Eingangs erwähne ich, dass in der heutigen FAZ (20. März 2019) in dem
Artikel „An Prinzipien ist kein Mangel“ (von Christian Geyer) an die Thesen von
Peter Singer erinnert wird, die voraussetzen, dass eine bestimmte Fähigkeit,
nämlich die „Fähigkeit, Präferenzen zu artikulieren“ bestimmten Lebewesen
zukomme, nämlich Menschen (ausgenommen Embryonen und Komatöse) und gewissen
höheren Tieren. Und bei Aristoteles haben wir die Aussage gefunden, dass
beseelten Wesen bestimmte Arten von Vermögen, „begriffliche Vermögen“ (Künste
und bestimmte Wissenschaften) zukommen können. Auf dieser allgemeinen Ebene
machen die beiden Philosophen ähnliche Aussagen – ohne sich direkt aufeinander
zu beziehen.
Wolfgang Koch fragt nach dem Verhältnis von Begriff und Sache bei Aristoteles
– das wird im hier gelesenen Text so bestimmt, dass der Begriff über seinen
jeweiligen Gegenstand hinausgeht. Die Vernunfttätigkeit vermehrt die
Gegenstände und damit auch die Begriffe – genau das macht sich die später
„Ontologie“ genannte „betrachtende Wissenschaft“ im Buch IV (1023a 23) zum
Programm, nämlich das Auseinandersagen der verschiedenen Seinsmodalitäten, von
denen das Vermögen eine ist.
Aristoteles stellt seinen Ausführungen zu Vermögen und Wirklichkeit
die Thesen der Megariker gegenüber, wonach nur vermögend sei, was tätig ist –
und zwar eben nur genau in dem jeweiligen Zeitpunkt oder Zeitraum. Die
Megariker waren eine Philosophenschule, die eleatisch beeinflusst waren; für
sie war nur real, was voll und ganz, also vollkommen und vollständig und
maximal real ist.
Für sie war jemand genau dann und nur dann Baumeister, wenn er gerade bauend
tätig ist. Aristoteles hingegen nimmt eine Zweistufigkeit des
Baumeisterseins an und damit lassen sich die geläufigen Annahmen vereinbaren:
dass man durch eine Lehre Baumeister werden kann, dass man zwischen
Berufstätigkeit und anderen Phasen seines Lebens unterscheiden kann.
Auch elementare Tätigkeiten wie hören oder sehen, stehen oder sitzen,
lassen sich in ihrem üblichen Ablauf nur dann verstehen, wenn neutrale
Möglichkeitsmomente angenommen werden, die den Übergang von einer Wirklichkeit
zu einer anderen erlauben. Andernfalls müsste, wer einmal steht, auf ewig
stehen.
Es lassen sich jedoch auch Situationen denken, die der megarischen Präferenz
für die Verwirklichung eine unmittelbare Plausibilität verschaffen. Etwa wenn
man sieht, dass jemand schläft und daher die normalen Aktivvermögen nicht
betätigt, sodass man nicht wissen kann, welche von diesen Vermögen der Person
zukommen und welche nicht. Lässt sich dann gleichwohl mit Sicherheit
feststellen, dass er über ein Vermögen sicher verfügt? Ja – über das
Vermögen zum Schlafen. Das lässt sich feststellen, weil man von der aktuellen
Verwirklichung eines Vermögens auf dessen Vorhandensein als Vermögen schließen
kann. Das ist sozusagen der megarische Schluss, der nur dann zum Kurzschluss
wird, wenn das Vorhandensein des Schlafvermögens auf die Schlafzeit beschränkt
würde. Wenn aber nun jemand nicht schlafen kann und darüber klagt, dass er
in den letzten drei Nächten kein Auge zudrücken konnte? Man mag ihm den Verlust
des Schlafvermögens abnehmen – aber gleichzeitig muss man ihm zubilligen, dass
er sein Vermögen zum Klagen - auch das ein wichtiges Vermögen -
nicht eingebüßt hat. Der Akt, die Performanz (de)monstriert die Potenz,
die Kapazität deutlich genug.
Derartige Beispiele sind durch die aristotelische Vorführung der Megariker
inspiriert worden. Sie ermöglichen meines Erachtens kleine
Erkennntiserlebnisse, in denen sich Überraschung, Evidenz und Banalität
treffen. Und Aristoteles wird seinerseits den Primat der Verwirklichung
aufweisen.
Am unteren Ende der Skala der Seinsmodalitäten nimmt Aristoteles
ebenfalls eine Zweistufigkeit an: die nichtseienden Dinge teilen sich in die
immerhin möglichen und die unmöglichen.
Walter Seitter
Seminarsitzung vom 20. März 2019
Nächste Sitzung am 27. März 2019