τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 25. März 2013

Zweites Protokoll zum 20. 3. 2013

Zunächst weist Horst Ebner, ausgehend vom Protokoll zur letzten Sitzung, auf die Parallele zwischen Aristoteles und Lacan als Sprechende hin, deren sprachliche Aussagen zwar in Büchern, doch ohne von ihnen selbst im klassischen Sinn betitelten Büchern vorliegen. Lacan habe „Nulltitel“ gegeben wie „Schriften“, die nicht auf den Inhalt der Aussagen, sondern auf die eigentliche, mündliche Darbietungsform zeigen. Auch die Bibliothek als Metamedium von Büchern, deren Index das Meta-Inhaltsverzeichnis ist, wird erwähnt.

Matthias Illigen fragt, ob im wissenschaftlich-akademischen Philosophiebetrieb eigentlich überhaupt Primärtexte verfaßt würden. Kant gilt als erster Professor, der auch Primärquellen verfasst und  damit Fichte, Schelling und Hegel beeinflusst hat

Ein guter Wissenschaftler ordnet sich der Sache, über die er Wissen zu schaffen sucht, unter – und ist dabei schöpferisch im Sinne von Wasserschöpfen, aber nicht als Originalgenie.

Wir wenden uns 997 b 25 zu, Aristoteles fragt nach einem Mittleren zwischen "der Heilkunst selbst" und "dieser Heilkunst da" – möglicherweise erneut ironisch, um sich von Platons Ideenlehre abzusetzen. Vorausgegangenes Beispiel ist die Geometrie, die sich mit nicht wahrnehmbaren Dingen beschäftigt, gegenüber der Geodäsie, die mithilfe der Prinzipien der Geometrie wahrnehmbare Dinge – den Raum, die Landschaftsbeschaffenheit – wissenschaftlich behandelt, vermißt und kartographiert. Die wissenschaftliche Lehre der Medizin unterscheidet sich von der praktischen Vorgehensweise zwischen Arzt und Patienten, aber beides wirkt doch ineinander, und wir können nachvollziehen, dass es komisch wäre, da noch ein drittes, mittleres hineinzubringen.

Unsere letzte, nicht einmütig abgeschlossene Diskussion behandelt die Frage, ob die Geodäsie verschwinden würde, wenn die Landschaft vergeht – vielleicht ist das die Frage, ob Wissenschaft von etwas Wahrnehmbaren existieren kann, wenn der wahrnehmbare Gegenstand nicht mehr existiert?

Gesche Heumann

Samstag, 23. März 2013

Politics of Friendship (Protokoll 20. 3. 2013)


