τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 5. Mai 2024

De Anima lesen 1 - 402a 1- 6 - Nachtrag


Sonntag, 5. Mai 2024



Nach der  Poetik (2007-2010)  und der Metaphysik  (2011-2024)  lesen wir nun, auf Vorschlag von Sophia Panteliadou und Karl Bruckschwaiger,  Peri psyches -  also gewissermaßen die aristotelische Psychologie, die allerdings nach Auffassung aller Kommentatoren, da die Körper ihr Gegenstandsfeld bilden, der Physik zuzurechnen ist, welche die erste der sogenannten theoretischen Wissenschaften ist - aber an anderer Stelle als Zweite Philosophie bezeichnet wird. Diese Zugehörigkeiten kommen auch in unserem Text gleich zur Sprache - und ebenso werden sie differenziert. 

Das erste Kapitel führt in die Seelenkunde ein, indem es hauptsächlich wissenschaftsanalytisch die Tätigkeiten bespricht, die mit ihr verbunden  sind - wobei der Begriff „Wissenschaft“  zunächst gar nicht genannt wird. Daraus zu schließen, daß Aristoteles diese Untersuchung von vornherein unter den Titel „Philosophie“ stellt , wäre allerdings voreilig. 

Der Text beginnt mit zwei verschiedenen  und entschiedenen „Wertungen“ - was erstaunen mag, insofern er eigentlich keine praktische Wissenschaft darlegen soll, in der es darum geht, wie „gut“ gelebt, gehandelt oder sonstwie getan werden kann.

Den Anfang machen  die „schönen und wertvollen“ Dinge.  „Schön“ ist ohnehin die Qualität, die in der griechischen Kultur an erster Stelle steht, und das Wort für „wertvoll“ stammt direkt aus der politischen Sphäre,  es stammt von der „Ehre“ ab, die in aristokratischen Gesellschaften das Um und Auf ist. 

Welche Sache wird nun unter die schönen und wertvollen Dinge gezählt - ausgerechnet diejenige, um die es in so einem psycho- oder sonstwie -logischen Buch geht: das Wissen, das im Griechischen hauptsächlich vom Sehen herkommt.

Beim Wissen wird gleich unterschieden zwischen dem und jenem und je nach dem, um welches Wissen es sich handelt, gilt es als mehr oder weniger schön und wertvoll. 

Aber das hängt wiederum von zwei Gesichtspunkten ab:  Qualität des Wissens als Leistung:  mehr oder weniger „genau“.  Die Genauigkeit ist bei Aristoteles - wie im heutigen Zeitalter der sogenannten exakten Wissenschaften - die performative Wissenschaftsqualität. 

Fußnote 1

Siehe Che-Han Huang: Die aristotelische Exaktheit: Von der Medizin zur Prinzipienlehre (Baden-Baden 2024)



Der zweite Gesichtspunkt zur Unterscheidung und Rangzuweisung für die Wissen liegt darin, welche Gegenstände „besser und erstaunlicher“ sind.  Also zwei andere Wertbegriffe,  die für das griechische Realitätsverständis ebenso entscheidend sind. 

In beiden Hinsichten gehört die Erforschung der Seele zu den „ersten“ Dingen. „Erst“ im Sinne von „vorrangig“  — wobei die Steigerungsstufen der Eigenschaftswörter  Positiv, Komparativ, Superlativ hier ihre Plätze haben. 

Warum die  Seele als Gegenstand so vorrangig ist, das wird dann ausgeführt. Warum  jedoch ihre Erforschung - dafür steht historia  -  „akribischer“  sein soll als andere Forschungen,  das sehe ich im Moment nicht.

Schön  und gut,  ehrenhaft und erstaunlich.  Ordnet man die hier eingesetzten Wertbegriffe etwas um, betrachtet man sie genauer, so  kann man nicht umhin, sich daran zu erinnern, sofern man nicht schon alles vergessen hat, daß am Anfang der Metaphysik und an ihrem Ende  ähnliche Wörter für Wertqualitäten und Wertschätzungen stehen -  dort aber müssen sie eine riesige Spannung über viele und diverse Themen aufrechterhalten.

