τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Samstag, 24. Juni 2023

In der Metaphysik lesen (1089b 26 – 1090b 4)

21. Juni  2023

 


Beim Lesen im Buch XIV haben wir bemerkt, daß Aristoteles hier seine Aufmerksamkeit wiederum hauptsächlich auf die Aussage-Mannigfaltigkeit des Seienden legt, welche das axiomatische (oder theorematische ?) Prinzip seiner im Buch IV formell begründeten Ontologie ist. Doch die deutschen Übersetzungen bemühen sich nur wenig, seine Formulierungen, die diese Aussagerichtung performativ zum Ausdruck bringen, der deutschen Sprache aufzuzwingen.

 

Etwas Ähnliches habe ich vor Jahren beim Vergleich zwischen französischen philosophischen Büchern und den deutschen Übersetzungen wahrgenommen. Sophia Panteliadou erwähnt als Beispiel dafür das Buch Politiques de l’amitié  von Jacques Derrida, das als Politik der Freundschaft ins Deutsche übersetzt worden ist - womit der Übersetzer entweder seine Blindheit oder seine Mutlosigkeit bezeugt hat.  

 

Ähnlich scheint es nun dem Text der Metaphysik zu ergehen – obwohl hier nun gerade die Pluralistik-Tendenz des aristotelischen Denkens Aussage-Thema ist. Schlagartig wird hier sichtbar – aber nur für die Sehenden, wie Aristoteles berühmt und unerkannt, ja verfälscht worden ist.

 

Aristoteles fragt nicht, wieso es eine Vielheit des Seienden gebe, sondern „wie die Seienden viele sind“, und er antwortet, weil „das Substrat viele wird und ist“ – er spricht also einem Singular-Subjekt ein Plural-Prädikat zu.

 

In neuerer Zeit ist sogar ein deutscher philosophischer Buchtitel damit bekannt geworden, daß er sich so etwas erlaubt:

 

Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?

 

Aristoteles stellt die Frage, wieso es der Verwirklichung nach viele Wesen gebe und nicht nur eines.

 

Damit scheint er der Auffassung, es gebe nur eines, eine gewisse selbstverständliche Plausibilität einzuräumen. Ist es so eine, wie sie in gewissen philosophischen Milieus auch noch heute zu existieren scheint, wo man mit dem Wort „Wesen“ irgendeine und zwar eine Erhabenheit assoziiert? Ein Mystifizierung des „Wesens“, die den entsprechenden aristotelischen Begriff, der doch der „bekannteste“ ist, verkennt.

 

 

 

Neulich war auch die Bochumer Philosophiehistorikerin Barbara M. Sattler in Wien und ich präsentierte ihr meine These, daß Aristoteles im Buch XIII und XIV die Mathematik zurückzudrängen versuche. Sie meinte dazu, dieses Zurückdrängen beziehe sich auf die pythagoreisch-platonische Mathematik. Tatsächlich war es ja diese Mathematik, die den mathematischen Gegenständen eine volle Realität zugesprochen hat. Vergleichbar mit den aktuellen Entwicklungen der exakten Wissenschaften, wo die Mathematik sich mehr und mehr vordrängt – während draußen die Natur sich auch mehr und mehr vordrängt – aber anders.

 

Dieses Drängen der Natur gab es allerdings auch schon seinerzeit und Aristoteles sah sich verpflichtet, es zur Kenntnis zu nehmen und zur Kenntnis zu geben. Und das nannte er „Physik“.

 

Jene Mathematiker identifizierten die Zahlen mit den Ideen, mußten aber feststellen, daß die Zahlen den wahrnehmbaren Dingen anhaften – zum Beispiel der musikalischen Harmonie oder den Himmelskörpern.

 

Andere wiederum, die nur die Zahlen zugelassen haben, kamen zum Schluß, es gebe gar keine Wissenschaft von den wahrnehmbaren Dingen. Aristoteles betont hingegen, daß es sie gibt – nämlich die Physik. Und daß er das schon oft gesagt habe.

 

Damit artikuliert er auch die positive Kehrseite seiner Mathematik-Kritik: die Affirmation der Physik.

