auf seinem Weg durch die Latinität der Antike und des Mittelalters zu begleiten, damit wir zum einen diese Latinität kennenlernen, sie aber andererseits auch distanzieren können (worauf Heidegger gedrängt hat). Wir müssen aber die Übersetzungsgeschichte nicht als abgeschlossen betrachten, vielmehr sie als Eröffnung neuer Wege weiterführen.

So wie das Wahrnehmbare in seiner Aktivierung zum Erscheinenden wird, steigert sich das Erscheinende zum Auffälligen.[2]

 

Die Philologie hat darin ihre Chance, daß sie im Text auffällige Wörter weniger sucht sondern vielmehr findet. So daß diese dem Leser entgegenspringen – und solche muß er aufgreifen und näher anschaun, dann kann er sogar in diesem leserunfreundlichen Text Punkte finden, Stützpunkte oder Punktierungen, die sich zu aussageartigen Netzen knüpfen lassen, die allmählich enger werden, bis sich Aussagen im strikten Sinn abzeichnen. Und zwar solche Aussagen, die nicht irgendeinem der tradierten Vorurteile entsprechen müssen.

 

Walter Seitter

 



[1] Einen extremen Fall von Wahrnehmungs- und Wahrgebungsssteigerung analysiert Eugénie Lemoine-Luccioni: Vom Seher zum Voyeur. In: Tumult 12: Gatian Gaëtan de Clérambault (1872–1934) – Ein Augenschicksal. (Hrsg. W. Seitter, S. Tisseron. Boer München 1988) Der Text beruht auf dem Vortrag, der 1988 im Rahmen der Daedalus-Veranstaltung „Jacques Lacan. Der Analytiker und die visuellen Künste“ in Wien gehalten worden ist. Dank an Gerhard Fischer.

 

[2] Dazu Walter Seitter: Aufmerksamkeitskorrelate auf der Ebene der Erscheinungen. In: A. Assmann, J. Assmann (Hg.): Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VI (München 2001)