Hier scheint es nur um „die Seele“ zu gehen. Aber gleich im ersten Satz des folgenden Leseabschnitts (2)  wird angedeutet, daß mit der „Erkenntnis“  der Seele „große Dinge“ zur „gesamten Wahrheit“ beigetragen werden.
 
Postskriptum zum Leseabschnitt 4.

Zum Wortfeld noein und nous ist tatsächlich zu überlegen, ob es eher etwas Produktives - denken, erwägen, meinen -  oder etwas Rezeptives -  vernehmen, verstehen, einsehen -  bedeutet.   Meine etymologische Hypothese, das das Wort über  gignosko, gnosis an nose, schnüffeln, riechen  annähert, ist zwar witzig, aber witzig im  Sinn von Witz, witness, video und oida- ich habe  gesehen, also eidisis.

Schon mit der Behauptung, die  Seele sei „Prinzip der Lebewesen“  rückt Aristoteles sie in die Physik ein,  denn die aristotelische Physik als Lehre von den Körpern hat ihr spezifisches Objekt nicht in einer Lehre von der trägen Materie, die unbedingt irgendwelche „Ursachen“ braucht, um zu Bewegungen angestoßen zu werden.  Sondern die Körper (nicht die geometrischen) sind Wesen, die je nach  ihrer Gattungszugehörigkeit sich bewegen, ändern, mischen. 

Aufgrund ihrer Affektionen müssen auch qualifizierte Seelen, wie die menschlichen,  als mit dem Körper verbunden gedacht werden. „Zorn ist eine Art von Bewegung eines ganz bestimmten Körpers oder Teiles oder Vermögens unter einer bestimmten Einwirkung zu einem bestimmten Zweck.“  Daher hat der Physiker über die Seele Begrenzungen, Bestimmungen, Definitionen zu machen, indem er das „Sieden de Blutes und das Warme ums Herz herum“ aufklärt.


Soweit also eine naturwissenschaftliche oder materialistische Seelenkunde.  Aber Aristoteles will sich damit nicht begnügen. Vielmehr postuliert er, daß noch eine weitere, bisher kaum genannte, auch in meinem Vortrag vom 6. November 2023 gar nicht erwähnte Wissenschaft sich mit dem Zorn beschäftigt, von dem übrigens Aristoteles anderswo sagt,  daß er zur  Natur des Menschen gehört.   

Auch der „Dialektiker“ hat etwas zum Zorn zu sagen: „Der sieht im Zorn ein Streben nach Rache für erlittene Kränkung.“  Was ist damit gemeint - wenn nicht irgendetwas Politisches oder Mikropolitisches?

Oben kam „Dialektik“ als leeres Gerede vor - und  schon seit der Antike hat das Wort auch diese Bedeutung, die sich in  den Wortkämpfen des 19.  (bis 20.) Jahrhunderts neuerlich bewährt hat. 

Aber hier soll der Dialektiker  ein seriöser und ernsthafter Wissenschaftler sein,  der den „menschlichen“  Sinn des Zornes ernst nimmt und etwa gar etwas zur Entschärfung des Situation beitragen zu können meint? Ist er vielleicht  gar ein Pychotherapeut und insofern ein Seelenspezialist? 

Das Wort „Dialektik“ stammt aus der Generation von Zenon und Platon und bezeichnet ursprünglich eine Art von Wissenserweiterung, Wissenserwerb also Wissenschaft durch Beweisführung und Diskussion. 

In der „Dialektik“ ist der Wissenschaftler nicht mit sich und einem eventuellen stillschweigenden Gegenstand allein,  sondern konfrontiert mit einem ebenso aktiven, demonstrativen, eventuell offensiven oder gar aggressiven und unbedingt siegen wollenden Gegenspieler.  

Wiederum eine Übertragung aus der vorphilosophischen Welt der Aristokratie mit ihren Zweikämpfen und  Mengenkämpfen - aber jetzt in der Welt der Reden und der Wahrheit oder Wahrheiten. 

Sobald  dieses Wahrheitsspiel erfunden war und regelmäßig als Sport beliebt wurde und wiederholt wurde, geriet es selber als Kampfzone in den Verdacht,  ein Kampfmittel zu sein, das mit Wissenschaft nichts zu tun habe, sondern nur Rechthaberei sei. Sophistik und Eristik bezeichnen solche Deutungen - mit denen das Politische direkt in die Wissenschaft eingeführt wird und zwar oftmals als feindselige,  ja unerträgliche Größe. 



