τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 28. November 2022

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 20 (69vB - 69vF) Seite 158, Z 14 bis Seite 160, Z 18 bei Burnett.

Mittwoch, den 23. November 2022

 

Zuerst erging an mich die Frage, ob sich Hermann als „physicus“ bezeichnen würde und ich bejahte die Frage, denn Hermann würde sich eher als astrologus denn als philosophus oder theologus betrachten. Da er sich mit Bewegungen von Körpern, seien sie auch von der Größe von Planeten, beschäftigt, kann man das Gebiet seiner Beschäftigung wohl zurecht mit Physik bezeichnen.

 

Der vorgelesene Text beginnt mit einer Verortung des Körpers im Raum. Jeder Körper muss einen Ort im Raum einnehmen und seine Grenzen selber müssen auch örtlich sein. Der Körper scheint daher eine umschreibbare oder eingrenzbare Substanz zu sein, die einen Sitz in einem Ort hat. Alle eingrenzbaren Körper oder Dinge sind Teile der Welt. Diese Teile der Welt sind durch Raum oder Zahl bestimmbar. Wenn man mit der Zahl zu den kleinsten Teilchen gehen will und mit dem Raum zu den größten Teilen, dann kommt man zum Unendlichen. Um das Unendliche zu vermeiden, wo es möglich ist, muss bei der Menge die Größe eingesetzt werden und bei der unendlichen Größe kann die Menge zu Hilfe kommen.

 

Damit scheint sich Hermann nicht nur mit Makrophysik und den Himmelskörpern zu beschäftigen, sondern auch mit der Mikrophysik der kleinsten Teilchen. Aber er kann sie nur postulieren, den es fehlt ihm der Zugang über das Sichtbare. Walter Seitter spricht dabei intervenierend von der Notwendigkeit eine Mesophysik einzuführen, eine Physik der sichtbaren Körper. Auch in der Mikrophysik und in der Makrophysik müssen die nicht-sichtbaren Körper durch Instrumente sichtbar gemacht werden.

 

Hermann besteht als Physiker auf den Ort und die bestimmbaren Grenzen alles Gemachten, und das gilt auch für körperlose Dinge wie die Seele, die sich im begrenzten Raum des einzelnen Körper aufhält und nach dem Tod im begrenzten des Himmels und der Erde. Aber es scheint daher, dass unkörperliche Dinge selbst keinen Ort haben, weil der Ort ein Akzidens des Körpers ist.

Ein Satz, der stark nach der Kategorienlehre des Aristoteles klingt.

Jetzt unterscheidet Hermann bei den unkörperlichen Dingen zwischen Substanz und Essenz, wobei letztere nur im Intellekt ist und dort nur der Möglichkeit nach besteht, während sie in Wirklichkeit nur im Subjekt bestehen kann. Ein unkörperliches Subjekt, wenn es nicht an einem Ort besteht, ist entweder nirgendwo oder überall. Hermann kennt nur ein einziges Subjekt, das als unkörperliche Substanz und Ganzes überall existiert.

 

Halten wir fest, das die Substanz durch sich selbst besteht, die Essenz durch das Subjekt. Die körperlichen Dinge sind durch ihre Lage im Raum bestimmt, während die unkörperlichen Dinge frei von der Menge und dem Ort sind, sind sie dennoch eine Grundlegung des körperlichen Sitzes.

Für Walter Seitter scheint diese Bestimmung der Essenz in den Gegenstandsbereich der Logik zu gehören, als Bestimmungen einer Substanz, die ohne Substanz oder Subjekt nur der Möglichkeit nach existiere.

 

Eigentlich hätte Hermann sein Werk Essentiis et Substantiis nennen sollen. Denn die Essenzen scheinen nur logische Möglichkeitsbedingungen für die Existenz von Substanzen festzulegen.