Wenn einige Pythagoreer-Platoniker behaupten, die natürlichen Körper würden aus den Zahlen hervorgehen, wendet Aristoteles dagegen ein, Schweres oder Leichtes könne doch nicht aus etwas hervorgehen, was mit Schwere oder Leichtigkeit gar nichts zu tun habe. Wie schon an der Stelle mit den Farben, insistiert er auch hier auf Wahrnehmungsqualitäten. Sie und nur sie eröffnen den Zugang, zu dem, was die realen Dinge der Physik sind.

 

Die mathematischen Axiome beziehen sich nicht auf die wahrnehmbaren Qualitäten, aber sie sind gültig und sie schmeicheln der Seele – und daher neigte man dazu, ihre Realität mit derjenigen der wahrnehmbaren Dinge gleichzusetzen.

 

So schätzt Aristoteles „erkenntnispsychologisch“ die Täuschungsgefahr ein, die mit dem Ineinandergreifen der unterschiedlichen Seinsmodalitäten gegeben ist, wogegen nur deren sorgfältige Unterscheidung hilft – die Ontologie.

 

Die bisherige Lektüre von Buch XIII und XIV führt also zu einem vorläufigen Resümé, das sich wissenschaftspolitisch so formulieren läßt: Physik und Ontologie sind als zwei wohlunterschiedene Wissensformen zu praktizieren, um elementare Klarheiten zu gewinnen.

 

Walter Seitter

 

 

Postskriptum

 

In der letzten Zeit versuche ich gelegentlich, anderen elementare Wahrheiten zu evozieren. Ich frage die Person AB, die gerade ein Rindsgulasch ißt, was aus dieser Speise wird, indem sie gegessen wird und nachdem sie gegessen worden ist. Ich bekomme von AB unterschiedliche Antworten: das Rindsgulasch wird verstoffwechselt; aus dem Rindsgulasch wird Kot; es entsteht ein angenehmes Sättigungsgefühl; ich frage dann: Sättigungsgefühl bei wem? Antwort: bei mir (AB). Nur ganz zögerlich nähert man sich oder vielmehr verweigert man sich einer klaren Antwort. Vielleicht müßte ich die Frage so stellen: wer entsteht aus dem Rindsgulasch?

Montag, 12. Juni 2023

In der Metaphysik lesen (1089a 16 – 1089b 27)

 7. Juni 2023

 

Das letzte Protokoll ist nicht besonders klar gewesen; es muß aber jetzt nicht im einzelnen verbessert werden, denn der aristotelische Text bleibt auf seiner inhaltlichen Linie und wird daher vielleicht die Sache nachträglich noch deutlicher machen.

 

Nach der interessanten Unterscheidung zwischen dem Unaufhörlichen und dem Ewigen, die als ein Beitrag zur Charakterisierung des UB – DD-Komplexes gesehen werden kann, wendet sich Aristoteles wieder einmal der Kritik der Lehre seines Lehrers Platon zu.

 

Und zwar geht er jetzt nicht auf die Lehre von den sogenannten Ideen ein, die den in der Welt vorkommenden Wesen und Eigenschaften zugrunde liegen sollen, sondern auf die Prinzipienlehre, welche zur sogenannten Ungeschriebenen Lehre gehört und jenseits der Ideen ein zweifaches Prinzip annimmt: das Eine und die unbestimmte Zweiheit. Aristoteles kritisiert an dieser Auffassung, daß sie wegen ihrer hohen Abstraktheit zusätzliche Elemente einführen müsse: das Ungleiche und das Bezügliche. Außerdem müsse sie das Seiende wie auch das Nicht-Seiende zu Prinzipien erklären.

 

Alle diese Annahmen seien jedoch ungeeignet, die Mannigfaltigkeit zu erklären, die sich durch die gesamte erfahrbare Realität durchzieht: sowohl als Mannigfaltigkeit der Realitätssorten wie auch als Vielheit der Seinsmodalitäten.

 

Vor allem die letztere wird hier immer wieder als Tatbestand festgehalten.

 

Das Eine und die unbestimmte Zweiheit würden eigentlich nur eine einzige Seinsmodaliät, nämlich die Quantität, für das Zustandekommen aller übrigen verantwortlich machen.