Doch Aristoteles meint mit seiner Einführung des „Dialektikers“  einen Wissenschaftler, der die Analyse des Zorns  wesentlich weiter bringt als der „Physiker“ mit seiner Blutdruckmessung. 

Welche sonstwie bekannten aristotelischen Wissenschaftsrichtungen würden sich an diesen Dialektiker  annähern lassen?  

Möglicherweise könnten die folgenden Ausführungen des Aristoteles Hinweise dafür liefern.  Obwohl sich die auf einen ganz anderen Gegenstand beziehen, der eigentlich nur als Vergleichsbeispiel, als Parallelgegenstand ,  eingeführt wird:  nämlich der Begriff des Hauses. 

Der wird von Aristoteles in drei Versionen aufgespalten - auch so eine Unterscheidung, die  bei Platon oder Aristoteles unter „Dialektik“ fällt - und  zwar im seriösen Sinn des Wortes. 


Erstens Schutz vor Verderben durch Wind, Regen, Sonnenglut;  zweitens Steine, Ziegeln, Holz; drittens deren zweckmäßige Formierung.   Welcher dieser drei  Haus-Begriffe ist Sache des Physikers, fragt Aristoteles. 

Der Physiker befasse sich mit allen Funktionen  und Affektionen eines bestimmten Körpers und eines bestimmten Stoffes. Mit allen anderen Aspekten befassen sich andere Fachleute - etwa die Techniker, zum Beispiel der Architekt oder der Arzt. 

Mit diesen knappen Angaben sprengt Aristoteles den Rahmen der Physik - aber nicht mit so einem undeutlichen eigentlich „dialektischen“ das heißt verwirrenden Hinweis auf den sogenannten „Dialektiker“.  Sondern mit der Benennung einer Gattung, die eigentlich außerhalb der Wissenschaft liegt, dafür aber lebensweltlich, das heißt pragmatisch vorgeordnet ist:  nämlich die Künstler oder Techniker, die mit Sachverstand die Umwelt so gestalten können, daß nützliche und schöne Dinge zustandekommen. 

Diese Leute haben ein Wissen auch, ohne Wissenschaftler zu sein.   Aber sie müssen ihr Wissen gelernt haben  - und da in ihrer Lernphase könnte bereits Wissenschaft im Spiel gewesen sein, denn durch die Lehrtätigkeit kann Wissenschaft entstehen, die dann wiederum für die Lehre eingesetzt wird.


Für die Techniker oder Künstler nennt Aristoteles zwei Beispiele: den Architekten und den Arzt, von denen der erste direkt mit dem Hausbau zu tun hat (denn der ist die Kunst), ,  der zweite vielleicht auch,  denn das  Verderben, das abgewendet wird, betrifft die Gesundheit. 

Für die Wissenschaften, die solche Kunstfertigkeiten befördern können,  hat Aristoteles eine eigene Wissenschaftsgattung oder -richtung entworfen - er nennt sie die poietischen oder hervorbringenden Wissenschaften, man könnte sie auch die technischen nennen.

Für die Ausbildung des Arztes braucht  es die Wissenschaft namens Medizin - zur Verdeutlichung empfehlen sich die beiden zu unterscheidenden Ausdrücke „Heilkunst“ und „Heilkunde“, die ich in meinem Vortrag vom 6. November 2023 eigens genannt habe und die auch Lacan deutlich zu unterscheiden pflegt, da er klare Unterscheidungen liebt. 

Wie nennt man die Wissenschaft zur Kunst des Architekten - Architektonik oder Architekturlehre?   Wie die Wissenschaft zur Kunst der Poesie?  Die heißt seit Aristoteles  Poetik

Fußnote 2

Im Rahmen meiner Philosophischen Physik habe ich mit nur ungefährer Anlehnung an Aristoteles eine „Physik des Hauses“  ausgeführt in Walter Seitter:  Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen (Weimar 2002): 145-163






So weit so klar - aber dann wird es ein bißchen unklarer, denn es werden die Begriffe „abgetrennt“ und „nicht abgetrennt“ eingeführt - der erste wird dem Mathematiker, der zweite dem Ersten Philosophen zugeordnet.  Gleichzeitig sollen die Affekte der Seele - wie Zorn und Furcht - vom natürlichen Stoff der Lebewesen  nicht zu trennen sein.  Deren wissenschaftliche Behandlung war dem sogenannten Dialektiker zugewiesen worden - insofern einem sozusagen geborenen Fachmann, weil sie aus Streit und Rache, also aus Politik bestehen.