 

 

Karl Bruckschwaiger

 

Nächste Sitzung: 30. November 2022

Aristoteles, Metaphysik, Buch XIII, ab 1083b,7

Sonntag, 20. November 2022

In der Metaphysik lesen (1082b 25 – 1083b 7)

16. November 2022

 

Von den Zahlen geht eine starke Faszination aus. Einerseits auf solche, für die das Geld ein wichtiger Realitätsbereich ist, denn sie scheinen dem Wesen des Geldes sehr nahe zu stehen. Andererseits für solche, die sich für Theorie interessieren, denn man kann mit den Zahlen komplexe Fragestellungen konstruieren, die das Denken herausfordern und überprüfbare Lösungen zulassen.

 

Das war wohl in der Antike auch so und eine Philosophenschule wie die pythagoräische hat ihre gesamte Lehre mit Zahleneigenschaften und -operationen assoziiert, etwa indem sie den Gegensatz zwischen geraden und ungeraden Zahlen zum Grundgerüst der Welt gemacht hat oder die Zahlen von Eins bis Vier, deren Summe Zehn ergibt, zum Wesen des Menschen erklärt hat.

 

Eine mildere Form der engen Verschränkung von Zahlenwissen und Realitätserkenntnis liegt bei Platon vor und mit ihr setzt sich Aristoteles hauptsächlich auseinander – der selber die Physik für realitätshaltiger eingeschätzt hat, welche die selbständig existierenden Körper untersucht. Und doch gibt es auch bei ihm gewisse Inkonsequenzen, wenn er die Musik mit ihren unterschiedlichen Tönen und die Planeten mit ihren Bahnen zu Gegenständen der „angewandten Mathematik“ erklärt. Die neuzeitliche Physik ist auf diesem Weg weiter gegangen, indem sie das Messen zu ihrer privilegierten Beobachtungsmethode gemacht hat. Dies erst recht, als sie die von anderen antiken Physikern spekulativ erdachte Mikrophysik durch mikroskopische Beobachtungen operationalisiert hat, womit dann auch die Beherrschung der Natur, also die Steigerung der Menschenmacht einer angeblich trägen Materie gegenüber verstärkt wurde. Mit erwünschten Erfolgen und schließlich auch mit weniger erwünschten Nebenwirkungen. 

 

Wissenschaft ist nämlich in jedem Fall ein menschliches Agieren, das Zwecke verfolgt und erreichen kann.

 

Welche Zwecke das sein können - diese Frage hat Aristoteles klarer als andere gestellt und mit ihr in seine Tätigkeit und in ihre Gliederung eingebaut.

 

Er hat drei Zwecksetzungen namhaft gemacht und dementsprechend die poietischen (oder technischen), die praktischen und die theoretischen Wissenschaften unterschieden.

Innerhalb der theoretischen Wissenschaften unterschied er die Physik, die Mathematik und die Theologie.

Das später „Metaphysik“ genannte Buch hat er zumeist der Theologie zugerechnet, obwohl diese Thematik nur einen ganz geringen Teil ausmacht. Immerhin führt dieser Teil die in der Physik aufgeworfene Frage nach den Ursachen weiter und angeblich auch zu einem Ende, verläßt jedoch den Bereich der physischen Ursachen und kippt in eine psychisch-noetische Ursachenangabe, die allerdings mit interessanten qualitativen Angaben wie Lustrealisierung, Gutheit und Schönheit, Lebendigkeit angereichert wird

 

Allerdings versäumt es Aristoteles bzw. der auf uns gekommene Texttorso, die Themenverteilung der sogenannten Metaphysik zwischen Ontologie und Theologie explizit anzugeben. Die Ontologie wird zwar mit dem Leitsatz von der vielfachen Bedeutung des Seienden oder des Seins inhaltlich charakterisiert, aber als eigene Untersuchungsrichtung wird sie nicht statuiert. Die weitläufigen Ausführungen über die Seinsmodalitäten Wesen und Akzidenzien, Vermögen und Verwirklichung, Eines und Vieles, wahr und falsch bilden faktisch die Ontologie, die jedoch weder von der Physik noch von der Theologie abgegrenzt wird. Auch nicht von der Logik, aus der sie unmittelbar hervorzugehen scheint – man könnte sie sogar als „objektorientierte Logik“ bezeichnen. 