Mein Freund Pierre, ein Pariser Anarchist, der mit einem Fuß schon öfter im Kriminal stand, hat bei Derrida, Nancy und auch Deleuze studiert. Ihm ergeht es ähnlich wie mir, der ich bei wahrscheinlich allen entscheidenden Wiener Philosophen der letzten zwei Jahrzehnte  studiert oder zumindest ein Seminar bei Ihnen belegt habe, (von Kortian bis Waldenfels, von Sloterdijk bis Aubenque, von Samsonow bis Seitter), beide arbeiten wir nicht auf der Universität, sondern sind am freien Markt quasi als Unternehmer tätig.
(Zu wenig passen wir in das akademische System, zu viel setzten wir der Mißgunst- und Spießergesellschaft der akademischen Philosophie entgegen. Zuviel Distanz konnten wir im Laufe der Jahre zu uns selbst entwickeln, und zu miserable Sekundärphilosophen sind wir. Übrigens als Unternehmer im Sinne von Hardt und Negris Empire, nämlich als Schnittstelle im Strome des Kapitals, welche bei verschiedensten Gelegenheiten, man könnte auch sagen bei jeder, die sich bietet, akkumuliert. Pierre war eineinhalb jahrelang im Amazonasgebiet bei einem Indianerstamm zu Gast und hat deren Sprache erlernt, und hat sich so in einen Kapitalstrom einer französischen Forschungsgesellschaft gestellt. Ich, der ich jahrelang auf der Psychiatrie war, akkumuliere beispielsweise immer wieder mal mit folie und peerness. Völlig unverfroren.)
Als die entscheidenden Philosophen bezeichnen Pierre und ich, die Autoren und Urheber primärer philosophischer Werke. Dies ist der vorbildliche und prototypische Weg. Vom Verfasser sekundärer Werke als Student und später als Lehrender, irgendwann zum Philosophen primärer Werke, zum Verfechter eigener Theorie zu werden. Im Grunde gilt wohl nichts als wissenschaftlicher und forschender als eine Hypothese zu beweisen. Andere Wissenschaften machen es jedenfalls so. Und nicht anders.
Der erste Philosoph der auch Professor war, war Immanuel Kant, stellten wir fest. Dessen Vorbild wird seither mehr oder weniger imitiert.
Der primäre Philosoph aber soll nur der Sache dienen. Ein Bekenntnis zur Armut und Bescheidenheit, welches ich nicht unterschreiben würde. Gibt es doch trotz, oder gerade wegen der philosophischen Sachen, das Selbstbewusstsein, das Psychische und die Persönlichkeit. Oder auch das Totem und die Gesellschaft. Und so vertrete ich eher die Ansicht, dass die philosophischen Sachen nur mit den Philosophen leben und zur vollen Blüte gelangen. Ungelesene Bücher sind doch, da lehne ich mich zäh an Platon an, tote Bücher. Und nicht-blühende Theorie wird irgendwann zu einem Fall der Archäologie. Was ich beispielsweise bei meiner oftmals belächelten Lektüre von Erich Fromms Werken heute schon bemerke. Leider mussten die bedeutenden Philosophen einsehen, dass nämlich nur sie der Sache dienen können. Deshalb haben sie alle miteinander keinen bedeutenden Schüler. Weder die Deutschen noch die Franzosen.
Pierre übrigens, findet die französische Philosophie langweilig und uninteressant. Er sagt: „Ja, ja Lacan, das ist ganz nett, aber das ist Fünfzigerjahre. Das ist theoretisch nicht mehr interessant. Das ist die französische Schule der Psychoanalyse. Das ist Therapie.“ Er belächelt mich fast dafür, wenn ich ihm von der Schule erzähle, die ich mittwochs besuche. Pierre sagt auch: „Wir in Frankreich können die Tradition der 1950er- bis 1990er-Jahre gar nicht richtig fortführen, weil all die bedeutenden Philosophen es verabsäumt haben, bedeutende Schüler in entscheidenden Positionen zu installieren. Wir in Frankreich lesen alle Sloterdijk. Alle die mit mir studiert haben lesen Sloterdijk.“ Es sei an dieser Stelle gesagt, dass Pierre 38 ist, also um drei Jahre älter, als ich es bin.
Seit einem letzten Wienbesuch beschäftigt Pierre sich mit dialektischer Kybernetik nach Gotthart Günther.
Ich sehe Platon und Aristoteles in dieser Frage nahe beieinander. Entsteht bei Platon Wissen des Wissens und Erkenntnis an und für sich nur über die Selbsterkenntnis, bestätigt Aristoteles mit seiner Polemik gegen die gleichzeitige Existenz von Dingen und deren Ideen mit dem Vorschlag eines Mittleren, meiner Ansicht nach ontologisch und kategorial, das Allgemeine existiert nur im Konkreten. Anthropologisch umgemünzt bedeute dies, dass die allgemeine Philosophie nur in der konkreten philosophischen Tätigkeit des einzelnen Philosophen existiert. Auch wenn Aristoteles die ewigen Dinge und Wissenschaften unabhängig von der Betätigung und als nicht vergänglich sieht, würde ich soweit gehen. Auch bei möglichst authentischer Lektüre, muss man Aristoteles mit der Realität abgleichen, und die besagt bspw. das es keine ewigen Gestirne gibt, sondern vergängliche Sterne und Planeten. 
Ich bin auch überzeugt, dass ohne Philosophen das Fehlen philosophischer Sachen, solange niemandem auffallen würde, bis es wieder Philosophen gäbe.
Philosophie ist, darin sind sich Pierre und ich einig, ist, selbst wenn man es erst postulieren müsste und es Sokrates nicht gegeben hätte, kein Sicherheits- sondern ein Risikoberuf. Und wenn man das Risiko nicht tragen kann, sollte man es, in letzter Konsequenz und nebenbei bemerkt, besser lassen.
Für unsere bisherige Lektüre erscheint mir der Titel „Metagerede“ der Treffendste. Auch „Paratexte“ wie ein Werk von Gérard Genette sich nennt, hätte eine gewisse Gültigkeit. Aber „Metagerede“ ist besser. Viel besser.
Mathias Illigen

P.S. Die Damen der Runde mögen mir die ausschließliche Verwendung der männlichen Form verzeihen.

