Die Seinsmodalität „Vermögen“, die
übrigens im Abschnitt 12 von Buch V schon Thema war, erfährt nun eine
deutlichere Bestimmung und Differenzierung. Und dazu werden zunächst die
unbeseelten und die beseelten Wesen unterschieden, welche Unterscheidung uns wohl
plausibel vorkommt. In den beseelten Wesen bzw. in der Seele ist der Begriff
(der Verstand) angesiedelt – und somit Vermögen mit Begriff. Daneben gibt
es begriffslose Vermögen, deren Träger unbeseelte Wesen sind.
Und für die Vermögen mit Begriff setzt
Aristoteles nun etwas ein, was wir schon kennen könnten (etwa aus Buch VI):
eine der drei großen Wissenschaftssorten, nämlich die poietischen
Wissenschaften, sowie die Künste (oder Kunstfertigkeiten oder Techniken), auf
die jene Wissenschaften ausgerichtet sind - auch die sind Vermögen zu
Veränderungen in einem anderen. Aristoteles greift die Heilkunst heraus, die
dazugehörige Wissenschaft ist die Medizin: Vermögen zum Bewirken von Gesundheit
in einem anderen Menschen. Die Heilkunst ist ein Vermögen mit Begriff und daher
ist sie auch Vermögen zur Krankheit – denn ein Begriff begreift eine Sache
und ihr Gegenteil. Begriff, Verstand, Vernunft haben die geistige Beweglichkeit
zum Verfolgen des Gegenteils. Daher ist die Heilkunst auch die Fähigkeit zur
Krankheitserzeugung – eine fatale Möglichkeit, die laut Aristoteles nur
akzidenziellerweise realisiert wird.
Hingegen können begriffslose
Vermögen wie Wärmendes oder Kühlendes jeweils „nur“ die selbe Qualität, nämlich
die ihrige, beim anderen bewirken. Man sieht, dass Aristoteles von den Vermögen
nicht sprechen kann, ohne auch von Aktualisierungen zu reden – denn nur in
diesen zeigen sich die Vermögen.
Dann unterscheidet Aristoteles noch
zwischen dem Vermögen zum richtigen Bewirken bzw. Erleiden und dem Vermögen zum
überhaupt Bewirken bzw. Erleiden: denn wer richtig bewirkt, muss
überhaupt bewirken – nicht aber umgekehrt. Das aber heißt auch, dass das
Vermögen zum überhaupt Bewirken und Erleiden ohne weiteres und vielleicht nicht
akzidenziellerweise zu einem Bewirken und Erleiden führen kann, das als
unrichtig empfunden wird. Letzteres Vermögen könnte sogar als Unvermögen
zum Richtigen sich verfestigen – womit der Bogen zu einer früheren
Unterscheidung geschlossen ist
In den gelesenen beiden Abschnitten
hat Aristoteles ein großes Spektrum an sich kreuzenden Versionen von Vermögen
vorgestellt, wobei er die Vermögens-Aktualisierungen nicht ausgeschlossen hat –
denn das geht gar nicht. Neben dem ärztlichen Vermögen zum Bewirken von
Gesundheit bei einem anderen würde nach Aristoteles auch das Patienten-Vermögen
zum Annehmen der ärztlichen Einwirkung zum Gesamtkomplex gehören - und
beide Vermögen können auch ins Gegenteil umschlagen. Dieses strukturelle Risiko
wird in der aristotelischen Vermögens-Analyse aufgedeckt.
Walter
Seitter
Seminarsitzung
vom 13. März 2019
Nächste
Sitzung am 20. März 2019
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