16.
November 2022
Von den Zahlen geht eine starke Faszination aus.
Einerseits auf solche, für die das Geld ein wichtiger Realitätsbereich ist,
denn sie scheinen dem Wesen des Geldes sehr nahe zu stehen. Andererseits für
solche, die sich für Theorie interessieren, denn man kann mit den Zahlen
komplexe Fragestellungen konstruieren, die das Denken herausfordern und
überprüfbare Lösungen zulassen.
Das war wohl in der Antike auch so und eine
Philosophenschule wie die pythagoräische hat ihre gesamte Lehre mit
Zahleneigenschaften und -operationen assoziiert, etwa indem sie den Gegensatz
zwischen geraden und ungeraden Zahlen zum Grundgerüst der Welt gemacht hat oder
die Zahlen von Eins bis Vier, deren Summe Zehn ergibt, zum Wesen des Menschen
erklärt hat.
Eine mildere Form der engen Verschränkung von
Zahlenwissen und Realitätserkenntnis liegt bei Platon vor und mit ihr setzt
sich Aristoteles hauptsächlich auseinander – der selber die Physik für
realitätshaltiger eingeschätzt hat, welche die selbständig existierenden Körper
untersucht. Und doch gibt es auch bei ihm gewisse Inkonsequenzen, wenn er die
Musik mit ihren unterschiedlichen Tönen und die Planeten mit ihren Bahnen zu
Gegenständen der „angewandten Mathematik“ erklärt. Die neuzeitliche Physik ist
auf diesem Weg weiter gegangen, indem sie das Messen zu ihrer privilegierten
Beobachtungsmethode gemacht hat. Dies erst recht, als sie die von anderen
antiken Physikern spekulativ erdachte Mikrophysik durch mikroskopische
Beobachtungen operationalisiert hat, womit dann auch die Beherrschung der
Natur, also die Steigerung der Menschenmacht einer angeblich trägen Materie
gegenüber verstärkt wurde. Mit erwünschten Erfolgen und schließlich auch mit
weniger erwünschten Nebenwirkungen.
Wissenschaft ist nämlich in jedem Fall ein
menschliches Agieren, das Zwecke verfolgt und erreichen kann.
Welche Zwecke das sein können - diese Frage hat
Aristoteles klarer als andere gestellt und mit ihr in seine Tätigkeit und in
ihre Gliederung eingebaut.
Er hat drei Zwecksetzungen namhaft gemacht und
dementsprechend die poietischen (oder technischen), die praktischen und die
theoretischen Wissenschaften unterschieden.
Innerhalb der theoretischen Wissenschaften
unterschied er die Physik, die Mathematik und die Theologie.
Das später „Metaphysik“ genannte Buch hat er
zumeist der Theologie zugerechnet, obwohl diese Thematik nur einen ganz
geringen Teil ausmacht. Immerhin führt dieser Teil die in der Physik
aufgeworfene Frage nach den Ursachen weiter und angeblich auch zu einem Ende,
verläßt jedoch den Bereich der physischen Ursachen und kippt in eine
psychisch-noetische Ursachenangabe, die allerdings mit interessanten
qualitativen Angaben wie Lustrealisierung, Gutheit und Schönheit, Lebendigkeit
angereichert wird
Allerdings versäumt es Aristoteles bzw. der auf
uns gekommene Texttorso, die Themenverteilung der sogenannten Metaphysik zwischen
Ontologie und Theologie explizit anzugeben. Die Ontologie wird zwar mit dem
Leitsatz von der vielfachen Bedeutung des Seienden oder des Seins inhaltlich
charakterisiert, aber als eigene Untersuchungsrichtung wird sie nicht
statuiert. Die weitläufigen Ausführungen über die Seinsmodalitäten Wesen und
Akzidenzien, Vermögen und Verwirklichung, Eines und Vieles, wahr und falsch
bilden faktisch die Ontologie, die jedoch weder von der Physik noch von der
Theologie abgegrenzt wird. Auch nicht von der Logik, aus der sie unmittelbar
hervorzugehen scheint – man könnte sie sogar als „objektorientierte Logik“
bezeichnen.
Ihr pluraler Charakter ist so entscheidend, daß
man von einem „ontologischen Pluralismus“ bei Aristoteles sprechen kann - nicht
zu verwechseln mit dem Meinungspluralismus, den es in der Philosophie wie auch
anderswo gibt.
Der ontologische Pluralismus steht in scharfem
Kontrast zur Charakterisierung des Unbewegten Bewegenden, auch Denkungsdenkung
genannt – die einzige explizite aristotelische „Singularität“. Welche
allerdings wesentliche Aspekte aller Seinsmodalitäten und sogar fast aller
Realitätsbereiche in sich vereint. Die Seinsmodalitäten sind die diversen
gerade genannten Dimensionen der Ontologie. Die Realitätsbereiche werden mit
solchen Bezeichnungen wie Natur und Kunst, beseelt und unbeseelt, Tier und
Mensch, vielleicht auch Mensch und Gott gefaßt.