 

Damit würden unbestreitbare Erfahrungstatsachen mit eigenem Profil auf andersartige, angeblich höherrangige zurückgeführt.

 

Aristoteles nennt hier so schlichte, banale oder auch erstaunliche Tatsachen, wie die, daß es zweierlei Weiß gibt oder viele Farben, Flüssigkeiten und Figuren. „Zweierlei Weiß“ – diese richtige Übersetzung unterschlägt beinahe, daß „Weiß“ hier eigentlich im Plural gemeint ist – aber die deutsche Sprache, läßt eine deutliche Pluralbildung nicht zu.

 

Damit stoßen wir auf eine Eigentümlichkeit des Deutschen, die mir vor Jahrzehnten schon aufgefallen ist, als ich mich in die französische Sprache hineingearbeitet habe. Im Französischen habe ich manche Plurale gesehen, die von den deutschen Übersetzern unterschlagen werden, weil die deutsche Sprache irgendeinen Anti-Plural-Bazillus in sich trägt, der eigene Untersuchungen verdienen würde.

 

Und Aristoteles sieht in gewissen platonischen Lehren eine ähnliche Pluralfeindlichkeit.

Die vielen Farben, Flüssigkeiten und Figuren können aus dem platonischen Doppelprinzip Eines und Zweiheit nicht erklärt werden, denn sie sind ja keine Zahlen und Einsen. Allerdings hat Isaac Newton die Farben in Zahlenwerte verwandelt – was bekanntlich auch irgendwie stimmt, wenn man ein bestimmtes Substrat zugrundelegt, das allerdings selber ein andersartiges ist. Das wurde ungefähr hundert Jahre nach Goethe bemerkt und richtiggestellt.

 

Die drastische Formulierung des Aristoteles, die vielen Farben, Flüssigkeiten und Figuren seien doch keine Zahlen, verdient jedoch noch mehr Aufmerksamkeit. Zumal sie von der Bemerkung eingeleitet wird, es gebe zweierlei Weiß.

 

Was ist das für eine Aussage, wie kommt die zustande? Aus welchem Bereich kommt sie?

 

Wohl doch nicht aus der Kategorienlehre, die ja ein Stützpfeiler des „pollachos legomenon on“ ist. Vor dieser Kategorienlehre beziehungsweise vor der ganzen Lehre von den vielen Seinsmodalitäten muß diese Aussage über die beiden Weiß-Töne ihren Entstehungsort haben.

 

„Weiß“ ist eine der am häufigsten von Aristoteles genannten Eigenschaften – zumeist als Eigenschaft von Menschen, nur selten konfrontiert mit „schwarz“ als anderer Menscheneigenschaft beziehungsweise Hautfarbe.

 

Bei „zweierlei weiß“ kann es vielleicht auch um die menschliche Hautfarbe gehen (obwohl oder weil die kaum je wirklich weiß ist sondern viel mehr Nuancen aufweist als bloß zwei).

 

Von zweierlei Weiß kann nur jemand reden oder schreiben, der Augen hat und dann auch noch den Mut, so eine feine Erscheinungsdifferenz mit so schlichten Wörtern zu benennen.

 

Sagen, was man sieht. Das ist die Leistung oder die Tugend, die so einen Satz möglich macht.

 

Wie nennt man sie – die Leistung oder Tugend?

Auf welcher Ebene liegt sie?

 

Am Ende von Buch XIII (1087a 20f.) hat Aristoteles sozusagen den Gesichtssinn zitiert, der die allgemeine Farbe sieht, da die Farbe, die er jetzt gerade sieht, Farbe überhaupt ist. Da geht es um das Zusammenspiel von Einzelnem und Allgemeinem. Aber den Anlaß bildet ein Sehereignis, wie banal, alltäglich und gewöhnlich es auch sein mag. Und daran angeschlossen hat er den Grammatiker, also den Schriftgelehrten, der, indem er jetzt gerade dieses A sieht, ein A überhaupt sieht.

 

Auch mit diesem immerhin Doppelbeispiel hat Aristoteles in die sogenannte Metaphysik etwas eingeführt, was ihr fremd zu sein scheint, obwohl er es dann doch in sein Lehrgebäude integriert.