Ihr pluraler Charakter ist so entscheidend, daß man von einem „ontologischen Pluralismus“ bei Aristoteles sprechen kann - nicht zu verwechseln mit dem Meinungspluralismus, den es in der Philosophie wie auch anderswo gibt.

 

Der ontologische Pluralismus steht in scharfem Kontrast zur Charakterisierung des Unbewegten Bewegenden, auch Denkungsdenkung genannt – die einzige explizite aristotelische „Singularität“. Welche allerdings wesentliche Aspekte aller Seinsmodalitäten und sogar fast aller Realitätsbereiche in sich vereint. Die Seinsmodalitäten sind die diversen gerade genannten Dimensionen der Ontologie. Die Realitätsbereiche werden mit solchen Bezeichnungen wie Natur und Kunst, beseelt und unbeseelt, Tier und Mensch, vielleicht auch Mensch und Gott gefaßt.

Nun aber die hartnäckigen Kritiken an überzogenen Zahlentheorien, die wir im Buch XIII lesen – zu welcher Untersuchungsrichtung gehören sie? Am ehesten wohl doch zur Ontologie, zur Klärung der in den tatsächlichen Gegebenheiten vorliegenden Spannung Einheit-Vielheit.

 

Allerdings betätigt sich hier die ontologische Untersuchung weniger direkt als Betrachtung dieser Spannung bei den Objekten sondern sozusagen intersubjektiv oder intertheoretisch als Kritik an bestimmten Auffassungen von Einheit und Vielheit, als Kritik von Verständnissen der Zahlen, Verständnissen bei bekannten Theoretikern von sogenannten Vorsokratikern bis zum bekanntesten Nach- bzw. Hauptsokratiker Platon, bei dem Aristoteles selber zwanzig Jahre lang als Schüler dann wohl auch als wissenschaftliche Hilfskraft oder gar als jüngerer Kollege dazugehört hat. Sodaß er selber als Platoniker gelten müßte, wäre da nicht der große Dissens über die Ideenlehre, der auch auf das Zahlenverständnis übergreift. 

Es handelt sich also um Darstellung und Kritik bestimmter Lehrmeinungen, wobei die Kritik manchmal ins Polemische gerät.

Läßt sich erahnen, warum Aristoteles bei dieser anscheinend rein abstrakten Thematik ins Polemisieren gerät, obwohl er doch kaum als aggressiver Typ bekannt ist.

 

Warum diese Hartnäckigkeit und dieser scharfe Ton gegen eine Überhöhung und Sakralisierung der Zahlen, die unbestreitbar irgendwie gegeben sind und vielfach wiederholt und gebraucht werden? 

Er wendet sich dagegen, daß man den Zahlen eine höhere oder auch nur gleichwertige Seinsweise zuspricht – als oder wie den Entitäten, die allein (oder fast allein) im vollen Sinn des Wortes „abgetrennt“ existieren, also „existieren“ im strengen Sinn (der im lateinischen Wort sehr gut zu hören ist, wenn man hören kann). Das präzise und deutliche griechische Wort dafür würde am ehesten lauten hyparchein und vielleicht auch noch energein, wenn dieses medial oder intransitiv verstanden werden könnte. Hingegen das Grundwort der Ontologie, das einai, das ist ein eher schwaches sein, gegeben sein - und daher als flexibles Grundwort geeignet, das unterschiedliche Modalitäten, Intensitäten, Versionen oder Wendungen oder Tropen des „seins“, das ich hier lieber klein schreibe, um es richtig anzuschreiben. Richtig in seiner Bescheidenheit, Wendigkeit, Resilienz.

