τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 28. Februar 2022

In der Metaphysik lesen (1077a 31 – 1078b 7)

23. Februar 2022

 

Wendet man die aristotelische Wahrnehmungslehre (mit dem Getrennt-Sein der beiden Seiten und dem Koinzidieren ihrer Aktualisierungen) auf den Vorgang des Lesens an, so führt das zu einem Lese-Verständnis, welches sowohl beim Leser wie auch beim Text Aktivierungen annimmt, die zu ein und derselben geworden sein müssen. Auch die wird jedoch nicht in jedem Fall so reichhaltig ausfallen wie beim Ereignis auf der Hohen Brücke zu vermuten war. Das Schwierige oder Unvollständige oder Divergierende erfahren wir beim Lesen der Metaphysik auf dem Hohen Markt seit vielen Jahren und jemand wie Lacan hat das selbst in Paris, einem Hoch-Ort des intellektuellen Lebens, ebenfalls im Hinblick auf dieses Buch gesehen und gesagt – also gedacht.

 

Im Buch XIII sind wir von der aristotelischen Theologie heruntergefallen auf Ernüchterungen betreffend den Realitätsgehalt der mathematischen „Dinge“. 

 

Im Unterschied zu Edwin A. Abbott weigert sich Aristoteles – jedenfalls hier -, den Hypersensualisten oder Surrealisten zu geben. Was nur aus Punkten oder Linien oder Flächen besteht, kann nicht wirklich bestehen. Nur ein Körper ist so vollendet, daß er ein Wesen ist und existieren kann. 

 

Dem Begriff nach mögen die mathematischen Dinge früher, im Sinn von elementarer sein. Wie die Dinge früher sind, aus deren Begriffen, die Begriffe der anderen Dinge zusammengesetzt sind. Affektionen wie etwa das Weiße oder das Bewegte sind elementarer als der weiße Mensch. Aber dem Wesen nach ist dieser, also das Zusammengesetzte, vorrangig. Das Weiße kann nicht selbständig existieren, das kann nur der Mensch.

 

Übrigens folgt Aristoteles nicht der modernen Redensart, wonach das Weiß keine Farbe ist. Weiß ist ebenso eine Farbe wie gelb oder rot. Alle Körper - jedenfalls die allermeisten - haben irgendwelche Farben. Weiß ist nur eine davon. Wenn Aristoteles zumeist von weißen Menschen spricht, dann sagt er implizit auch: das sind die mit dieser Farbe. Unfarbige Menschen gibt es nicht – die wären damit auch unsichtbar. Nicht einmal Edwin A. Abbott, der die Menschen (und die anderen Dinge) auf pure Geometrie reduziert hat, hat ihnen die Farben genommen. 

 

Diese Überlegungen führen also zur Feststellung, daß die mathematischen Dinge, indem sie nicht im vollen Sinn, in der Art der Wesen sind, aber auch nicht gar nicht sind, auf eine spezielle Weise „sind“ – was wiederum in die Aussage mündet „Denn vom Sein sprechen wir in vielfachen Bedeutungen.“ (107b 17).

 

Eine Neuformulierung des Grundsatzes der Ontologie, die eine kleine Wendung gegenüber den vielen früheren Formulierungen aufweist: der Infinitiv „sein“ macht das Verbale stärker als das nominale „Seiende“. Diese kleine sprachliche Wendung, die sich im Buch XIII bemerkbar macht, betont vor allem die Unterscheidung zwischen dem Selbständig-Sein und dem Unselbständig-Sein.

 

Wenn etwas „nur“ unselbständig ist, läuft es „natürlich“ Gefahr (das ist die Natürlichkeit der Grobiane, um nicht zu sagen der Darwinisten), daß ihm das Sein überhaupt abgesprochen wird. Dagegen muß ihm die Philosophie mit feinen Unterscheidungen zu Hilfe kommen, indem sie die feinen Unterschiede wahrnimmt, in Worte faßt und damit auch rettet. Da das Selbständig-Sein bei Aristoteles dem Extra-Dasein angenähert wird, wofür sich wiederum das lateinische und auch moderne Existieren anbietet, könnte man meinen, dieses Wort in diesem Sinn zu verwenden und zu sagen, das Mathematische oder die Akzidenzien „existieren“ nicht, sondern sie sind auf andere Weise: sie gelten, sie immanieren oder dergleichen. 

 

Trotzdem klingt die Aussage „x existiert nicht“ wie ein Todesurteil, das man – auch wenn man irgendwie dennoch gegeben ist – kaum überlebt. Daher sollte man mit Aussagen wie x oder y existieren nicht, vorsichtig sein. Es sei denn, man hat Freude daran, das, was einem nicht paßt, in die Inexistenz abzuschieben.

 

Dieses Vergnügen hat sich in der Moderne stark ausgebreitet und ich möchte ihm sogar einen theoretischen Ehrentitel verleihen und von „Inexistenzialismus“ sprechen. Jeder darf danach greifen. Für die Frankophilen erinnere ich an die zackige Formel  „. . . n’existe pas“.

 

Da Aristoteles vieles wußte, hat auch er schon gewußt, daß bestimmte Akzidenzien besonders interessant und vielleicht sogar wichtig sind. Gerade solche Sachen (so Aristoteles), bei denen es besonders auf die Individualität ankommt, spielen gewisse Affektionen, besser gesagt, gewisse Empfänglichkeiten, eine wichtige Rolle, die sogar, obwohl akzidenziell, mit Notwendigkeit vorkommen – nämlich beim Lebewesen, das entweder als weibliches oder als männliches (in dieser Reihenfolge) ist – ohne daß es etwas Weibliches oder etwas Männliches unabhängig von den Lebewesen gibt ( siehe 1078a 6ff.).  

