τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 27. September 2015

Feriales Aristoteles-Protokoll

Im Sommer 2015 lancierte der deutsche Historiker Andreas Rödder in einem Beitrag zu aktuellen Krisen (auch zu denen um Griechenland herum) den Slogan „Mehr Aristoteles wagen!“ Eine paradoxe Formulierung, weil Aristoteles kaum etwas zu haben scheint, was nach Wagemut aussieht, sondern eher als Denker der „realistischen“ Lösungen, der „pragmatischen“ Vernunft gilt. Inzwischen hat Andreas Rödder eine sogenannte Kurze Geschichte der Gegenwart (München 2015) vorgelegt, die sich methodisch auf Aristoteles beruft: Erfahrung und Alltagsvernunft. Aus welcher Erkenntnishaltung jedoch auch der von Rödder zitierte Satz „Es ist wahrscheinlich, dass etwas Unwahrscheinliches geschieht.“ stammt - den wir aus der Poetik kennen. Durch Dichtkunst gesteigerter common sense, durch die Poetik gehobene Physik ....

Eine vielleicht ähnliche Einschätzung des aristotelischen Denkens, welche jedoch seine politische Bedeutung klarer zum Ausdruck bringt, liegt bei Martha Nussbaum vor, die das Streben nach dem „guten Leben“ zum Ausgangspunkt für ihre Anknüpfung an den griechischen Philosophen macht. Aristoteles habe einen zu großen Unterschied in der Verteilung der Reichtümer für politisch ungünstig erachtet, weil damit ein Teil der Bürger aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen werde. Sie spricht von einem „aristotelischen Sozialdemokratismus“ und meint damit die Entwicklung kultureller und sozialer Fähigkeit bei möglichst vielen Menschen. Siehe ihr Buch Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Gender Studies (Frankfurt 1999)

Konträr entgegengesetzt, aber für anthropologisches Nachdenken vielleicht förderlich, Gottfried Benns Stellungnahme, der das berühmte Wort des griechischen Philosophen Aristoteles, der Mensch sei ein „zoon politikon“, ein geselliges Lebewesen, „eine Balkanidee“ nannte. Benn fand, das Leben sei in der Pflanze eigentlich ganz gut untergebracht gewesen: „Warum es also in Bewegung setzen und auf Nahrungssuche schicken?“ Von dem Menschen als „Krone der Schöpfung“ wollte er schon gar nichts wissen – „Der Schöpfungskrone gehn die Zinken aus“ -, und am Ende bekannte er sich zu den Idealen des amerikanischen Politikers Monroe, des Initiators jener „Monroe-Doktrin“, derzufolge sich die Vereinigten Staaten nicht in Übersee, sondern nur im eigenen Lande engagieren sollten. Benn: „Ich bin Isolationist, mein Name ist Monroe.“
Gottfried Benn am 18. Juli 1948 im sogenannten „Berliner Brief“ an Hans Paeschke: „Das Abendland leidet ...   an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor den politischen Begriffen. Das zoon politikon, dieser griechische Missgriff, diese Balkanidee, das ist der Keim des Untergangs, der sich jetzt vollzieht.“

Am 6. März 2013 kamen wir darauf zu sprechen, dass Lacan am 15. Dezember 1971 in seinem Seminar auf die Metaphysik des Aristoteles zu sprechen kam, ja ihre Lektüre empfahl – allerdings mit der merkwürdigen Klausel, man müsse das Buch wie ein blödes Büchel lesen: unter Absehung von all der sogenannten „Metaphysik“, die man aus dem Buch herausgelesen habe und deren „Dekonstruktion“ jetzt der letzte Schrei sei.[1]