 

Wem aber kommt das starke Sein, das Existieren, das selbständige Vorkommen und Auftreten zu? Das Wirklichsein, das Seiendsein, wie Platon sagen würde, der es aber gerade nicht so zuteilt wie Aristoteles. Der nämlich verleiht den Ehrentitel des starken „Seins“ den – Körpern. Den Pflanzen, den Wassern, den Lüften, den Erden (und zwar allen, nicht nur den sogenannten seltenen, die jetzt in der Zeitung stehen, weil sie knapp werden, sondern allen, es werden nämlich alle knapp, die Sande und die fruchtbaren Böden und so weiter)[1] und so weiter. Und den Tieren und Menschen und Sternen.

 

Nur solchen komplizierten Dingen, die aus Stoff und Form zusammengesetzt sind, aus Wesen und Akzidenzien, aus Einheit und Vielheit, aus Möglichem und Wirklichem und so weiter – spricht er die Leistung des vollen Seins zu. 

 

Den zusammengesetzten Dingen, den physischen oder materiellen Dingen. Das können zur Not auch künstliche Dinge sein – wie Statuen, Häuser, vielleicht sogar Dingen, die hauptsächlich aus Sprache bestehen, wenn sie gut gemacht sind, zum Beispiel Tragödien. Vielleicht sogar Büchern, wenn sie gut komponiert sind – wie etwa die Poetik. Die allerdings ist schwer beschädigt, da das sogenannte Zweite Buch verloren gegangen ist. Aristoteles hat die Beschädigten in sein Begriffslexikon aufgenommen und von den Zerstörten unterschieden, welche nur noch aus Zusammensetzungsteilen bestehen, die auf einer niedrigeren Stufe auch noch existieren, nämlich als Tonscherben, Inschriftreste oder so. Nur mit Nachsicht kann das Buch namens Metaphysik als Gesamtwerk als seiend betrachtet werden. 

 

Wenn wir dem Buch diese Nachsicht nicht schenken durch Nachlesen, Nachschauen, Nachdenken und Nachreden, wenn es nur so herumliegt als unverständliches langweiliges Buchstaben- und Wörterkonglomerat, das trotz Vorlesung der Protokolle immer wieder vergessen wird, oder gar nur als fliegendes Blätterchaos, das nicht mehr geordnet werden kann, dann ist es eben nur so ein Materialienkonglomerat - aber immer noch wirklicher als irgendeine pure Zahl oder eine bloße Form.

 

Das heißt das endlose Herumkritisieren an überzogenen Zahlentheorien wird von zwei Motiven bewegt hervorgerufen und erzeugt: 

 

erstens von einem positiven Motiv nämlich von der Überzeugung, daß die materiellen Dinge realer aktueller und akuter sind als alle rein gedanklichen Dinge mögen die auch noch so rein und erhaben und großartig sein (nur ein einziges Ding stellt Aristoteles über die materiellen Dinge (stattet es jedoch mit fast allen positiven Eigenschaften materieller Dinge aus – was für eines?)).

 

Dieses Motiv könnte man als „Materialismus“ bezeichnen – wäre nicht dieser Ausdruck seit dem 18. oder 19. Jahrhundert nach Christus von modernen das heißt einseitigen und fanatischen Theorien angeeignet und mißbraucht worden. Man sollte es eher als „Materialistik“ bezeichnen – das ist kein weltanschauliches Meinen sondern ein Ensemble von kognitiven Vorgangsweisen (so wie der Zugang zum Deutschen nicht durch einen „Germanismus“ erreicht werden kann sondern eher durch Methoden der „Germanistik“). 

 

Zu den materiellen Dingen gehören allerdings nicht nur armselige, beschädigte oder abfallartige, sondern auch schöne: also schöne Statuen oder schöne Frauen oder schöne Landschaften, Seeschaften.