 

Als Oberbegriff setzt Aristoteles hier nicht das einschlägige genos ein, sondern das unspezifische pathos.  

 

Hingegen sind wir bei unserer Parallellektüre, nämlich bei Hermann von Kärnten (12. Jahrhundert) schon auf das moderne Wort sexus gestoßen, der es denn auch im modernen Sinn versteht (obwohl er mit seiner Epochen- und Standeszugehörigkeit dies gar nicht dürfte). Wie ich als Übersetzer von Michel Foucaults Geschichte der Sexualität gemerkt habe, ist mit diesem Wort ein Erfahrungsfeld neu gegliedert worden – wobei die philosophische Aufmerksamkeit gut daran tut, die begrifflichen Strukturen nicht unbedacht mit den realitätsmäßigen zu identifizieren, also zu versuchen, die Genauigkeit und die Stimmigkeit der jeweiligen Bezeichnungen zu überprüfen. 

 

Dabei ist sich Aristoteles dessen bewußt, daß die Wissenschaftler mit ihren Aussagen Zeichen einführen, die von den Gegenständen zu unterscheiden sind. 

 

Er bringt ein ganz elementares Beispiel mit jemandem, der etwas in den Sand zeichnet und sagt, diese Linie sei einen Fuß lang – obwohl das so nicht stimmt (und im übrigen gibt es im Sand kaum eine Linie im geometrischen Sinn). Aber mit derartigen Identifizierungen kann die Wissenschaft, können sogar die Gegenstände der Wissenschaft leben, wenn sie richtig verstanden werden.[1]

 

Aristoteles schreitet aber noch weiter fort und sein Fortschritt erreicht die Schärfe der Wissenschaftskritik, wie sie seit dem 20. Jahrhundert (ich meine jetzt das zweite 20. Jahrhundert) üblich ist.

 

„Doch der Geometer betrachtet den Menschen nicht, insofern er Mensch ist, auch nicht, insofern er unzerlegbar ist, sondern insofern er Körper ist, harter oder geometrischer. Denn was an ihm, auch wenn er nicht unzerlegbar wäre, bestünde, das kann an ihm auch ohne diese Dinge bestehen. Daher sprechen die Geometer richtig und sie sprechen von Seienden und Seiende existieren. Denn Seiendes gibt es in zweierlei Sinn: einereits in Vollendung, andererseits stofflich.“ (1078a 25ff.)

 

Aristoteles verteidigt also die Geometer, obwohl sie den Menschen wesenswidrig geometrisieren: als zerlegbar betrachten. Denn damit verweisen sie auf etwas, was über den Menschen hinausgeht: auf die große Spannung innnerhalb der Gesamtrealität: zwischen Vollendung und Stofflichem.

 

Ich nehme an, die Verteidigung der Geometer ist für Aristoteles möglich, sofern diese sich als solche kenntlich machen. Dann aber gesteht er ihnen zu, daß sie mit der Thematisierung der Zerlegung die Polarität zwischen Vollendung und Stofflichkeit aufzeigen. 

 

(Man könnte die These vertreten, daß der Psychoanalytiker Jacques Lacan, der bereits als spezieller Kenner der Metaphysik-Problematik auffällig geworden ist, indem er die erweiterte Geometrie (und Zeichenkunst!) namens Topologie in den Menschen eingeschrieben und diesen zwischen Imaginärem, Symbolischem, Realem zerlegt hat, die Geometrisierung des Menschen auf die Spitze getrieben hat.)[2]

 

Er holt weiter aus und versteigt sich zu der Behauptung, das Gute (das in Handlungen vorkomme, also moralischer Art sei) und das Schöne (das auch an unbelebten Körpern vorkomme) werde sehr wohl von den mathematischen Wissenschaften behandelt. Sie würden sehr wohl von ihnen besprochen und aufgezeigt. Und wenn sie sie nicht nennen, so weisen sie doch ihre Werke und ihre Verhältnisse auf.

 

Die deutschen Übersetzungen, die mir vorliegen, wollen den Aristoteles ständig auf ein Beweisen festlegen, wo er nur von Zeigen spricht. Aristoteles hat eine lockere Inklusion von Sagen und Zeigen im Sinn (wo Wittgenstein später eine strikte Disjunktion voraussetzt). Das Schöne zeige sich vor allem in Ordnung, Gleichmaß und Begrenztheit und eben die werden am meisten von den mathematischen Wissenschaften aufgewiesen. 

 

Mit diesen Implikationen erweist sich das Schöne als Ursache vieler Dinge, Quasi-Ursache gewissermaßen. „Deutlicher werden wir darüber noch an einer anderen Stelle sprechen.“ (1078a 7)

 

Diese für die Zukunft in Aussicht genommene Stelle läßt sich im vorliegenden Text nicht finden, der hier also unvollendet erscheint. Wir befinden uns an der Abbruchkante des Geschriebenen. Es dürfte aber wohl die eine oder andere Stelle im davor liegenden Text geben, wo die Sache mit jener Irgendwie-Ursache schon angedeutet ist. 

 

Erstaunlich bleibt, wie Aristoteles hier den mathematischen Wissenschaften mehr Aktivitäten und Leistungen zutraut als anderswo. 

 

Walter Seitter

 




[1] Zeichnen in den Sand, Schreiben auf der Erde – solche „geographischen“ Praktiken waren in der Antike offensichtlich üblich – überliefert sind sie von Platon, von Jesus. 

[2] Siehe Walter Seitter: Jaques Lacan als Zeichner, in: ders.: Jacques Lacan und  (Berlin 1984) 

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