Nun aber die hartnäckigen Kritiken an überzogenen
Zahlentheorien, die wir im Buch XIII lesen – zu welcher Untersuchungsrichtung
gehören sie? Am ehesten wohl doch zur Ontologie, zur Klärung der in den
tatsächlichen Gegebenheiten vorliegenden Spannung Einheit-Vielheit.
Allerdings betätigt sich hier die ontologische
Untersuchung weniger direkt als Betrachtung dieser Spannung bei den Objekten
sondern sozusagen intersubjektiv oder intertheoretisch als Kritik an bestimmten
Auffassungen von Einheit und Vielheit, als Kritik von Verständnissen der
Zahlen, Verständnissen bei bekannten Theoretikern von sogenannten
Vorsokratikern bis zum bekanntesten Nach- bzw. Hauptsokratiker Platon, bei dem
Aristoteles selber zwanzig Jahre lang als Schüler dann wohl auch als wissenschaftliche
Hilfskraft oder gar als jüngerer Kollege dazugehört hat. Sodaß er selber als
Platoniker gelten müßte, wäre da nicht der große Dissens über die Ideenlehre,
der auch auf das Zahlenverständnis übergreift.
Es handelt sich also um Darstellung und Kritik
bestimmter Lehrmeinungen, wobei die Kritik manchmal ins Polemische gerät.
Läßt sich erahnen, warum Aristoteles bei dieser
anscheinend rein abstrakten Thematik ins Polemisieren gerät, obwohl er doch
kaum als aggressiver Typ bekannt ist.
Warum diese Hartnäckigkeit und dieser scharfe Ton
gegen eine Überhöhung und Sakralisierung der Zahlen, die unbestreitbar
irgendwie gegeben sind und vielfach wiederholt und gebraucht werden?
Er wendet sich dagegen, daß man den Zahlen eine
höhere oder auch nur gleichwertige Seinsweise zuspricht – als oder wie den
Entitäten, die allein (oder fast allein) im vollen Sinn des Wortes „abgetrennt“
existieren, also „existieren“ im strengen Sinn (der im lateinischen Wort sehr
gut zu hören ist, wenn man hören kann). Das präzise und deutliche griechische
Wort dafür würde am ehesten lauten hyparchein und vielleicht
auch noch energein, wenn dieses medial oder intransitiv verstanden
werden könnte. Hingegen das Grundwort der Ontologie, das einai, das ist
ein eher schwaches sein, gegeben sein - und daher als flexibles Grundwort
geeignet, das unterschiedliche Modalitäten, Intensitäten, Versionen oder
Wendungen oder Tropen des „seins“, das ich hier lieber klein schreibe, um es
richtig anzuschreiben. Richtig in seiner Bescheidenheit, Wendigkeit, Resilienz.
Wem aber kommt das starke Sein, das Existieren,
das selbständige Vorkommen und Auftreten zu? Das Wirklichsein, das Seiendsein,
wie Platon sagen würde, der es aber gerade nicht so zuteilt wie Aristoteles.
Der nämlich verleiht den Ehrentitel des starken „Seins“ den – Körpern. Den
Pflanzen, den Wassern, den Lüften, den Erden (und zwar allen, nicht nur den
sogenannten seltenen, die jetzt in der Zeitung stehen, weil sie knapp werden,
sondern allen, es werden nämlich alle knapp, die Sande und die fruchtbaren
Böden und so weiter)[1] und
so weiter. Und den Tieren und Menschen und Sternen.
Nur solchen komplizierten Dingen, die aus Stoff
und Form zusammengesetzt sind, aus Wesen und Akzidenzien, aus Einheit und
Vielheit, aus Möglichem und Wirklichem und so weiter – spricht er die Leistung des
vollen Seins zu.
Den zusammengesetzten Dingen, den physischen oder
materiellen Dingen. Das können zur Not auch künstliche Dinge sein – wie
Statuen, Häuser, vielleicht sogar Dingen, die hauptsächlich aus Sprache
bestehen, wenn sie gut gemacht sind, zum Beispiel Tragödien. Vielleicht sogar
Büchern, wenn sie gut komponiert sind – wie etwa die Poetik. Die
allerdings ist schwer beschädigt, da das sogenannte Zweite Buch verloren
gegangen ist. Aristoteles hat die Beschädigten in sein Begriffslexikon
aufgenommen und von den Zerstörten unterschieden, welche nur noch aus
Zusammensetzungsteilen bestehen, die auf einer niedrigeren Stufe auch noch
existieren, nämlich als Tonscherben, Inschriftreste oder so. Nur mit Nachsicht
kann das Buch namens Metaphysik als Gesamtwerk als seiend betrachtet
werden.
