Wir lesen nun seit gut zwei
Jahren „in der Metaphysik“ des Aristoteles – ich sage nicht "die Metaphysik".
Denn es handelt sich um eine Textmasse, die genaugenommen, nämlich vom
Textbestand aus keinen Titel trägt. Auch die Poetik trägt keinen
offiziellen Titel, denn sie ist ja nicht als Buch von Aristoteles geschrieben
und in die Welt gesetzt worden, sondern eher als Vorlesungsmanuskript
hinterlassen worden. Aber schon im ersten Satz wird gesagt, daß es „um die
Dichtkunst“ geht. Und das griechische Wort für „Dichtkunst“ ist dann mit der
Bedeutung „Dichtkunstlehre“ zum Titel gemacht worden: also ein offiziöser
Titel. In der uns jetzt beschäftigenden Textmasse kommt das Wort „Metaphysik“
überhaupt nicht vor, es ist erst nachträglich gebildet worden, um als Titel
darübergesetzt zu werden. Worum es im Buch geht, ist die Suche nach „der
gesuchten Wissenschaft“ – aber diese Formel eignet sich wirklich nicht als
Buchtitel. Beziehungsweise sie würde das Buch zu einem Roman ummodeln – in der
Art eines Gralsromans oder einer proustschen Zeitsuche. Und die Titel, die die
gesuchte Wissenschaft im Buch dann doch zugesprochen bekommt, sind von
niemandem als Titelformulierungen fürs Buch eingesetzt worden (am allerwenigsten
der Titel „Weisheit“).
Dieses Buch hat also nicht
einmal einen autorisierten offiziösen Titel. Es ist von sich aus (und vom Autor
aus) ein Werk „o. T.“. Damit liegt es durchaus auf einer modischen Linie, die
sich im 20. Jahrhundert für Werke der Bildenden Kunst formiert hat. Allerdings
war diese Linie für Bücher, noch dazu für gelehrte, nie in Geltung. Und so hat
man dann eben den Titel „Metaphysik“ erfunden und eingesetzt.
Unser Lesen scheint
tatsächlich der Empfehlung Lacans zu folgen, die ja nichts anderes meint als:
lesen o. T., lesen o. S. (ohne Sinn oder Signifikat), lesen o. W. (ohne
Wesenheit). Wir folgen dieser Empfehlung seit zwei Jahren, obwohl wir sie erst
jetzt gefunden haben. Möglicherweise sind wir die ersten, die dieses Buch so
lesen – und deshalb stoßen wir überhaupt auf den Text. Wenn man es mit der
ganzen Sinnaufladung lesen wollte, würde man kaum – so Lacan – das Buch selber
finden; oder das „Büchel“, wie er sagt. Von „bouquin“ kommen ja die
Bouquinisten, die am Ufer der Seine so alte Exemplare anbieten, daß die
Titelseiten schon fehlen und man daher „gezwungen“ ist zu lesen, ohne zu
wissen, „was“ man da liest. Da wir hier nicht in Paris sind und auch nicht
Paris spielen, sage ich „Textmasse“ und insistiere auf dem „o. T.“. Das Buch
hat nicht einmal einen offiziösen Titel, sondern gar keinen. Oder eben doch
einen – aber einen nicht-offiziösen.
Vermutlich sind wir
überhaupt die ersten – jedenfalls im deutschen Sprachraum, die diese
Lacan-Stelle lesen und wir lesen sie, weil wir ihrer Anweisung vorauseilend
folgen.
Lacan erwähnt die im 19.
Jahrhundert erfundene Methode, um sich der Sinnaufladung zu entziehen: die
historisch-kritische Methode, die das Buch als solches und vor allem die
Autorisierung durch den Autor destruiert. Diese Destruktion gehöre immer noch
dem universitären Diskurs an, der zuvor über Jahrhunderte mit der Sinnaufladung
beschäftigt gewesen sei. Lacan hält also an der Echtheit des Buches fest: er
legt sogar auf das deutsche Wort „echt“ Wert. Und einen Beweis für die
„Echtheit“ des Textes sieht er in seiner Blödheit – wohlgemerkt Blödheit des
Textes nicht des Aristoteles. Der Text ist echt, weil er blöd ist, weil er auf
der „Höhe der Blödheit“ ist. Die derzeitige Konjunktur des Wortes „echt“ in der
Jugendsprache (oder wie man die nennen soll) unterstützt die lacansche Rede vom
Signifikanten, der echt ist, weil „echt blöd“.
Die Blödheit wird von Lacan
so erklärt, daß er seinen ganzen Lacanismus einschieben kann, um den
springenden Punkt der sogenannten Metaphysik klar zu machen: das Niveau der
Blödheit erreicht man, indem man seine Fragen aufgrund der Tatsache stellt, daß
das Sprechen den Abgrund ausfüllt, der daraus entsteht, „daß es kein sexuelles
Verhältnis gibt“, was wiederum durch keine Schrift in befriedigender Weise
begründet werden kann. Zu diesem lacanschen Theorem die Fußnote, daß jetzt
zwei Bücher erschienen sind, die erstens anders übersetzen, nämlich „Es gibt
keinen Geschlechtsverkehr“, wobei das eine Buch so heißt, aber zwei
Lacanlektüren vorstellt, nämlich die von Alain Badiou und von Barbara Cassin,
während das andere Es gibt – Geschlechtsverkehr heißt und von Jean-Luc
Nancy stammt.
Mir scheint, wir können
„die Höhe“ oder „das Niveau“ der Blödheit der sogenannten Metaphysik aufgrund
unserer bisherigen Lektüre schon darin vermuten, daß die gesuchte Wissenschaft
superlativisch als höchste, mächtigste, natürlich auch wissendste angepeilt
oder in Aussicht gestellt wird. Tatsächlich zeigt sie sich jedoch als
Suchbewegung, die von Aporie zu Aporie fortschreitet, Bestimmungen vornimmt und
weitergeht und sie wieder aufgreift, sich im Kreise dreht. Es tut sich ein
riesiges Gefälle auf, ein Abgrund – ähnlich dem lacanistischen.
Walter Seitter
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen