τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 23. Februar 2022

Manfred Hulverscheidt: Künste, Wissenschaften und Philosophien

 

A Metaphysik – Kunst

Entscheidend für den Begriff der Kunst im Unterschied zu Wissenschaft und Philosophie ist für mich die dritte Bedeutung der dynamis, Betonung auf „y“. Nach a) der Fähigkeit, in einem anderen etwas zu bewegen oder zu verändern (kínesis, metabole), b) der Fähigkeit, diese kinetischen und metabolischen Veränderungen zu erleiden, erscheint als c) „die Fähigkeit, etwas schön oder nach Vorsatz auszuführen“ (A 1019a22) bzw. die Fähigkeit, die Ausführung dieser Vorsätze zu ertragen. Ich denke hier sofort an die Schöne Querulantin (La Belle Noiseuse) in dem Film von Jacques Rivette (1991). Aber auch das vierte Vermögen, die Immunität gegen Beschädigung und Zerstörung, ist für die Kunst an sich wichtig, auch wenn das Unzerstörbare nur im Heiligenschein eines großen Kunstwerks oder Künstlers besteht. Es ist das Vermögen zur Güte in einem idealen, nicht unbedingt stofflichen Sinne.

Zu diesem Kunstbegriff sagt Rainer Marten: „Mit eigener Verantwortung nehmen sich die Künste je bestimmter menschlicher Vermögen an, um sie für sich selbst zu brauchen und fruchtbar zu machen. Zu denken ist an Bildkunst, Schauspiel, Musik, Tanz, Dichtung und eben Denkkunst.“ (RM 200)

Ich bin stutzig. Kann ich demnach sagen: Jemand kann besonders bewegend, schön und gut denken und dann sagen, er sein ein Denkkünstler? so wie: Jemand kann besonders gut Tonstücke schreiben und musizieren, also betreibt er Musikkunst usw.? Schließlich kann man alles im Sinne von Gutsein und Schlechtsein verschärfen und generalisieren und daraus einen Kunstbegriff abstrahieren: die besondere Finesse, die sich in jeder Disziplin herauskitzeln lässt, und diese, von wem auch immer begutachtet, macht dann den Heilkünstler aus und unterscheidet ihn vom gewöhnlichen Kassenarzt oder den Dirigenten vom dritten Flötisten in einem Orchester.

Martens Versuch, die Denklehre (Noetik) als analoge Disziplin im Verhältnis zur objektiven Methodik des Wissenschaftlers oder zur subjektiven Entschiedenheit bzw. Finesse eines Künstlers der Kunst zu setzen, geht insofern in die richtige Richtung, als er süßlichen Vermischungen durch Beharren auf dem Denken als besonderer Disziplin den Weg versperrt. Aber ist es nicht dennoch besser, einen kreativen Wissenschaftler als genialen Entdecker, einen Künstler als entscheidendes Subjekt einer selbstbewussten Kunst, einen Sucher der Weisheit, der in der Erfahrung die Prinzipien der Weisheit aufsucht, diese befragt, jene buchstabiert, beide durchdenkt, schlicht einen Philosophen zu nennen?

Woher diese Scheu, statt mutig zu tradierten Wesensvorstellungen (Wissenschaft, Kunst, Weisheit) zu greifen, zu Amalgamen oder Bindestrichen aller Art Zuflucht zu nehmen? Als sei das Technisch-Handwerkliche bloß Mimesis, unterste Wahrnehmungsstufe, dagegen ‚das Subjektive‘, das ‚emotional Bewegende‘ als das für die Kunst Charakteristische hervorzuheben, das den eigentlichen Bildhauer, Komponisten, Schauspieler, Maler ausmacht und mit diesem oder jenem Wissenschaftler der Quantenphysik auf eine Stufe stellt. Der feuilletonistische Gedankenkitsch kann dann rasch losgelassen werden: Warum verzaubert diese Skulptur den Platz, verzückt dieses Musikwerk den Hörer, hypnotisiert dieser Film den Zuschauer, revolutioniert diese Formel unser gesamtes Weltbild, wirft ein einziger Gedanke all unsere Vorstellungen vom Anfang und Ende der Welt um?