Donnerstag, 14. März 2013

Metaphysikanalyse (mit Lacan) II


Wir lesen nun seit gut zwei Jahren „in der Metaphysik“ des Aristoteles – ich sage nicht "die Metaphysik". Denn es handelt sich um eine Textmasse, die genaugenommen, nämlich vom Textbestand aus keinen Titel trägt. Auch die Poetik trägt keinen offiziellen Titel, denn sie ist ja nicht als Buch von Aristoteles geschrieben und in die Welt gesetzt worden, sondern eher als Vorlesungsmanuskript hinterlassen worden. Aber schon im ersten Satz wird gesagt, daß es „um die Dichtkunst“ geht. Und das griechische Wort für „Dichtkunst“ ist dann mit der Bedeutung „Dichtkunstlehre“ zum Titel gemacht worden: also ein offiziöser Titel. In der uns jetzt beschäftigenden Textmasse kommt das Wort „Metaphysik“ überhaupt nicht vor, es ist erst nachträglich gebildet worden, um als Titel darübergesetzt zu werden. Worum es im Buch geht, ist die Suche nach „der gesuchten Wissenschaft“ – aber diese Formel eignet sich wirklich nicht als Buchtitel. Beziehungsweise sie würde das Buch zu einem Roman ummodeln – in der Art eines Gralsromans oder einer proustschen Zeitsuche. Und die Titel, die die gesuchte Wissenschaft im Buch dann doch zugesprochen bekommt, sind von niemandem als Titelformulierungen fürs Buch eingesetzt worden (am allerwenigsten der Titel „Weisheit“).

Dieses Buch hat also nicht einmal einen autorisierten offiziösen Titel. Es ist von sich aus (und vom Autor aus) ein Werk „o. T.“. Damit liegt es durchaus auf einer modischen Linie, die sich im 20. Jahrhundert für Werke der Bildenden Kunst formiert hat. Allerdings war diese Linie für Bücher, noch dazu für gelehrte, nie in Geltung. Und so hat man dann eben den Titel „Metaphysik“ erfunden und eingesetzt.

Unser Lesen scheint tatsächlich der Empfehlung Lacans zu folgen, die ja nichts anderes meint als: lesen o. T., lesen o. S. (ohne Sinn oder Signifikat), lesen o. W. (ohne Wesenheit). Wir folgen dieser Empfehlung seit zwei Jahren, obwohl wir sie erst jetzt gefunden haben. Möglicherweise sind wir die ersten, die dieses Buch so lesen – und deshalb stoßen wir überhaupt auf den Text. Wenn man es mit der ganzen Sinnaufladung lesen wollte, würde man kaum – so Lacan – das Buch selber finden; oder das „Büchel“, wie er sagt. Von „bouquin“ kommen ja die Bouquinisten, die am Ufer der Seine so alte Exemplare anbieten, daß die Titelseiten schon fehlen und man daher „gezwungen“ ist zu lesen, ohne zu wissen, „was“ man da liest. Da wir hier nicht in Paris sind und auch nicht Paris spielen, sage ich „Textmasse“ und insistiere auf dem „o. T.“. Das Buch hat nicht einmal einen offiziösen Titel, sondern gar keinen. Oder eben doch einen – aber einen nicht-offiziösen.

Vermutlich sind wir überhaupt die ersten – jedenfalls im deutschen Sprachraum, die diese Lacan-Stelle lesen und wir lesen sie, weil wir ihrer Anweisung vorauseilend folgen.

Lacan erwähnt die im 19. Jahrhundert erfundene Methode, um sich der Sinnaufladung zu entziehen: die historisch-kritische Methode, die das Buch als solches und vor allem die Autorisierung durch den Autor destruiert. Diese Destruktion gehöre immer noch dem universitären Diskurs an, der zuvor über Jahrhunderte mit der Sinnaufladung beschäftigt gewesen sei. Lacan hält also an der Echtheit des Buches fest: er legt sogar auf das deutsche Wort „echt“ Wert. Und einen Beweis für die „Echtheit“ des Textes sieht er in seiner Blödheit – wohlgemerkt Blödheit des Textes nicht des Aristoteles. Der Text ist echt, weil er blöd ist, weil er auf der „Höhe der Blödheit“ ist. Die derzeitige Konjunktur des Wortes „echt“ in der Jugendsprache (oder wie man die nennen soll) unterstützt die lacansche Rede vom Signifikanten, der echt ist, weil „echt blöd“.