Aber wie soll der Erste Philosoph für das Abgetrennte der Affektionen zuständig sein? Als Ontologe oder als Theologe? Als Ontologie eher nicht - denn die Ontologie interessiert sich für das Nicht-Abgetrennte wie auch für das Abgetrennte nur als Metawissenschaft.

Die Theologie interessiert sich - in Fortsetzung der  Physik - für abgetrennte Wesen, die nicht oder nicht nur Körper sind  -  also  Götter. 


Wo gibt es so etwas  wie Zorn und Furcht? Auf der Straße oder im Supermarkt sind sie direkt nicht zu finden.   Sondern bei und zwischen Menschen - in deren gelungener oder weniger gelungener Praxis. Die Wissenschaften davon sind die Ökonomie, die Ethik, die Politik, vielleicht die Rhetorik oder eben doch die Dialektik, sofern diese  in die konfliktuellen Verhältnisse die Wahrheit einschmuggeln kann. Vielleicht könnten Rhetorik oder Dialektik die Kontrahenten als Personen hervortreten lassen, als extra existierende. Denn „abgetrennt“  heißt „extra existierend“.  Und die handelnden Personen sind so etwas wie Götter - im Glücksfall.


 
 
Walter Seitter

Mittwoch, 1. Mai 2024

De Anima lesen (403a 3 – 403b 19)

24. April 2024 

 

Von der Frage nach der korrekten Deklination von nous stolpern wir über dessen aktiv-passive Zwitternatur zu möglichen Übersetzungen des dazugehörigen Verbs noein: von „denken“ bzw. „verstehen“ über „wahrnehmen“ und „erfassen“ zu „vernehmen“ – was einerseits einfach „hören“ bedeutet, andererseits an polizeiliche Einvernahme erinnert. Vermutlich weil dieser letztens seinen 300. Geburtstag gefeiert hätte, landen wir damit endlich bei Kant, dessen theoriegeschichtliche Bedeutung mitunter daran festgemacht werden kann, dass seit ihm als modern gilt, den (Untersuchungs)Gegenstand als etwas aufzufassen, das sich nach dem Erkennen richtet, anstatt der (antiken) Auffassung zu sein, das Erkennen richte sich nach dem Gegenstand. Letztere Vorstellung liegt auch wörtlich näher am herkömmlichen Theoriebegriff, der sich ja vom Zuschauen ableitet. Mit seiner selbst so genannten „kopernikanischen Wende“ hat Kant das Denken oder die Theorie dem polizeilichem Vernehmen angenähert: die Polizei (= Wissenschaftler, Subjekt) bestimmt, was sie wissen will, der Verdächtige (= Objekt), antwortet im Sinn der Frage bzw. „sagt“ was diese hören will (und idealerweise damit auch die Wahrheit). Um dem Vorwurf des Idealismus auszuweichen hat Kant in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft dann unterschieden zwischen empirischem und transzendentalem Idealismus und seine Wende auf letzteren beschränkt. 

 

Die beste Übersetzung für nous/noien bleibt aber, wenn man Buchheim folgen mag, „Verstehen/verstehen“. Nicht nur weil auch hier für den nominativen und prädikativen Gebrauch dasselbe Wort verwendet werden kann, sondern vor allem deshalb, weil das Verstehen sozusagen Wahrheits-inklusiv ist. Für ein Erkennen, Wahrnehmen, Erfassen oder auch Vernehmen, das in dieser Hinsicht unbestimmt ist und auch falsch sein kann, verwendet Aristoteles dagegen den Ausdruck diainoia (bzw. dianoeisthai).

 

Weiter im Text:

Aristoteles reflektiert die Frage nach dem Verhältnis des Seelischen zum Körperlichen. Besonderes Augenmerk liegt darauf, ob es etwas „eigentümlich“ Seelisches gäbe. Nur wenn dies der Fall sei, könne es auch abgetrennt vom Körperlichen existieren. Wer hier eine klare Ansage erwartet, wird enttäuscht. Wie ein Fluss, der definitiv weiß wo es lang gehen soll, aber seine Breite und Tiefe gemächlich ‚ausbadet‘, mäandert Aristoteles zwischen den hierbei möglichen Positionen und steckt diese gleichzeitig ab. 