Ist es am Ende doch wieder die berühmte Magie des Inneren, die generell der Kunst und den Künstlern angedichtet wird, die dann auf Wissenschaftler und Philosophen übergreift, diese zu Künstlern mit hohem Denkvermögen, jene zu kreativen Formalisten macht?

Ein wichtiger Hinweis findet sich gleich zu Anfang unserer Lektüre der Metaphysik in den Protokollen: „Der antike Begriff der Kunst geht über den modernen weit hinaus, weil er auch Kochkunst, Heilkunst, Kriegskunst usw. umfasst. Außerdem geht der aristotelische Begriff der Kunst über den modernen noch in einer anderen Richtung hinaus, weil er auch Wissen, beinahe wissenschaftliches Wissen, jedenfalls lehren könnendes Wissen einschließt.“ (ML 26.01.11) Heisenbergs Theorien, auf die ich im Folgenden eingehen will, wären sicherlich auch als Objekt der Kunst denkbar, an dem dann allerlei freischaffende Veränderungen vorgenommen werden können, auch in seinem Erscheinen als Filmfigur eines historischen Dramas um die Entstehung der Atombombe.

 

B Kunst - Wissenschaft - Philosophie

Auf Werner Heisenberg, den berühmten Naturwissenschaftler, Mathematiker, Denker, Musiker, stieß ich vor kurzem zufällig, weil ich Deutschkurse für eine koreanische Oberschülerin gebe, die als mathematisch, musisch und sprachlich Begabte lieber ein Studium in Physik oder Biologie anstrebt, statt in Philosophie, Kunst- oder Literaturgeschichte, die sie zwar liebt, aber keineswegs zum Gegenstand so großer Anstrengungen wie der eines Studiums machen will. Nachdem wir einige botanische, zoologische und poetische Sprachspiele und Stoffe hinter uns hatten, äußerte sie den Wunsch, etwas über Quantentheorie zu machen. Und so stieß ich beim Stöbern nach Material auf ein Vortragsvideo, in dem der Wissenschaftsjournalist Ernst Peter Fischer Werner Heisenberg zunächst als bahnbrechenden Physiker vorstellt, der seine Erfahrungen auch philosophisch reflektiert hat, ihn dann jedoch auf dreierlei Weise als eigentlichen Künstler markieren will: 1. wegen bewiesener ‚Kreativität‘ bei der Entwicklung der Grundformeln ‚seiner‘ Quantenmechanik, 2. wegen der biographisch belegbaren Nähe des Physikers und Mathematikers zur Formen- und Gestaltlehre Goethes und 3. wegen eines autobiographisch überlieferten Moments der Ergriffenheit, in dem Heisenberg die Schönheit als Teil seiner inneren Wahrnehmung am Ende der geleisteten mathematischen Arbeit aufruft.

Ernst Peter Fischer sagt in seinem Vortrag: „Die Physiker waren ... vor Heisenberg beschäftigt, die Bahn des Elektrons genau auszurechnen, - bis Heisenberg kam. Heisenberg hat dann gesagt, dass die Bahn des Elektrons erst dadurch entsteht, dass ich sie berechne, d.h. die Bahn des Elektrons kommt von mir. - ... Und das ist der eigentliche Gedanke, d.h. Physik ist Kunst. Ich gebe der Welt eine Form und verstehe sie dadurch. Das macht auch der Künstler. Er gibt der Welt eine Form und zeigt sie uns. Das macht Heisenberg. Nur ist die Form in der Sprache der Mathematik geschrieben. Das ist vielleicht ein bisschen kompliziert, aber wer sich darauf einlässt, also nicht nur auf bestimmte abstrakte Malereien einlässt, sondern auf bestimmte Gedankengänge, wird feststellen, dass Heisenberg ein Künstler ist. Heisenberg hat als Künstler die Welt verstanden, indem er den Atomen die Formen gegeben hat, die Menschen zugänglich sind.“ (Film1, 11. Min.)

„So konzentrierte sich meine Arbeit immer mehr auf die Frage nach der Gültigkeit des Energiesatzes, und eines Abends war ich soweit, dass ich daran gehen konnte, die einzelnen Terme in der Energietabelle - oder wie man es heute ausdrückt: in der Energiematrix - durch eine nach heutigen Maßstäben reichlich umständliche Rechnung zu bestimmen.