 

Jetzt geht es gerade um den Abschnitt des Lehrgebäudes, der dann als „Ontologie“ bezeichnet worden ist. Den er jedoch offensichtlich zu Lebzeiten nur mit Mühe klarmachen konnte.

 

Vielleicht deswegen, weil dieses Lehrstück nicht gut zum Hauptkapitel des Unterrichtsprogramms paßt, wo es doch um die Theologie gehen sollte. Doch diese Ontologie, die schon die Bücher IV, V, VII, VIII, IX, X mit ihren Begriffsunterscheidungen gefüllt hatte, scheint immer noch zusätzliche Ergänzungen, Anregungen, vielleicht sogar Impulse zu brauchen, um mit dem, worum es ihr geht, gegen vorherrschende Denkgewohnheiten oder Theorien anzukommen.

 

Die zuletzt bemerkten Impulse scheinen aus der Konstellation Wahrnehmung-Erscheinung zu stammen, zu der auch der Mut zum Reden gehört, denn wenn man die Wahrnehmungen die man macht, die Erscheinungen, die man hat, verschweigt, dann bleibt alles beim Alten, und die Erscheinungen bekommen keine Chance, das Meinen, das immer schon da ist, bei einem selber und bei den anderen, zu stören, aufzuwecken und zu anderen Ansichten zu bekehren, zu erweitern.

 

Die Konstellation Wahrnehmung-Erscheinung, läßt sich die einem bestimmten Bereich zu zuordnen? Ein moderner Begriff dafür wäre „Ästhetik“. Von der Ästhetik als Wahrnehmungslehre führt ein Weg zur Physik als der Wissenschaft von den naturhaften Erscheinungen, der wechselhaften; und ein Weg zu den Künsten, den visuellen und akustischen.

 

Mit seinen knappen ästhetischen Beispielen möchte Aristoteles die von ihm konzipierte übergroße Wissenschaft davor bewahren, sich in reinen und endlosen Gedankenkonstruktionen zu verlieren.

 

Vielleicht wird man das Einbrechen der Wahrnehmung-Erscheinung in die Metaphysik noch näher betrachten können - falls noch etwas Blitzartiges daher kommt.

 

Das Theologie-Stück produziert eine Gott-Figur, die sich durch endlich viele aber unendlich intensive Tätigkeiten auszeichnet.

 

Die Ontologie insistiert darauf, daß diese eine (und keineswegs allmächtige) Gott-Figur der Welt keine totale Einheitlichkeit aufzwingt.

 

 

 

Aristoteles wirft Platon vor – oder eher den Platonikern, und damit seinen eigenen engsten Mitschülern und Kollegen, daß sie um die Erklärung der Dinge aus dem Seienden und dem Einen zu stützen, zum Bezüglichen und zum Ungleichen greifen, obwohl diese kein Gegenteil und keine Verneinung des Seienden und Einen darstellen sondern bestimmte Naturen der Seienden wie das Was oder das Quale.

 

Mit der Vielheit der Naturen ist hier nicht die Mannigfaltigkeit der Gattungen und Arten gemeint, sondern die der Seinsmodalitäten. Aristoteles ist im Gebrauch der Begriffe nicht immer konsequent. Aber so einen einfachen Trick, wie den, die Erklärung aller Dinge aus „dem“ Seienden dadurch plausibel zu machen, daß er für „das“ Seiende auch „das“ Nicht-Seiende einsetzt, erlaubt er sich nicht.

 

Mit dem großen Trick, einfach die Negation einzusetzen und damit einen Anschein von Mannigfaltigkeit zu erzeugen, den Anschein von Monismus zu vermeiden, hat Hegel im 19. Jahrhundert nach Christus großen Erfolg gehabt. Zunächst nur literarischen Erfolg, dem bald auch andere Erfolge folgen sollten.