Wenn wir dem Buch diese Nachsicht nicht schenken
durch Nachlesen, Nachschauen, Nachdenken und Nachreden, wenn es nur so
herumliegt als unverständliches langweiliges Buchstaben- und Wörterkonglomerat,
das trotz Vorlesung der Protokolle immer wieder vergessen wird, oder gar nur
als fliegendes Blätterchaos, das nicht mehr geordnet werden kann, dann ist es
eben nur so ein Materialienkonglomerat - aber immer noch wirklicher als
irgendeine pure Zahl oder eine bloße Form.
Das heißt das endlose Herumkritisieren an
überzogenen Zahlentheorien wird von zwei Motiven bewegt hervorgerufen und
erzeugt:
erstens von einem positiven Motiv nämlich von der
Überzeugung, daß die materiellen Dinge realer aktueller und akuter sind als
alle rein gedanklichen Dinge mögen die auch noch so rein und erhaben und
großartig sein (nur ein einziges Ding stellt Aristoteles über die materiellen
Dinge (stattet es jedoch mit fast allen positiven Eigenschaften materieller
Dinge aus – was für eines?)).
Dieses Motiv könnte man als „Materialismus“
bezeichnen – wäre nicht dieser Ausdruck seit dem 18. oder 19. Jahrhundert nach
Christus von modernen das heißt einseitigen und fanatischen Theorien angeeignet
und mißbraucht worden. Man sollte es eher als „Materialistik“ bezeichnen – das
ist kein weltanschauliches Meinen sondern ein Ensemble von kognitiven
Vorgangsweisen (so wie der Zugang zum Deutschen nicht durch einen „Germanismus“
erreicht werden kann sondern eher durch Methoden der „Germanistik“).
Zu den materiellen Dingen gehören allerdings
nicht nur armselige, beschädigte oder abfallartige, sondern auch schöne: also
schöne Statuen oder schöne Frauen oder schöne Landschaften, Seeschaften.
Als negatives Motiv der aristotelischen Zahlentheorie-Kritik
vermute ich einen polemischen Widerspruch, eine zornige Ablehnung, ja eine
vorausschauende Angst vor einer erkenntnispolitischen Einstellung ja
Weichenstellung, welche das menschliche Denken, auch das genialste, gerade das
genialste, über alles stellt, was gedacht, erforscht, untersucht und erkannt
werden kann, also auch über die möglichen Objekte, insbesondere die real
existierenden Objekte.
In unserem Text nimmt diese verkehrte und
verhängnisvolle Weichenstellung die Form des Zahlenfetischismus oder Mathematismus
an. Der mag sich bei Pythagoras und eventuell bei Platon noch relativ harmlos,
weil eingebettet in ein grosso modo richtiges
Wirklichkeitsverständnis ausnehmen. Aber wenn die Mathematik – oder jede andere
Wissenschaft – ihren speziellen Realitätszugang oder auch nur ihre spezifischen
Objekte unverhältnismäßig überwertet, ist die Bahn in schwerwiegende
Illusionen, Irrtümer und sogar Leugnungen offen.
„Mathematismus“ – dieser Ausdruck ist mir jetzt
gerade für die bei Aristoteles auftauchende Problematik eingefallen. Vermutlich
in Anlehnung an den Begriff „Szientismus“, der am Anfang des 20. Jahrhunderts
für die Option eingeführt worden ist, wonach alle Probleme, die theoretischen,
die technischen und die praktischen, von den Wissenschaften, vornehmlich von
den Naturwissenschaften, gelöst und zwar endgültig gelöst werden können und
weil können auch sollen und womöglich müssen.
Damit beziehe ich die aristotelischen
Ausführungen des Buches XIII auf eine größere Problemstellung, die sich durch
die Mathematisierung der Naturwissenschaften seit der frühen Neuzeit aufgebaut
hat und von vielen Naturwissenschaftlern, Wissenschaftstheoretikern,
Philosophen zum Thema gemacht wird. So auch von meinem Lehrer Eric Voegelin.
Neuerdings von Bruno Latour, der in der Moderne ein großes Reinemachen am Werk
gesehen hat.
Die Mathematisierung der Naturwissenschaft ist
keineswegs eine rein theoretische oder „akademische“ Angelegenheit. Sie ging
Hand in Hand mit einer Abwertung, einer Entmächtigung des Objekts „Natur“. Und
mit einer korrelativen Steigerung der Menschenmacht – wie sich zeigt, eine
teilweise illusorische Unternehmung.
Man muß aber nicht unterschlagen, daß die
aristotelische Theorietradition, die seit der Spätantike eine abwechselnd
starke Rolle gespielt hat, auch erkenntnisblockierend gewirkt haben dürfte. Im
Rahmen einer Gelehrsamkeit, die das Bücherwissen über die Sachkennntnis
gestellt hat: „Biblizismus“ auch außerhalb der christlichen Religion und
„Logizismus“ als Verabsolutierung der Logik, ein verhängnisvoller Irrweg, dem
mathematizistischen nicht unähnlich.
Walter Seitter
[1] Siehe I. Gurschler, A. L. Hofbauer, A. Klose (Hg.): Erden.
Naturphilosophische Brocken (Wien 2022)