Als sich bei den ersten Termen wirklich der Energiesatz bestätigte, geriet ich in eine gewisse Erregung, so dass ich bei den folgenden immer wieder Rechenfehler machte. Daher wurde es beinahe 3 Uhr nachts, bis das endgültige Ergebnis vor mir lag. Der Energiesatz hatte sich in allen Gliedern als gültig erwiesen, und da das alles von selbst ohne jeden Zwang herausgekommen war, so konnte ich an der mathematischen Widerspruchsfreiheit und Geschlossenheit der damit angedeuteten Quantenmechanik nicht mehr zweifeln.

Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken. Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir fast schwindelig bei dem Gedanken, dass ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte.“ (Film2 18. Min.)

Es spricht einiges dafür, dass der Atomphysiker Heisenberg mit dem aristotelischen Naturbegriff vertraut und historisch von ihm geprägt ist. Natur  ist a) Entstehung des Wachsenden b) innerer Urstoff c) Natura naturans, innerer Antrieb einer jeden Bewegung (kínesis próte). In dieser Hinsicht war Heisenberg ein gebildeter Demiurg, kein phantasiebegabter Poet, Maler oder Komponist. Schauen wir, was Werner Heisenberg im Wesentlichen beschäftigt hat.

 

C Impuls, Element, Atom     

Ich fasse die antike Kosmologie wie folgt zusammen, sofern sie von Grundelementen ausgeht: Das Atom ist das unteilbare im Substrat der Natur, der Materie. Es ist Prinzip (arché), Wesen (ousía), Eines (hén) das kontinuierlich durch sich selbst besteht (kath‘ hautó), als konstitutiver Bestandteil für das Wesen.

Heute wird das Atom anhand von Masse und Ladung definiert, mit entsprechendem Gerät nachgewiesen und als Quantität bestimmt, wenn auch post Heisenberg als prinzipiell ungenau, was sein Eins-Sein (heni einnai) infrage stellt. Für die Griechen gab es vier Atome/Elemente: Wasser, Erde, Luft, Feuer. Aus heutiger Sicht sind sie zu einem Medium degradiert worden, in welchem die chemischen Elemente Zirkonium, Hydrogen, Oxigen Helium in höchster Wahrscheinlichkeit anzutreffen sind, als kontinuierlich hohes Quantum. Platon hat den kosmischen Elementen den Himmel hinzugefügt, weil auch dieser sich nach eigenen Gesetzen bewegt und diesen Elementen fünf regelmäßige Polyeder (vielflächige Körper) zugeordnet,


die allesamt Ecken mit gleichen Kanten, Flächen mit gleichviel Ecken, gleichlangen Kanten, gleichgroßen Winkeln besitzen. In jedem dieser regelmäßigen Körper lässt ich eine Kugel, die alle Seiten tangiert, unterbringen. „Das Wort Atom“ so Heisenberg, „heißt das ‚Unteilbare‘. Es ist gebildet worden als Ausdruck für die Hypothese, daß es kleinste, unteilbare Einheiten gebe, aus denen alle Materie zusammengesetzt sei.“ (H 422). In Bezug auf die Kategorien Aristoteles‘ ist das Atom Wesenheit (ousía), Gestalt (morphé) und Form (eidos). Niels Bohr und Zeitgenossen betrachteten seine Gestalt als Kern (mit ProtonPlus in direkter Nachbarschaft zu NeutronNull als Kern) und ‚Bahn‘ eines immer negativ geladenen Elektrons, was man sich in Gestalt eines kugelförmigen Ensembles aus Kern und Hülle vorstellen kann. Die Dualität aus Kern und Hülle bindet die drei Elemente zu einem Atom mit Masse, Ladung und magnetischem Feld.

