τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 24. März 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH VIII (H), 1046b 29 – 1047b 2)



Eingangs erwähne ich, dass in der heutigen FAZ (20. März 2019) in dem Artikel „An Prinzipien ist kein Mangel“ (von Christian Geyer) an die Thesen von Peter Singer erinnert wird, die voraussetzen, dass eine bestimmte Fähigkeit, nämlich die „Fähigkeit, Präferenzen zu artikulieren“ bestimmten Lebewesen zukomme, nämlich Menschen (ausgenommen Embryonen und Komatöse) und gewissen höheren Tieren. Und bei Aristoteles haben wir die Aussage gefunden, dass beseelten Wesen bestimmte Arten von Vermögen, „begriffliche Vermögen“ (Künste und bestimmte Wissenschaften) zukommen können. Auf dieser allgemeinen Ebene machen die beiden Philosophen ähnliche Aussagen – ohne sich direkt aufeinander zu beziehen.

Wolfgang Koch fragt nach dem Verhältnis von Begriff und Sache bei Aristoteles – das wird im hier gelesenen Text so bestimmt, dass der Begriff über seinen jeweiligen Gegenstand hinausgeht. Die Vernunfttätigkeit vermehrt die Gegenstände und damit auch die Begriffe – genau das macht sich die später „Ontologie“ genannte „betrachtende Wissenschaft“ im Buch IV (1023a 23) zum Programm, nämlich das Auseinandersagen der verschiedenen Seinsmodalitäten, von denen das Vermögen eine ist.

Aristoteles stellt seinen Ausführungen zu Vermögen und Wirklichkeit die Thesen der Megariker gegenüber, wonach nur vermögend sei, was tätig ist – und zwar eben nur genau in dem jeweiligen Zeitpunkt oder Zeitraum. Die Megariker waren eine Philosophenschule, die eleatisch beeinflusst waren; für sie war nur real, was voll und ganz, also vollkommen und vollständig und maximal real ist.

Für sie war jemand genau dann und nur dann Baumeister, wenn er gerade bauend tätig ist. Aristoteles hingegen nimmt eine Zweistufigkeit des Baumeisterseins an und damit lassen sich die geläufigen Annahmen vereinbaren: dass man durch eine Lehre Baumeister werden kann, dass man zwischen Berufstätigkeit und anderen Phasen seines Lebens unterscheiden kann.

Auch elementare Tätigkeiten wie hören oder sehen, stehen oder sitzen, lassen sich in ihrem üblichen Ablauf nur dann verstehen, wenn neutrale Möglichkeitsmomente angenommen werden, die den Übergang von einer Wirklichkeit zu einer anderen erlauben. Andernfalls müsste, wer einmal steht, auf ewig stehen.

Es lassen sich jedoch auch Situationen denken, die der megarischen Präferenz für die Verwirklichung eine unmittelbare Plausibilität verschaffen. Etwa wenn man sieht, dass jemand schläft und daher die normalen Aktivvermögen nicht betätigt, sodass man nicht wissen kann, welche von diesen Vermögen der Person zukommen und welche nicht. Lässt sich dann gleichwohl mit Sicherheit feststellen, dass er über ein Vermögen sicher verfügt? Ja – über das Vermögen zum Schlafen. Das lässt sich feststellen, weil man von der aktuellen Verwirklichung eines Vermögens auf dessen Vorhandensein als Vermögen schließen kann. Das ist sozusagen der megarische Schluss, der nur dann zum Kurzschluss wird, wenn das Vorhandensein des Schlafvermögens auf die Schlafzeit beschränkt würde. Wenn aber nun jemand nicht schlafen kann und darüber klagt, dass er in den letzten drei Nächten kein Auge zudrücken konnte? Man mag ihm den Verlust des Schlafvermögens abnehmen – aber gleichzeitig muss man ihm zubilligen, dass er sein Vermögen zum Klagen  - auch das ein wichtiges Vermögen - nicht eingebüßt hat. Der Akt, die Performanz (de)monstriert die Potenz, die Kapazität deutlich genug.

Derartige Beispiele sind durch die aristotelische Vorführung der Megariker inspiriert worden. Sie ermöglichen meines Erachtens kleine Erkennntiserlebnisse, in denen sich Überraschung, Evidenz und Banalität treffen. Und Aristoteles wird seinerseits den Primat der Verwirklichung aufweisen.

Am unteren Ende der Skala der Seinsmodalitäten nimmt Aristoteles ebenfalls eine Zweistufigkeit an: die nichtseienden Dinge teilen sich in die immerhin möglichen und die unmöglichen.

Walter Seitter

Seminarsitzung vom 20. März 2019
Nächste Sitzung am 27. März 2019

Montag, 18. März 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH VIII (H), 1046b 1 – 28)

Die Seinsmodalität „Vermögen“, die übrigens im Abschnitt 12 von Buch V schon Thema war,  erfährt nun eine deutlichere Bestimmung und Differenzierung. Und dazu werden zunächst die unbeseelten und die beseelten Wesen unterschieden, welche Unterscheidung uns wohl plausibel vorkommt. In den beseelten Wesen bzw. in der Seele ist der Begriff (der Verstand) angesiedelt – und somit Vermögen mit Begriff. Daneben gibt es begriffslose Vermögen, deren Träger unbeseelte Wesen sind.