 

Als negatives Motiv der aristotelischen Zahlentheorie-Kritik vermute ich einen polemischen Widerspruch, eine zornige Ablehnung, ja eine vorausschauende Angst vor einer erkenntnispolitischen Einstellung ja Weichenstellung, welche das menschliche Denken, auch das genialste, gerade das genialste, über alles stellt, was gedacht, erforscht, untersucht und erkannt werden kann, also auch über die möglichen Objekte, insbesondere die real existierenden Objekte. 

 

 

In unserem Text nimmt diese verkehrte und verhängnisvolle Weichenstellung die Form des Zahlenfetischismus oder Mathematismus an. Der mag sich bei Pythagoras und eventuell bei Platon noch relativ harmlos, weil eingebettet in ein grosso modo  richtiges Wirklichkeitsverständnis ausnehmen. Aber wenn die Mathematik – oder jede andere Wissenschaft – ihren speziellen Realitätszugang oder auch nur ihre spezifischen Objekte unverhältnismäßig überwertet, ist die Bahn in schwerwiegende Illusionen, Irrtümer und sogar Leugnungen offen.

 

„Mathematismus“ – dieser Ausdruck ist mir jetzt gerade für die bei Aristoteles auftauchende Problematik eingefallen. Vermutlich in Anlehnung an den Begriff „Szientismus“, der am Anfang des 20. Jahrhunderts für die Option eingeführt worden ist, wonach alle Probleme, die theoretischen, die technischen und die praktischen, von den Wissenschaften, vornehmlich von den Naturwissenschaften, gelöst und zwar endgültig gelöst werden können und weil können auch sollen und womöglich müssen.

 

Damit beziehe ich die aristotelischen Ausführungen des Buches XIII auf eine größere Problemstellung, die sich durch die Mathematisierung der Naturwissenschaften seit der frühen Neuzeit aufgebaut hat und von vielen Naturwissenschaftlern, Wissenschaftstheoretikern, Philosophen zum Thema gemacht wird. So auch von meinem Lehrer Eric Voegelin. Neuerdings von Bruno Latour, der in der Moderne ein großes Reinemachen am Werk gesehen hat. 

 

Die Mathematisierung der Naturwissenschaft ist keineswegs eine rein theoretische oder „akademische“ Angelegenheit. Sie ging Hand in Hand mit einer Abwertung, einer Entmächtigung des Objekts „Natur“. Und mit einer korrelativen Steigerung der Menschenmacht – wie sich zeigt, eine teilweise illusorische Unternehmung.

 

Man muß aber nicht unterschlagen, daß die aristotelische Theorietradition, die seit der Spätantike eine abwechselnd starke Rolle gespielt hat, auch erkenntnisblockierend gewirkt haben dürfte. Im Rahmen einer Gelehrsamkeit, die das Bücherwissen über die Sachkennntnis gestellt hat: „Biblizismus“ auch außerhalb der christlichen Religion und „Logizismus“ als Verabsolutierung der Logik, ein verhängnisvoller Irrweg, dem mathematizistischen nicht unähnlich.

 

Walter Seitter

 




[1] Siehe I. Gurschler, A. L. Hofbauer, A. Klose (Hg.): Erden. Naturphilosophische Brocken (Wien 2022)

Sonntag, 13. November 2022

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 18 (69rF - 69vB) Seite 156, Z 7 bis Seite 158, Z 14 bei Burnett.

Mittwoch, den 9. November 2022 

Zu Beginn der Sitzung gab es ein Gespräch über Musik, insbesondere was notwendig sei, um Musik hören zu können. Zum einen bedarf es einen Körper der hören kann, der die Laute unterscheiden und aufnehmen kann. Während Maximilian einen tieferen und höheren Ton anstimmte, lenkte Walter die Diskussion auf die räumliche Metaphorik unserer Sprache über Musik. Wir sprechen von höher und tiefer, obwohl der räumliche Aspekt nicht in den Tönen liegt, sondern in unserer Gewohnheit, es derart einzuordnen. Vielleicht auch von der Notenschrift selbst herkommend, wo tiefere Töne weiter unten angeschrieben werden im Notationssytem. Aber ich bin nicht die Person, die dazu viel beitragen kann, denn, obwohl ich die räumliche Rede über die Töne verstehe, ist für mich die Tonhöhe nicht so leicht zu hören und ich muss darüber immer nachdenken, bevor ich es entscheiden kann, während für andere das fast intuitiv klar zu sein scheint.