Es scheint mir, als sei mit dieser Vorstellung die antike Vorstellung prinzipiell nicht umgestoßen. Die Elemente (P,N,E) sind immanente Bestandteile einer Wesenheit Atom, „Teile (moría), welche immanent in den Dingen dieser Art dieselben begrenzen und als dies bestimmte Etwas bezeichnen, mit deren Aufhebung das Ganze aufgehoben ist, wie z.B. mit Aufhebung der Fläche der Körper, wie einige behaupten, und mit Aufhebung der Linie die Fläche aufgehoben ist; und überhaupt dieser Art scheint einigen die Zahl zu sein, weil nach ihrer Aufhebung nichts sei und sie alles begrenze.“ (A 1017b)

Wenn nun in der obigen Anekdote ein historischer Moment in Heisenbergs Entdeckung dessen, was er Quantenmechanik nennt, geschildert wird, dann besteht dessen Dramatik darin, dass er mit diesen dort im Jahre 1925 aufgeschriebenen Gleichungen der seit 2500 Jahren überlieferten Vorstellung der Unveränderbarkeit (Kontinuität) der Grundbestandteile des Kosmos theoretisch den Boden entzogen hat, indem er die Unbestimmtheit des Messvorgangs als Unbestimmbarkeit der Elemente (stoicheion) in seine Gleichungen integriert und mit dem Energiesatz in Widerspruchsfreiheit gebracht hat. „Die ‚Bahn‘ entsteht dadurch, dass wir sie beobachten.“ Das Akzidentelle (symbebekos) als Gegenstand der Wissenschaft, steht in scharfem Widerspruch zu Aristoteles, für den es dasjenige ist, „was sich zwar an etwas findet und mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden kann, aber weder notwendig noch in den meisten Fällen sich findet.“ (HPP 17 und A 1025a14)

Der griechischen Vorstellung der Elemente ging es um scharfe Bestimmung und Bestimmtheit des Seienden, nicht um grundsätzlich Unbestimmbares. Platons Idee der Elemente als fünffach triangulär strukturierte Körper blieben eine kunstvolle Idee, aber eine unfruchtbare Matrize in der Naturwissenschaft. Anders der aristotelische, von Platon etwas abweichende Begriff ousía: Das Atom/Element bleibt Substrat (Hypokeimenon) des Seienden, zugleich Selbständiges, zugleich Himmelskörper (ein göttlich‘ Ding). Seine Teile (moría) entziehen sich als Gestalt (morphé) und Form (eidos) (A 1018a) zwar der unmittelbaren Anschauung, aber was wäre das für eine Philosophie, die keine Fiktionen des möglichen Wissens dulden würde, keine Science Fiction. Die Kunst (erfahrungsbasierte techne) hat in letzter Zeit mit atemberaubender Geschwindigkeit ein Wahrnehmungsvermögen entwickelt, das sich den Idealvorstellungen kleinster Teile der Natur (physis verstanden als Materie) anzunähern vermag. Und nicht nur das: Jetzt muss auch diese gerätemäßig verschärfte Kunst als formulierbare Größe in die theoretische Betrachtung eingerechnet werden, um zu richtigen Ergebnissen zu kommen.  

Die Bahn des Elektrons kann in der von Niels Bohr hervorgerufenen Vorstellung der Immanenz des Atoms als Kern, Hülle, Zirkulation keinen beliebigen Wert annehmen. Nur auf einer begrenzten Zahl von Bahnen behält das Elektron mit seiner Ladung seine innere Ruhe und Kontinuität. Bohrs Postulat, dass ein Elektron diese Bahn wechseln und sich in Energie (Strahlung) verwandeln kann, betrifft somit nicht die ousía des Atoms als bestimmbares Element im Universum, aber dessen Unwandelbarkeit (hén einai), dessen Kontinuität wird gebrochen.

Heisenberg ist dies, als Nachfahre Aristoteles, Newtons und Kants, bewusst: „Nun müssen wir uns aber auch die Frage stellen: besitzen diese Elementarteilchen der Materie, Proton, Neutron und Elektron, wirklich die beiden Eigenschaften, die in der alten Atomphilosophie formuliert worden waren, nämlich die Unwandelbarkeit und die Identität aller Atome einer Sorte?“ (H 426) Er schaut 1954 auf die wichtigsten Ereignisse in der Empirie der Physik zurück: Das Neutron kann verändert werden. Man kann es vom Atomkern trennen (indem man diesen zertrümmert), und dann verwandelt es sich binnen ca. 15 Minuten „in ein Proton, ein Elektron und ein neutrales Teilchen, das wahrscheinlich die Ruhmasse 0 hat, das sogenannte Neutrino. Die Beständigkeit, die Demokrit von den Elementarteilchen der Materie gefordert hat, gibt es also beim Neutron nicht. Die alte Vorstellung, dass die Materie aus vielen gleichen kleinsten Einheiten besteht, die für alle Zeiten unveränderlich existieren, kann also offenbar nicht richtig sein.“ (H 427)