Die Blödheit wird von Lacan so erklärt, daß er seinen ganzen Lacanismus einschieben kann, um den springenden Punkt der sogenannten Metaphysik klar zu machen: das Niveau der Blödheit erreicht man, indem man seine Fragen aufgrund der Tatsache stellt, daß das Sprechen den Abgrund ausfüllt, der daraus entsteht, „daß es kein sexuelles Verhältnis gibt“, was wiederum durch keine Schrift in befriedigender Weise begründet werden kann. Zu diesem lacanschen Theorem die Fußnote, daß jetzt zwei Bücher erschienen sind, die erstens anders übersetzen, nämlich „Es gibt keinen Geschlechtsverkehr“, wobei das eine Buch so heißt, aber zwei Lacanlektüren vorstellt, nämlich die von Alain Badiou und von Barbara Cassin, während das andere Es gibt – Geschlechtsverkehr heißt und von Jean-Luc Nancy stammt.

Mir scheint, wir können „die Höhe“ oder „das Niveau“ der Blödheit der sogenannten Metaphysik aufgrund unserer bisherigen Lektüre schon darin vermuten, daß die gesuchte Wissenschaft superlativisch als höchste, mächtigste, natürlich auch wissendste angepeilt oder in Aussicht gestellt wird. Tatsächlich zeigt sie sich jedoch als Suchbewegung, die von Aporie zu Aporie fortschreitet, Bestimmungen vornimmt und weitergeht und sie wieder aufgreift, sich im Kreise dreht. Es tut sich ein riesiges Gefälle auf, ein Abgrund – ähnlich dem lacanistischen.

Walter Seitter

 

Freitag, 8. März 2013

Metaphysikanalyse (mit Lacan)


Aristoteles’ hartnäckige Kritik an der sogenannten „Ideenlehre“ Platons wirft die Frage auf, ob es das, was bei Platon „Idee“ heißt, bei Aristoteles gar nicht gibt oder, wenn doch, dann mit welchen Unterschieden. Die in den sokratisch-platonischen Dialogen herausgearbeitete Soseins- oder Artbestimmtheit wird sehr wohl auch von Aristoteles übernommen und nimmt in den logischen wie in den realwissenschaftlichen (hauptsächlich physikalischen) Schriften eine wichtige Stellung ein: eher vielleicht wichtige Stellungen. Denn sie wird mit zahlreichen unterschiedlichen Begriffsformulierungen ausgedrückt, denen immerhin erkennbare sachliche Nuancen zugrundeliegen. Trotzdem sei hier von diesen einmal abgesehen und statt dessen die Vielzahl der Termini genannt: idea, eidos, morphe, logos, ousia, ti en einai, ti estin, entelecheia. In den logischen Schriften steht die Differenz von Substanz und Akzidenzien im Vordergrund und da wird das eidos hauptsächlich der Substanz zugeordnet. In den anderen Schriften überwiegt die Ursachenbestimmung und –unterscheidung und da wird das eidos als zweite, als Formursache, geführt; es kann aber auch zweite, dritte und vierte Ursache gleichzeitig sein. Das Wort „Ursache“ hat allerdings den Nachteil, daß es den immanenten Charakter der Formursache verdeckt, und der macht nun einmal den Hauptunterschied dieser aristotelischen „Ursache“ gegenüber den platonischen Ideen aus, die transzendent positioniert sind (Aristoteles sagt nüchterner: sie existieren „getrennt“).

Gegenüber der platonischen „Ideenlehre“ könnte man bei Aristoteles von „Ursachenlehre“ sprechen. Und die ersten Abschnitte in der Metaphysik haben denn auch diese Untersuchungsrichtung betont. Hingegen hat der zuletzt gelesene Abschnitt über die „mathematischen Wissenschaften“, aber auch viele andere Stellen wie diejenige über die „Wertfreiheit“ der Mathematik, eine ganz andere Dimension auftauchen lassen, die auch direkt mit dem Selbstverständnis des Textes als Suche nach einer bestimmten, nämlich „gesuchten Wissenschaft“ zusammenhängt: die Dimension einer „Wissenschaftslehre“, mit der übrigens auch der sogenannte „Meta“-Charakter des Textes zusammenpasst. Ein Textverständnis, das durchaus Wirkung gezeigt hat, auch wenn es sich von der Hauptwirkung namens „Metaphysik“ deutlich absetzt. So hat zum Beispiel Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) seine zentralen Schriften allesamt Wissenschaftslehre genannt – und zwar ohne jede Bezugnahme auf Aristoteles oder gar die Metaphysik. Er sah sich als Fortsetzer von Kant, dessen Kritik der reinen Vernunft einerseits als Wissenschaftslehre auftritt, andererseits aber auch der Metaphysik – endlich – eine ordentliche Begründung liefern wollte.