 

Aristoteles hält den von ihm kritisierten Theoretikern vor, daß sie die Vielheit der von ihnen herangezogenen Eigenschaften nicht untersuchen. Allerdings wird er jetzt schon wieder vom modernen deutschen Übersetzer bestätigt, der sich nicht in der Lage sieht, das Ungleiche in den Plural zu setzen (ist ja auch schwierig!), beziehungsweise nicht den Mut aufbringt, der pluralfeindlichen deutschen Sprache einige Rucke zu versetzen und ihr einige ungewohnte Plurale aufzuzwingen.

 

Das aristotelische Engagement für den Plural wird von mir aufgegriffen und fortgesetzt.

 

Die Vielheit der Ungleichen wird auch von denen, die sie nicht wahrhaben wollen, schreibend performativ anerkannt und realisiert, weil sie nämlich deren verschiedene Arten oder Dimensionen richtig benennen: diejenigen, die zu den Zahlen, die zur Länge, die zur Fläche, die zu den Volumen führen.

 

Die Frage nach der Ursache dafür, daß die Bezüglichen viele sind, bleibt offen.

 

Eine weitere wichtige Unterscheidung geht dahin, daß für jedes ein Vermögendes anzunehmen ist.

 

Wobei keine Verwechslungen statthaben sollten. Das Bezügliche ist weder das dem Vermögen nach Eine oder Seiende noch die Verneinung des Einen oder Seienden.

 

Damit zwingt man sich allerdings auch dazu, jeden Begriff, den man verwendet, definieren zu können, indem man ihm sein spezifisches Profil zuspricht. Sondern ein Was von den Seienden. Ein bestimmtes Etwas, ein bestimmtes Seiendes neben den anderen Seienden. Und seine Bestimmtheit sollte man formulieren können.

 

„Das Seiende“ ist weit weg von meiner Sprachgewohnheit, von meiner Umgangssprache. Eher: „Entität“.

 

 

Wenn man sie nicht formulieren kann oder will, sollte man darauf verzichten, die Begriffe zu verwenden.  

 

Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, daß man, um etwas zu verstehen, es verständlich machen muß, indem man es in Umgangssprache übersetzt.

 

Man muß es einem anderen, irgendeinem anderen, sagen können.

 

Einen Begriff definieren heißt, mit anderen Wörtern das bezeichnen, was mit dem Begriff bezeichnet wird.

 

Nicht einmal Definitionen, die ja nur in beschränktem Ausmaß ordentliche Aussagen sind, dürfen Tautologien sein.

 

Es gibt also zwei – mindestens zwei -Ausrichtungen zu Anderem, die für Aussagen verbindlich sind.

 

Aussagen haben Allo- oder Heterologien zu sein.

 

Walter Seitter

Dienstag, 6. Juni 2023

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 31 (76vD - 77rF) Seite 212, Z 2 bis Seite 216, Z 12 bei Burnett

 Mittwoch, den 31. Mai 2023

 

 

Wir befinden uns in der Einteilung der Zeitabschnitte der zweiten Zeugung, also im wesentlichen der Welt der Lebewesen, die von dem Weg der Sonne bestimmt werden. Die Sonne läßt im Herannahen den Dienst der Höheren zu und im Zurückweichen lässt sie den Dienst der unteren Elemente zu, in der Mitte sind die Elemente gemäßigt und vermischt für die Zeugung der Dinge. Die Annäherung der Sonne lockt den Samen hervor und bringt die Gestalt der Lebewesen zum Vorschein, diese Zeiten eignen sich auch für die Veredelung der und das Säen der Pflanzen als auch für die Vermischung der Tiere. Diese zeitliche Einteilung erinnert an Jahreszeiten, obwohl keine Einteilung eines Jahres vorkommt, aber eine Feststellung, dass es vier Abschnitte sind. Zwei Abschnitte der Zeit sind gemäßigt, für Empfängnis und Geburt und zwei sind intensiviert (intensa) für die Ernährung der Empfängnis und die Reifung des Gezeugten.