Während es das in sich zusammenhängend Ausgedehnte, Lückenlose, Ununterbrochene (hén qua synechés A 1016a) verliert, seine Kontinuität, beantwortet Heisenberg die zweite Frage nach der Einzigartigkeit des Atoms (dass es im wesentlichen Sinne Eines sei, hén kath‘ hautó) mit einem eindeutigen „Ja“. (H 427, A 1016a). Obwohl das Atom in seinem Innern verstümmelt (kolobón) ist, so bleibt es dieses Atom, nur eben „die Zahl ist dann ... nicht mehr dieselbe“ (A 1024a).

Er nennt außer dem o.g. Zerfallsprozess des Atoms nach Zertrümmerung seines Protons noch andere Beispiele aus der neuen Physik. Der Amerikaner Carl-David Anderson (1905-1991) entdeckte positiv geladene Elektronen, die sich mit negativ geladenen in der Weise vereinen, „daß bei dieser Vereinigung die Gesamtmasse der beiden Teilchen sich in Energie verwandelt und als Strahlung in den Raum ausgesandt wird.“ (H 248) Anderson konnte das von Paul Dirac (1902-1984) postulierte Positron (als positiv geladenes Elektron) experimentell nachweisen, was Heisenberg als Beweis für Albert Einsteins Behauptung (1905), Masse und Energie seien Äquivalente, angesehen hat. Durch das Vermögen der Beobachtung kosmischer Strahlung in großer Höhe wurden weitere Atome entdeckt, z.B. die Mesone, die eine irrwitzig geringe Lebensdauer besitzen (bis zu 1 Billionstel Sekunde), über die wir nur darum fundierte Aussagen treffen können, weil sie sich gerade noch in dem Bereich der Lichtgeschwindigkeit bewegen, wo ihre Strecke messbar und ihre Wirkung quantenmechanisch betrachtet erkennbar bleibt, was bedeutet, dass ihr Erscheinen als Prozess und nicht als reversibles Wechselspiel eines Impulses A hier (dasjenige, dem Dinge nicht innewohnende, von welchem die Entstehung anfängt, A1013a7) und eines Bewegten B dort betrachtet wird.

„Wenn ich Impuls (dasjenige, dem Dinge nicht innewohnende, von welchem die Entstehung anfängt, A1013a7) mit dem Ort des Bewegten multipliziere, dann erhalte ich, je nachdem ob ich mit dem Impuls anfange oder dem Ort, jeweils ein verschiedenes Ergebnis. „Heisenberg hat entdeckt, dass man zwar etwas wie Ort und Impuls verwenden kann, aber wenn man denen ganz spezielle Eigenschaften gibt, z.B. die, wenn ich zwei Größen miteinander multipliziere, Impuls mal Ort, dass das was anderes bringt als wenn ich Ort mal Impuls multipliziere.“ (Anton Zeilinger, Film2). Hans-Peter Dürr zieht aus dem Paradox der Naturbeobachtung, dass ihr Vermögen nie zu einer unmittelbar erkennbaren Wahrheit (episteme) gelangt, den Schluss: „Das Urelement ist ein Prozess, das ist auch der Grund, warum ich nicht von einem Atom rede, sondern von Wirks, also etwas, das sich verändert.“ (Film2 12:43)

