τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 18. März 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH VIII (H), 1046b 1 – 28)

Die Seinsmodalität „Vermögen“, die übrigens im Abschnitt 12 von Buch V schon Thema war,  erfährt nun eine deutlichere Bestimmung und Differenzierung. Und dazu werden zunächst die unbeseelten und die beseelten Wesen unterschieden, welche Unterscheidung uns wohl plausibel vorkommt. In den beseelten Wesen bzw. in der Seele ist der Begriff (der Verstand) angesiedelt – und somit Vermögen mit Begriff. Daneben gibt es begriffslose Vermögen, deren Träger unbeseelte Wesen sind.

Und für die Vermögen mit Begriff setzt Aristoteles nun etwas ein, was wir schon kennen könnten (etwa aus Buch VI): eine der drei großen Wissenschaftssorten, nämlich die poietischen Wissenschaften, sowie die Künste (oder Kunstfertigkeiten oder Techniken), auf die jene Wissenschaften ausgerichtet sind - auch die sind Vermögen zu Veränderungen in einem anderen. Aristoteles greift die Heilkunst heraus, die dazugehörige Wissenschaft ist die Medizin: Vermögen zum Bewirken von Gesundheit in einem anderen Menschen. Die Heilkunst ist ein Vermögen mit Begriff und daher ist sie auch Vermögen zur Krankheit – denn ein Begriff begreift eine Sache und ihr Gegenteil. Begriff, Verstand, Vernunft haben die geistige Beweglichkeit zum Verfolgen des Gegenteils. Daher ist die Heilkunst auch die Fähigkeit zur Krankheitserzeugung – eine fatale Möglichkeit, die laut Aristoteles nur akzidenziellerweise realisiert wird.

Hingegen können begriffslose Vermögen wie Wärmendes oder Kühlendes jeweils „nur“ die selbe Qualität, nämlich die ihrige, beim anderen bewirken. Man sieht, dass Aristoteles von den Vermögen nicht sprechen kann, ohne auch von Aktualisierungen zu reden – denn nur in diesen zeigen sich die Vermögen.

Dann unterscheidet Aristoteles noch zwischen dem Vermögen zum richtigen Bewirken bzw. Erleiden und dem Vermögen zum überhaupt Bewirken  bzw. Erleiden: denn wer richtig bewirkt, muss überhaupt bewirken – nicht aber umgekehrt. Das aber heißt auch, dass das Vermögen zum überhaupt Bewirken und Erleiden ohne weiteres und vielleicht nicht akzidenziellerweise zu einem Bewirken und Erleiden führen kann, das als unrichtig empfunden wird. Letzteres Vermögen könnte sogar als Unvermögen zum Richtigen sich verfestigen – womit der Bogen zu einer früheren Unterscheidung geschlossen ist

In den gelesenen beiden Abschnitten hat Aristoteles ein großes Spektrum an sich kreuzenden Versionen von Vermögen vorgestellt, wobei er die Vermögens-Aktualisierungen nicht ausgeschlossen hat – denn das geht gar nicht. Neben dem ärztlichen Vermögen zum Bewirken von Gesundheit bei einem anderen würde nach Aristoteles auch das Patienten-Vermögen zum Annehmen der ärztlichen Einwirkung zum Gesamtkomplex gehören - und beide Vermögen können auch ins Gegenteil umschlagen. Dieses strukturelle Risiko wird in der aristotelischen Vermögens-Analyse aufgedeckt.

Walter Seitter

Seminarsitzung vom 13. März 2019
Nächste Sitzung am 20. März 2019

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