Jetzt zu einem Autor des 20. Jahrhunderts, der kaum zu den professionellen Philosophen zu zählen ist, sich aber unordentlicherweise doch in die Philosophie eingemischt hat. Zunächst mit dem Motiv, der von Sigmund Freud begründeten – man kann auch sagen: erfundenen – Psychoanalyse zu stärkerer Wissenschaftlichkeit zu verhelfen.

In seiner Rede von Rom 1953 hat er hierzu ein „epistemologisches Dreieck“ vorgeschlagen, bestehend aus Geschichte, Mathematik und Linguistik, um die Psychoanalyse darin zu integrieren und auf den Stand der Wissenschaften zu bringen.[1] Was die Linguistik betrifft, so hat er über Claude Lévi-Strauss die eher esoterischen Untersuchungen von Ferdinand de Saussure sowie von Roman Jakobson aufgegriffen. Er zitiert aber auch Freud, der sich für eine ideale psychoanalytische Hochschule die um 1900 schon gut eingebürgerten geisteswissenschaftlichen Disziplinen „Kulturgeschichte, Mythologie, Religionspsychologie und Literaturwissenschaft“ gewünscht hat. Und nachdem er einige Minuten zuvor eine platonische „Rückkehr zum Begriff der wahrhaftigen Wissenschaft“ statuiert hatte, ergänzt er die Freudsche Liste mit einer erklärtermaßen aristotelischen und postuliert folgende Gebiete: Rhetorik, Dialektik, Topik, Grammatik, Poetik.[2] Er resümiert diese, wie er selber sagt, etwas altmodische Postulierung, indem er sich ausdrücklich zur mittelalterlichen Tradition der „artes liberales“ bekennt.[3]

Es ist sehr ungewiß, ob sich die echten Lacanianer, die Psychoanalytiker sind, um diese Empfehlungen kümmern. Wohl aber wissen wir, daß wir vier Jahre lang die Poetik gelesen haben.

Doch damit nicht genug. Am 15. Dezember 1971 empfiehlt Lacan in seinem Seminar die Lektüre der Metaphysik des Aristoteles und er würzt seine Empfehlung mit dem Versprechen, die Leser würden das Buch – ebenso wie er – „kuhblöd“ finden; die Blödheit des Textes sei geradezu frappant.[4]

Und zwar unter einer Bedingung, die selber geradezu tautologisch klingt: man müsse bei der Lektüre der Metaphysik von ihrem Wesen, vom Signifikat, von allen Erklärungen darüber absehen, von allem, was die Metaphysik für das Abendland zustandegebracht hat. Denn alles sei daraus, aus der Metaphysik entstanden, die man ihrerseits aus der Metaphysik – dem Buch – herausgelesen habe. Neuerlich spreche man sogar vom Ende der Metaphysik. Das alles sei nur möglich, aufgrund dieses „Büchels”.

Es sei ja nur ein Büchel (scil. W. S.: meine gelbe Reclam-Ausgabe mißt knapp 15 x 10 x 2 cm) und das sei etwas ganz anderes als die Metaphysik. Man hat ihm einen Sinn gegeben – und den nennt man „Metaphysik“ (nicht kursiv geschrieben). Man müsse jedoch den Sinn und das Büchel unterscheiden. Mehr noch: man müsse das Büchel unter dem ganzen Sinn überhaupt wieder auffinden und hervorholen – und das sei gar nicht leicht. Wenn das gelinge, würde man das sehen, was die Vertreter der historisch-kritisch-exegetischen Methode im 19. Jahrhundert auch schon gesehen hätten, indem sie sich vom Sinn in gewisser Weise abgesperrt hätten.

Und zwar wären ihnen Zweifel über das Buch gekommen, wie auch schon einigen in der Spätantike. Das sogenannte Buch sei wohl nur eine Aneinanderfügung von Notizen, es sei vielleicht von einem Schüler zusammengeschrieben worden. Lacan aber behauptet, ein Buch von Karl Ludwig Michelet (1801–1893) (nicht identisch mit dem französischen Dichter-Historiker Jules Michelet (1798-1874)) gelesen zu haben, und ebenso wie dieser nicht an die historisch-kritische Dekonstruktion der Metaphysik des Aristoteles zu glauben.[5]

Fortsetzung folgt.

Walter Seitter 


[1] Jacques Lacan: Schriften 1 (Frankfurt 1975): 126ff.
[2] Jacques Lacan: op. cit.: 130.
[3] Jacques Lacan: op. cit.: 131.
[4] Jacques Lacan: Séminaire XIX: ... ou pire. 1971-1972 (Paris 2011): 28.
[5] Siehe Jacques Lacan: op. cit.: 28f.