Nun kommt das Sehen als primäre Tätigkeit des wissen Wollenden erneut ins Spiel (Aristoteles, Seitter). „Denn nicht zur zu praktischen Zwecken, sondern auch, wenn wir keine Handlung beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allem anderen vor, und dies deshalb, weil dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis (gnorízein) gibt und viele Unterschiede (diaphoraí) offenbart“ (A 980a25). Die arche des Aristoteles muss neu geschrieben werden. Die Natur (physis) erlaubt uns nicht, sie als Ursprung aller Bewegung und Veränderung zu erkennen, deren Prinzip das Zuerst der Bewegung durch sich selbst ist, das Zuerst des wahrscheinlichsten Ursprungs(ortes), das Zuerst vorhandener Materie, Zuerst eines Anstoßes (Impuls des Quantensprungs), „von welchem die Entstehung von etwas beginnt“ (A 1013a), Zuerst Entscheidende (prohaíresis), auch wenn diese auf dem höchst zweifelhaften Vermögen beruht, tyrannisch zu handeln, um zu verändern, - auf vermessenen Entscheidungen, anderen Künsten (Techniken) ihre Zwecke vorzuschreiben. Sie liefert dennoch fleißig allerlei Prämissen, in denen wir uns als Erkennende bewegen können.

 

D KUNST - WISSENSCHAFT - WEISHEIT

Um die gezielte Umwandlung der Bausteine der Welt sowohl theoretisch/kontemplativ als auch praktisch/realisierend zu betreiben, um Existenz, Beschaffenheit und Verhalten in der Erfahrung (empeirea) nachzuweisen, benötigen die Erforscher der Ursprünge, die Prinzipien sind, in der heutigen Welt entweder Raumfahrzeuge (zur Erforschung der kosmischen Strahlung und ihrer Elemente, Studium der Kristalle, Verhalten unter himmlischer Schwerelosigkeit) oder hochenergetische Beschleuniger wie beim C.E.R.N. in der Schweiz, wobei die Sprecher dieses viele Millionen verschlingenden Projekts immer wieder betonen, dass sie tatsächlich ein faustischer Beweggrund antreibt: zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.

Die Klugheit ihrer speziellen Herangehensweise an die Prinzipien des ursprünglichen Wachstumsvermögens (physis) scheint mir nicht zuletzt darin zu liegen, dass ihr künstlerisches Vermögen auf der Plausibilität einer Technik beruht, die mit enormen Kosten verbunden ist. Die Philosophie kann hier, als Hüterin der Weisheit  qua geschliffenem und geschärftem Denkvermögen nicht mithalten. Das machte erklärlich, warum sie sich ebenfalls dem Kreis der Künste anschließen will, weil sich im akademischen Bereich ihre Vermögenswerte auf einige Professorenstellen beschränken, die selten ein guter Nährboden für gedankliche Konzentration und seelische Ausdauer sind.

Als Medium der Kommunikation bedarf es der Nähe und Befragbarkeit von Weisen, wie sie z.B. von dem buddhistischen Mönch Pomnyun Sunim (Südkorea) in seinen beliebten Versammlungen gepflegt wird, hilfsweise einfacher Aufzeichnungsgeräte wie Mikrophon, Kamera, Schreib- und Druckmaschine, Sende- und Empfangsgerät, um Menschen aller Art als Fragende und Zuhörende zu erreichen. Und dies ist weit entfernt von den Gefilden emphatisch betriebener Kunst.

Aber auch diese wird ihren durch die Aristoteles-Lektüre erkennbare gewordenen Zwiespalt nicht überwinden. Es wird der ‚unverständige‘, nicht ‚hörfähige‘ Künstler eher dem Insekt ähneln, und diese Ähnlichkeit die Basis seiner Phantasie und seines Fatalismus gegenüber dem Zufall und Erstaunen bilden (A 980b). Denn nur der verständige Künstler, den Aristoteles im Auge hat, der aus vielfältiger Erfahrung durch Denken „eine allgemeine Annahme über das Ähnliche bildet“ (A 981a5), wird heute zweifellos ein gefragter Entwickler in den Konzernen des ‚Metauniversums‘ sein, gespeist aus den Formeln und Algorithmen der numerischen Geometrie, geschützt durch Überlagerungen der Quantenphysik, irgendetwas „Ähnliches“ schaffen, vielleicht sogar einen Hybriden aus Las Vegas, Tokio und Peking.