Und für die Vermögen mit Begriff setzt Aristoteles nun etwas ein, was wir schon kennen könnten (etwa aus Buch VI): eine der drei großen Wissenschaftssorten, nämlich die poietischen Wissenschaften, sowie die Künste (oder Kunstfertigkeiten oder Techniken), auf die jene Wissenschaften ausgerichtet sind - auch die sind Vermögen zu Veränderungen in einem anderen. Aristoteles greift die Heilkunst heraus, die dazugehörige Wissenschaft ist die Medizin: Vermögen zum Bewirken von Gesundheit in einem anderen Menschen. Die Heilkunst ist ein Vermögen mit Begriff und daher ist sie auch Vermögen zur Krankheit – denn ein Begriff begreift eine Sache und ihr Gegenteil. Begriff, Verstand, Vernunft haben die geistige Beweglichkeit zum Verfolgen des Gegenteils. Daher ist die Heilkunst auch die Fähigkeit zur Krankheitserzeugung – eine fatale Möglichkeit, die laut Aristoteles nur akzidenziellerweise realisiert wird.

Hingegen können begriffslose Vermögen wie Wärmendes oder Kühlendes jeweils „nur“ die selbe Qualität, nämlich die ihrige, beim anderen bewirken. Man sieht, dass Aristoteles von den Vermögen nicht sprechen kann, ohne auch von Aktualisierungen zu reden – denn nur in diesen zeigen sich die Vermögen.

Dann unterscheidet Aristoteles noch zwischen dem Vermögen zum richtigen Bewirken bzw. Erleiden und dem Vermögen zum überhaupt Bewirken  bzw. Erleiden: denn wer richtig bewirkt, muss überhaupt bewirken – nicht aber umgekehrt. Das aber heißt auch, dass das Vermögen zum überhaupt Bewirken und Erleiden ohne weiteres und vielleicht nicht akzidenziellerweise zu einem Bewirken und Erleiden führen kann, das als unrichtig empfunden wird. Letzteres Vermögen könnte sogar als Unvermögen zum Richtigen sich verfestigen – womit der Bogen zu einer früheren Unterscheidung geschlossen ist

In den gelesenen beiden Abschnitten hat Aristoteles ein großes Spektrum an sich kreuzenden Versionen von Vermögen vorgestellt, wobei er die Vermögens-Aktualisierungen nicht ausgeschlossen hat – denn das geht gar nicht. Neben dem ärztlichen Vermögen zum Bewirken von Gesundheit bei einem anderen würde nach Aristoteles auch das Patienten-Vermögen zum Annehmen der ärztlichen Einwirkung zum Gesamtkomplex gehören - und beide Vermögen können auch ins Gegenteil umschlagen. Dieses strukturelle Risiko wird in der aristotelischen Vermögens-Analyse aufgedeckt.

Walter Seitter

Seminarsitzung vom 13. März 2019
Nächste Sitzung am 20. März 2019

Sonntag, 10. März 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH VIII (H), 1046a 19 – 36)


Wenn „Vermögen“ die Fähigkeit zu aktiver oder passiver Veränderung bedeutet, dann handelt es sich um eine Gruppe von Seinsmodalitäten, die den Akzidenzien gleichgestellt werden können (auch wenn sie nicht dazu gezählt werden). Die Ontologie ist die Wissenschaft von allen durchgängigen Seinsbestimmungen – und da finden Wesensbestimmungen ebenso ihre Plätze wie Nicht Wesensbestimmungen (allerdings Plätze in einer gewissen Ordnung).

Bewirken und Erleiden setzen entsprechende Vermögen voraus, die einander korrelativ gegenüberstehen, und die wiederum brauchen Träger, die Stoff enthalten und daher den Status von Wesen oder Dingen haben. Als ein bestimmtes Vermögen nennt Aristoteles die Wärme, als deren Träger das Wärmende, das muss etwas Dingliches und insofern Wesensartiges sein - also ein heißer Stein oder die warmen Hände eines Masseurs. Oder ein anderes Vermögen ist die Baukunst und deren natürlicher stofflicher Träger der Bauingenieur.

Die Position des stofflichen Trägers wird von Aristoteles dann noch einmal extra betont, indem er die Unterscheidung zwischen dem Wärmer und dem Ingenieur weglässt und nur vom Bewirkenden spricht, der so sehr eines ist, dass er nicht von sich affiziert wird also auch nicht sich selbst bewirkt. Erleiden oder bewirken kann er nur, wenn er einem anderen Vermögen oder Wesen gegenübersteht.

Vor allem kann er das nur, wenn er selber ein stabiles Wesen ist – also „zusammengewachsen“ ist - womit Aristoteles das „Zusammensein“ und die „Zusammensetzung“ aufgreift, die er einige Seiten zuvor im Anschluss an Lykophron eingeführt hatte.

Es geht hier um Fähigkeiten, Stärken, Mächtigkeiten, sowohl aktive wie auch passive. Leider illustriert Aristoteles seine Unterscheidungen nur mit ganz knappen Beispielen. Umso erfreulicher, dass er doch auch den Negationen davon - er nennt sie Privationen - einen kleinen Platz einräumt: den Unvermögen oder Unfähigkeiten, die auch einige Differenzierungen bekommen.

Den Grundsatz, dass eine Wissenschaft von bestimmten Sachen immer auch die Wissenschaft von den Gegenteilen einschließt, wird Aristoteles gleich selber formulieren. Hier haben wir in aller Kürze ein Beispiel dafür, dass eine Analyse von Fähigkeiten und Mächtigkeiten mit einer Analyse von Unfähigkeiten und Ohnmächtigkeiten Hand in Hand geht. Was gerade bei diesem Thema wichtig wäre, weil ein theoretisches Reden von Macht sich leicht ins Moralisieren erhebt – da könnte die Betrachtung der Ohnmacht guttun.

Walter Seitter

Seminarsitzung vom 6. März 2019
Nächste Sitzung am 13. März 2019