Die zeitliche Einteilung reicht noch nicht, daher wird noch die Mondzeit des Ptolemäus hinzugenommen. Bei Ptolemäus sind Sonne und Mond die Eltern der Welt und durch das Zusammenkommen der Lichter beider wird der Mond schwanger mit dem Samen der Dinge und führt die Geburt zu Ende und treibt damit bestimmte Bewegungen an. Eine dritte Einteilung der Zeiten von Abu Ma´shar nimmt die tägliche Umdrehung der Welt als Ausgangspunkt für bestimmte der Natur zugrundeliegende Bewegungen und Verhaltensweisen (varios subiecte nature motus et habitudinem). Nach den Jahreszeiten, Mondzeiten und Tageszeiten führt Hermann noch eine Art Restkategorie von Zeitabschnitten ein für besondere Fälle von Ereignissen und Bewirkung von einzelnen Eigenschaften. Etwas ungewohnt scheint die eigene Bewegkraft dieser Zeitabschnitte, weil man heute den Einteilungen selbst keine Wirkkraft zuschreiben will.

 

Der Ort der zweiten Zeugung

Dieser Absatz beginnt mit der Feststellung, dass nicht jeder Ort sich für jede Zeugung eignet, außer für die Mineralien, die in ihrer Entstehung nicht so sehr der Sonne folgen, sondern den übrigen Planeten. Zuerst werden die Teile der Erde in Viertel eingeteilt, dass nur die Teile der Erde mit gemäßigter Luft für die Zeugung oder Fortpflanzung geeignet sind, davon nimmt Hermann nur das Viertel, das wir kennen zur Ausmessung heran, den er möchte die Bewohnbarkeit der Erde bestimmen.

Die Dimension oder Ausmessung des Universums ist dreifach: Länge, Breite und Höhe. Da der Sitz eines Körpers in seinem Fundament ist und das Fundament der ganzen Welt die Erde ist, muss die Erde der Sitz der weltlichen Nachkommen sein. Ein Teil dieses irdischen Lebens wächst aus dem Boden in die Höhe, ein anderer wird über den Boden in die Höhe gehoben, daher versucht Hermann die Höhe des irdischen Dunstes (terreni vaporis) der als Brennstoff für dieses Wachstum gelten könnte, zu bestimmen. Er nimmt an, das dieser Dunst nicht mehr als 16 Stadien hoch ist, wie sich Aristoteles es gleich der Höhe des Olymps vorstellt, was überraschend übereinstimmt, Olymp ist 2918 Meter hoch, 16 Stadien sind 2944 Meter, wenn man das Stadion mit 184 Meter ansetzt.

Das scheint also die Höhe der bewohnbaren Welt zu sein, die man nach Hipparchos auch mit der Höhe des Regenbogen bestimmen könnte, aber da das Verhältnis des Bogen zum Halbkreis nicht ohne Weiteres verfügbar ist, überlässt Hermann den Beweis gerne jemand Anderen, dem das beliebt.

Um den Bereich der bewohnbaren Welt noch genauer einzugrenzen, macht Hermann jetzt eine Tour de force durch seine gesamten geografischen Kenntnisse.

Vom Nordpol aus ist die Erde erst ab dem 30. Grad wegen des ewigen Frostes bewohnbar, Riphean Bergen und den Roten Wäldern in Russland zu dem Asowschen Meer nach Island, ein Wort das im Original auch als „Island“ drinsteht, aber als skythisch bezeichnet wird. Dann wird eine südliche Grenze in Libyen gesucht, eine Grenze der Hitze und Trockenheit, wo es von Meroe in Nubien nach Mauretanien zum Atlasgebirge geht. Der Umriss wird in der Folge etwas ungewöhnlicher, es geht von Cadiz nach Thule, dann nach Themisciria in Kleinasien zu kaspischen Toren zu den Quellen des äthiopischen Ganges.

Der Breite nach werden Orte in Indien, Sri Lanka und die kanarischen Inseln als die Ränder angeführt, insgesamt bleibt unsere gesamte bewohnbare Welt bei etwa 60 Grad. Hermann fügt hier eine Schätzung der bewohnbaren Welt ein, die von Al-Battani stammen soll, indem er ein Halbes mit 6 multipliziert und somit auf ein Zwölftel des Ganzen kommt. Damit haben wir den Anteil der Erdkugel, der ganz unserer Bewohnbarkeit (habitationi) überlassen ist.

 

Karl Bruckschwaiger

 

Nächste Sitzung: 7. Juni 2023

Aristoteles, Metaphysik, Buch XIV, ab 1089a, 15