Genau ein Jahr zuvor, am 9. Dezember 1970, hat Michel Foucault seine Lehre am Collège de France unter dem Titel „Der Wille zum Wissen“ eröffnet, welcher eigentlich den ersten Satz der Metaphysik paraphrasiert: „Alle Menschen streben von Natur aus zum Wissen.“ Als Beweis bzw. als Beispiel für diese Behauptung spricht Aristoteles davon, dass die Menschen die Sinneswahrnehmungen, vor allem die visuellen, lieben, nämlich hochschätzen, weil sie so reichlich liefern. Die Bezeichnung „Philosophie“ setzt dieses semantische Wortfeld, nämlich die Verbindung von volitiven und kognitiven Elementen fort. c bezieht sich in der ersten Vorlesung auf jenen ersten Satz, kommt aber zu dem Schluß, dass Aristoteles die Außenbeziehungen zwischen Wissen und Begehren gekappt habe, indem er das Streben nach dem Wissen in die menschliche Natur eingeschrieben hat. Die Wissensformen, die sich dem allgemein-menschlichen Erkennen widersetzen, das tragische, das sophistische, das kommerzielle Wissen, welche von Gewalt, Kampf, Aneignung gezeichnet seien, habe er so nachhaltig ausgeschieden, dass erst Nietzsche sie wieder zu philosophischen Gegenständen gemacht habe.[2]

Foucault geht dann auch auf die ersten Ausführungen in der Metaphysik ein, welche die frühesten Ergebnisse philosophischer Erkenntnis sammeln und kritisieren. Es gehe dabei um den Aufweis der ersten Prinzipien, welche die allerwahrsten sind und insofern in der „Erkenntnis“ bereits enthalten sind. Wieso kommt es dann eigentlich zu den vielen Unterschieden, Mängeln und Defiziten in den älteren Philosophemen? Ein Grund dafür liegt in der Vielfältigkeit auf der Ebene der Prinzipien, Ursachen und Bestandteile. Die einzelnen Philosophen haben einzelne Aspekte hervorgehoben und andere vernachlässigt. Ein anderer Grund liege in gewissen Tricks der Sophisten - deren Gemeinsamkeit darin liege, dass den Wörtern als solchen, dass der „Materialität des Diskurses“ der Primat eingeräumt werde. Und Foucault identifiziert sich mit dieser materialistischen sowie bellizistischen Einstellung der Sophisten.[3] Das geht ungefähr in die Richtung, die Lacan für die Lektüre empfiehlt.

Aristoteles hingegen versucht - laut Foucault - das als vorgängig vorausgesetzte Erkennen einzuholen. Es mag sein, dass er das versucht. In unserer Lektüre stellen wir allerdings fest, dass der Text des Buches Metaphysik die apriorische Zirkularität des „Erkennens“ nicht einholt, sondern dass er immer wieder neue Anläufe macht, die Durcharbeitung von Aporien zum Programm erhebt und vorläufig zu keinem definitivem Ende kommt.

Der Inhalt des Gesamtbuches wird anfänglich als „Weisheit“ bezeichnet – eine ehrwürdige Kategorie seit archaischen Zeiten, von den Sophisten jedoch ins Zwielicht gerückt: zwischen mutigem Nonkonformismus und höherer Geschäftsklugheit.

Bleiben wir bei den verbalen Bezeichnungen für die volitiven Annäherungen an das kognitive Ziel, so haben wir das „Streben“, das „Lieben“ und zwar das hochschätzende, das verehrende Lieben (agapesis) sowie die Freundschaft, die im Wort „Philosophie“ steckt. Doch die Hauptbezeichnung, die Aristoteles zunächst für sein Unternehmen erfindet, heißt „gesuchte Wissenschaft“: eine älteste und gleichzeitig eine neueste Wissenschaft, weniger gut begründet und aufgestellt als etwa Mathematik oder Medizin. „Gesuchte Wissenschaft“ – das heißt zunächst einmal Wissenschaft, speziell aber eine noch zu suchende und umso mehr eine noch suchende und nur suchende Wissenschaft: eine Aufeinanderfolge und Aneinanderfügung von verschiedenen Suchbewegungen, die jeweils in einem der „Bücher“ vorangetrieben und dann abgebrochen werden.