 

Um seine Auffassung bzw. die wirklichen Verhältnisse besser verständlich zu machen, bedient sich Aristoteles einer geometrischen Analogie, die uns nicht richtig einleuchten will (ab 403a 10). Buchheim ergänzt in seinem Kommentar Metaph. B2, 997b 32ff.: 

 

„Zugleich ist auch das nicht wahr, dass die Geometrie (geôdaisia) sich auf wahrnehmbare und vergängliche Größen bezieht; denn dann ginge sie zugrunde, wenn diese vergehen. Vielmehr dürfte sie sich so wenig auf die wahrnehmbaren Größen beziehen, wie die Astronomie auf gerade diesen Himmel hier. Denn weder sind die wahrnehmbaren Linien solche, wie sie der Geometer begreift (keines von den wahrnehmbaren Dingen ist ja so gerade oder rund: der Kreis berührt den Richtstab nämlich nicht in einem Punkt, sondern wie Protagoras sagte, um die Geometer zu widerlegen), noch sind die Bewegungen und Spiralläufe des Himmels denen gleich, über die die Astronomen ihre Sätze fabrizieren.“  
 

Was Protagoras sagte, kann ich leider nicht rekonstruieren, aber vielleicht entspricht es doch meiner Vermutung, dass eine ‚echte‘ Linie (wie z. B. eine Messlatte) einen ‚echten‘ Gegenstand nicht nur an einem Punkt, sondern, wenn auch minimal, ‚flächiger‘ berührt? Aristoteles möchte damit jedenfalls deutlich machen, dass seelische Aspekte nicht wie mathematische Konstrukte als abstrahiert (abgezogen) vom Körperlichen denkbar sind, sondern nur als enhylo logoi: „in Materie befindliche Begriffe“. 

 

Als Beispiele für Leidenschaften, die „sämtlich im Verein mit einem Körper“ (Buchheim) existieren, zählt Aristoteles auf: Eifer, Milde, Furcht, Erbarmen, Zuversicht, Freude und das Lieben und das Hassen. Wir bemerken dazu, dass im Originaltext an der Stelle von „Liebe“ philia geschrieben steht. Nicht agape, wie im zweiten Satz der Metaphysik.[1]

 

Bei alledem fragt sich Aristoteles, wer für die Untersuchung des Seelischen zuständig sei und spielt durch, inwiefern das davon abhängt, was man darunter versteht bzw. was vom Seelischen man jeweils zu fassen versucht. Obgleich Seelisches nicht unabhängig von Körperlichem sein kann, so bleibt deren gesonderte Untersuchung „als abgetrennt [von Materie]“, dennoch die Aufgabe des „ersten Philosophen“ (protos philosophos – ein Ausdruck der sich, in dieser personalisierten Form ausschließlich hier, sonst nirgends bei Aristoteles finden lässt).[2]

 

Zu den vordringlichen Aufgaben dieses unmöglich scheinenden Jobs wird zählen, diese Konstellation widerspruchsfrei zu denken. Das Seelische ist Gegenstand vieler anderer Disziplinen; je nach Herangehensweise/Definition ändert sich seine Erscheinungsform, was Aristoteles an den Beispielen „Zorn“ und „Haus“ illustriert. Auffällig ist schließlich noch die Festellung, dass der Naturwissenschaftler „von überhaupt allem handelt.“ – Buchheim erklärt dies so, dass dieser „auch vom göttlichen nous handelt, sofern dieser nämlich nötig ist, um die Verstehensleistung körperlich existierender Lebewesen zu erklären.“ Zudem sind selbst die reinen Leistungen des Verstandes nur unter der Bedingung gewisser, körperlich bedingter Kognitionen möglich (vgl. III 4–8).

 

Ivo Gurschler   



[1] Vgl. dazu Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin (1929)

[2] Wir erinnern uns an die Definition der „ersten Philosophie“ in der Metaphysik: entweder „Theologie“ oder „Ontologie“, in Wahrheit wohl beides.