 

Der vorgelesene Abschnitt aus „De Essentiis“ hat von Burnett den Zwischentitel „die verschiedenen Bewegungen der zweiten Zeugung“ erhalten.

Diese sekundäre Zeugung ist die universelle Bewegung des vergänglich Gezeugten. Das ist der Leitsatz dieses Abschnitts und von da aus beginnt Hermann mit den Aufteilungen und Differenzierungen der Bewegungen und des vergänglich Gezeugten, occidua genitura. Es beginnt mit einer Unterscheidung der Bewegungen in Verschiebung und Veränderung, alteritate. Während Verschiebung sich zwischen der ersten und zweiten Zusammensetzung abspielt, betrifft die Veränderung den Habitus und den Affekt. Hier auch wieder die Schwierigkeit Habitus so zu übersetzen, dass die Übersetzung zu den anderen Verwendungen im Text passt. Während sich Verschiebung auf das Entstehen und Vergehen von Körpern selbst bezieht, wie aus Materie durch Information eine Substanz hervorgeht, ist die Veränderung ein Ab- und Zunehmen von Quantitäten und Qualitäten, wobei auch Ort und Zeit eingeschlossen sind.

Wenn Hermann vom Habitus als einer Veränderung zwischen Extremen und Mittleren spricht und ein Verhältnis zu den Affekten herstellt, fühlt man sich deutlich an das 2. Buch der Nikomachischen Ethik erinnert, wo es heißt:

„Mit Dispositionen (hexis/habitus) schließlich ist das gemeint, kraft dessen wir den Affekten gegenüber gut oder schlecht disponiert sind.“[1]

 

Ross übersetzt habitus mit „state“, Burnett belässt habitus immer unübersetzt.

Im Deutschen übersetzt Dirlmeier hexis mit „Grundhaltung“, Gigon mit „Eigenschaft“, Rolfes mit „Beschaffenheit“ und Wolff mit „Disposition“.

Eine Regulation der Affekte durch eine ethische hexis oder habitus interessiert Hermann nicht so sehr, sondern eher der Ablaufplan der Zeugungen. So wird das vergänglich Gezeugte, in Imitation der Natur, die sie hervorgebracht hat, in dreifacher Anordnung/habitudine aufgestellt. Hier würde auch Disposition passen.

Die Dispositionen sind der Schoß der Mutter, im lateinischen Original steht: infra gremium parentis, im Schoß des Elternteils, parentis ist Singular, Walter plädiert zuerst für Mutter, dann für Gebärende, ist alles richtig. Die beiden anderen Dispositionen sind Ort und Zeit.

 

Womit wir beim Ort als eine der Bedingungen des sekundär Gezeugten wären. So spricht Hermann zunächst davon das Ort und Zeit als Quantitäten gefasst werden, nämlich des Raumes und der Bewegung. Es folgt eine Definition des Raumes, die stark an Körper und seine Grenzen angelehnt ist. Das erweckt das Interesse von Walter ganz besonders und er korrigiert meine Übersetzung auch dahingehend, und sie stimmt durchaus besser mit dem lateinischen Original überein. Sie lautet:

„Wir nennen einen Raum das ganze Intervall des Körpers, das sich zwischen seinen Grenzen erstreckt.“

 

Karl Bruckschwaiger

 

 

Nächste Sitzung: 16. November 2022

Aristoteles, 13. Buch, ab 1082b,24



[1] Aristoteles, Nikomachische Ethik 1105b, Z 25f. Übers. v. Ursula Wolff