Daß für Aristoteles die Suchtätigkeit charakteristisch ist, geht aus einem Artikel über zwei griechische Philosophen des 15. Jahrhunderts – Plethon und Scholarios - hervor, welche die Überlegung oder Erwägung (boule, bouleuesthai) näher  bestimmen wollten. Die boule ist nach Aristoteles eine Erkenntnisform, die in praktischen Angelegenheiten ihren Platz hat, wo es um die richtigen Mittel für einen vorausgesetzten Zweck geht. Doch in dem erwähnten Aufsatz geht es um die Frage, ob sie auch in Natur und Kunst anzutreffen ist. Plethon bejaht die Frage, weil er unter boule die Antizipation des Zwecks durch den Intellekt versteht. Scholarios verneint sie, weil er die boule eher aristotelisch als ein Suchen und Herumschaun auffaßt, das mit Zweifel und Unsicherheit einhergeht. Es scheint, dass er damit dem Duktus der Metaphysik nahekommt.[4]

Die Metaphysik beginnt mit einem Satz über das Wollen. Das Streben nach Wissen, das allen Menschen von Natur aus zukomme. Diese Verallgemeinerung und Naturalisierung des Wollens hat nach Foucault den Effekt, die tatsächlichen Verhältnisse zwischen dem Wissen und dem Wollen zu verdrängen und die Philosophie für Jahrtausende vor den Unruheherden namens Wollen, Begehren, Kampf, Macht zu schützen. Er sieht also im ersten Satz der Metaphysik eine sehr zweideutige „Voluntarismus-Erklärung“. Bei Aristoteles laufe sie auf eine Zähmung, ja Stilllegung des Wollens hinaus. Gegen einen solchen „Erkenntnis-Quietismus“ möchte Foucault seinen eigenen „Wissens-Voluntarismus“ setzen.

Am Anfang der erwähnten Vorlesung vom 9. Dezember 1970 erklärt Foucault, dass er den Titel „Der Wille zum Wissen“ auch den meisten seiner bisherigen historischen Analysen hätte geben können und er würde auch zu den künftigen passen. Das heißt sein Lebenswerk bestehe aus „Fragmenten zu einer Morphologie des Willens zum Wissen“.[5] Tatsächlich sollte er ja auch 1976 dem ersten Band seiner Geschichte der Sexualität diesen Titel geben.[6]

Aristoteles, der Foucault die allgemeine Formel für die voluntaristische Erkenntnisdramatik liefert, habe sich dieser schließlich doch entzogen. Er habe den Willen zur Erkenntnis naturalisiert, essenzialisiert – und ihn so seiner Kontingenz, seiner Gewaltsamkeit beraubt.

Sowohl die Erkenntnis wie auch darüber hinaus die Wahrheit seien „Erfindungen“ – über dem Spiel der Instinkte: Erfindungen aus Schein, Illusion, Irrtum, Lüge. So resümiert Foucault über Nietzsche seine Gegenposition zu Aristoteles.[7]

Das Singuläre unserer Metaphysik-Lektüre könnte sein: dass sie auf der Poetik-Lektüre aufruht. Eingedenk der Tatsache, dass die Philosophie in Griechenland entstehen konnte, weil da die Religion nicht nur von den Priestern sondern maßgeblich von den Künstlern gestaltet worden ist.


Nächste Sitzung: 7. Oktober 2015

Walter Seitter



[1] Siehe Jacques Lacan: Séminaire XIX: ... ou pire. 1971-1972 (Paris 2011): 28f.
[2] Siehe Michel Foucault: Leçons sur la volonté de savoir. Cours au Collège de France. 1970-1971 (Paris 2011): 7ff.
[3] Siehe Michel Foucault: op. cit.: 33f.
[4] Siehe Sergei Mariev: Plethon and Scholarios on Deliberation in Art and Nature, in : J. Matula, P. R. Blum (Hg.): Georgios Gemistos Plethon. The Byzantine and the Latin Renaissance (Olmütz 2014): 113ff.
[5] Michel Foucault: op. cit.: 3.
[6] Siehe Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen (Frankfurt 1977)
[7] Siehe Michel Foucault: Leçons sur la volonté de savoir. Cours au Collège de France. 1970-1971 (Paris 2011): 195ff.