Aber so wie die Weisheit in den technisch verstandenen Künsten nach meiner Einschätzung in eitler Bespiegelung und Liäson mit entscheidungs- und zahlungskräftigen Mächten versinkt, droht ihr in der wunschgetriebenen Beziehung zur Kunst an sich das Schicksal eines von der Schönheit affektierten, verblendeten Denkens, das nicht in erhabener Weise das Gesehene, Gehörte und Verstandene analysiert und ordnet, sondern sich als etwas weiteres Schönes aufspreizt, so als liefere die Erhebung des Denkens zur Kunst allein schon den Ausgleich für den drohenden Abstieg zu einer Art wohlfeiler Lebens- und Entscheidungshilfe.

 

E DAS RELATIVE

Ich habe mir selbst, dem Künstler, als Ausgangspunkt einer Verständigung von Philosophie und Kunst via verschärftem Denken nach 11jährigem stillen Mitlesen der Metaphysik in Walter Seitters Hermesgruppe zur Schulung des Denkvermögens, verschrieben, die 30 Grundbegriffe der Metaphysik von Arche bis Akzidenz an ausgesuchten Erscheinungen einschließlich Verstümmelungen des Hier und Jetzt, Heutigen, Anschaubaren, Erleidbaren durchzulesen, durchzukauen und dabei die Kategorie des Relativen (pro sti), nicht nur in Hinsicht auf Zahl und Proportion, Übertreffendes und Übertroffenes, Tätiges (poiëtiká) und Leidendes (pathëtiká), sondern auch da zu erproben, wo pro sti, das Relative am Menschen, von Aristoteles mit erhabenen, aber auch dunklen Sätzen wie den folgenden beschrieben wird: „Ferner heißt alles das relativ, durch dessen Besitz etwas relativ ist, z.B. die Gleichheit ist etwas Relatives, weil das Gleiche relativ ist, und die Ähnlichkeit, weil das Ähnliche. In akzidentellem Sinne dagegen heißt z.B. der Mensch relativ, weil es ein Akzidens desselben ist, das Zweifache von einem anderen zu sein, und dies ein Relatives ist; oder das Weiße heißt relativ, wenn weiß und doppelt Akzidenzien desselben Dinges sind.“ (A 1021b)

Wird meine Schülerin in näherer Zukunft erfahren, warum es der Mühe wert war, eine neue Sprache nicht nur als nützliches Instrument, sondern in Beziehung zu ihrem Inneren, ihrem Geist zu setzen? Es wird wohl davon abhängen, wieviel Fragen sie dort entwickelt.

 

 

Anmerkungen

Die auf Aristoteles verweisenden altgriechischen Kategorien sind ohne Akzentsetzung in latinisierter Rohform wiedergegeben. Die Zitierkürzel lösen sich folgendermaßen auf:

A = Aristoteles: METAPHYSIK - übersetzt von Herrmann Bonitz (ed. Wellmann). Hamburg (Rowohlt) 20054

H = Elementarteile der Materie. Von Professor Dr. Werner Heisenberg, Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik, Göttingen. Vortrag gehalten im Süddeutschen Rundfunk Heidelberg, gesendet Anfang 1954. Zitiert aus: Blum, Dürr, Rechenberg (Hrsg.): Heisenberg. Gesammelte Werke  Bd. 1 . Physik und Erkenntnis. München-Zürich (Piper) 1984

RM = Rainer Marten: Denkkunst. Kritik der Ontologie. A.d.J. 1989. Neuaufl. München (Alber) 2018.

ML = Mittwoch-Lektüre der Sektion Ästhetik | Neue Wiener Gruppe | Lacan SchuleWien (26. Jänner 2011). Auf Basis dieser Protokolle erschienen: Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I - VI) Freiburg-München (Alber) 2018.

HPP = Werner Heisenberg: Physik und Philosophie (Physics and Philosophy 1958). Stuttgart 2011. Heisenberg, zit. aus dem Vorwort von G. Rasche und B.L. van der Waerden.

Film1 = Ernst Peter Fischer: Vortrag in der Fernseh-Reihe: Urknall Weltall und das Leben. (Harald Lesch & Josef M. Gaßner) München (Bayerischer Rundfunk) 2015.

Film2 = Werner Heisenberg. Fernsehreihe. Folge 6: Der Teil und das Ganze. Thomas Gonschior. München (BR) 2011.

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