Im Sommer 2015
lancierte der deutsche Historiker Andreas Rödder in einem Beitrag zu aktuellen
Krisen (auch zu denen um Griechenland herum) den Slogan „Mehr Aristoteles
wagen!“ Eine paradoxe Formulierung, weil Aristoteles kaum etwas zu haben
scheint, was nach Wagemut aussieht, sondern eher als Denker der „realistischen“
Lösungen, der „pragmatischen“ Vernunft gilt. Inzwischen hat Andreas Rödder eine
sogenannte Kurze Geschichte der Gegenwart (München 2015) vorgelegt, die
sich methodisch auf Aristoteles beruft: Erfahrung und Alltagsvernunft. Aus
welcher Erkenntnishaltung jedoch auch der von Rödder zitierte Satz „Es ist
wahrscheinlich, dass etwas Unwahrscheinliches geschieht.“ stammt - den wir aus
der Poetik kennen. Durch Dichtkunst gesteigerter common sense,
durch die Poetik gehobene Physik ....
Eine
vielleicht ähnliche Einschätzung des aristotelischen Denkens, welche jedoch
seine politische Bedeutung klarer zum Ausdruck bringt, liegt bei Martha
Nussbaum vor, die das Streben nach dem „guten Leben“ zum Ausgangspunkt für ihre
Anknüpfung an den griechischen Philosophen macht. Aristoteles habe einen zu
großen Unterschied in der Verteilung der Reichtümer für politisch ungünstig
erachtet, weil damit ein Teil der Bürger aus dem öffentlichen Leben
ausgeschlossen werde. Sie spricht von einem „aristotelischen
Sozialdemokratismus“ und meint damit die Entwicklung kultureller und sozialer
Fähigkeit bei möglichst vielen Menschen. Siehe ihr Buch Gerechtigkeit oder
Das gute Leben. Gender Studies (Frankfurt 1999)
Konträr entgegengesetzt,
aber für anthropologisches Nachdenken vielleicht förderlich, Gottfried Benns
Stellungnahme, der das berühmte Wort des griechischen Philosophen Aristoteles,
der Mensch sei ein „zoon politikon“, ein geselliges Lebewesen, „eine
Balkanidee“ nannte. Benn fand, das Leben sei in der Pflanze eigentlich ganz gut
untergebracht gewesen: „Warum es also in Bewegung setzen und auf Nahrungssuche
schicken?“ Von dem Menschen als „Krone der Schöpfung“ wollte er schon gar
nichts wissen – „Der Schöpfungskrone gehn die Zinken aus“ -, und am Ende
bekannte er sich zu den Idealen des amerikanischen Politikers Monroe, des
Initiators jener „Monroe-Doktrin“, derzufolge sich die Vereinigten Staaten
nicht in Übersee, sondern nur im eigenen Lande engagieren sollten. Benn: „Ich
bin Isolationist, mein Name ist Monroe.“
Gottfried Benn
am 18. Juli 1948 im sogenannten „Berliner Brief“ an Hans Paeschke: „Das
Abendland leidet ... an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz
vor den politischen Begriffen. Das zoon politikon, dieser griechische
Missgriff, diese Balkanidee, das ist der Keim des Untergangs, der sich jetzt
vollzieht.“
Am 6. März
2013 kamen wir darauf zu sprechen, dass Lacan am 15. Dezember 1971 in seinem
Seminar auf die Metaphysik des Aristoteles zu sprechen kam, ja ihre
Lektüre empfahl – allerdings mit der merkwürdigen Klausel, man müsse das Buch
wie ein blödes Büchel lesen: unter Absehung von all der sogenannten
„Metaphysik“, die man aus dem Buch herausgelesen habe und deren
„Dekonstruktion“ jetzt der letzte Schrei sei.[1]
Genau ein Jahr
zuvor, am 9. Dezember 1970, hat Michel Foucault seine Lehre am Collège de
France unter dem Titel „Der Wille zum Wissen“ eröffnet, welcher eigentlich den
ersten Satz der Metaphysik paraphrasiert: „Alle Menschen streben von
Natur aus zum Wissen.“ Als Beweis bzw. als Beispiel für diese Behauptung
spricht Aristoteles davon, dass die Menschen die Sinneswahrnehmungen, vor allem
die visuellen, lieben, nämlich hochschätzen, weil sie so reichlich liefern. Die
Bezeichnung „Philosophie“ setzt dieses semantische Wortfeld, nämlich die
Verbindung von volitiven und kognitiven Elementen fort. c bezieht sich in der
ersten Vorlesung auf jenen ersten Satz, kommt aber zu dem Schluß, dass
Aristoteles die Außenbeziehungen zwischen Wissen und Begehren gekappt habe,
indem er das Streben nach dem Wissen in die menschliche Natur eingeschrieben
hat. Die Wissensformen, die sich dem allgemein-menschlichen Erkennen
widersetzen, das tragische, das sophistische, das kommerzielle Wissen, welche
von Gewalt, Kampf, Aneignung gezeichnet seien, habe er so nachhaltig
ausgeschieden, dass erst Nietzsche sie wieder zu philosophischen Gegenständen
gemacht habe.[2]
Foucault geht
dann auch auf die ersten Ausführungen in der Metaphysik ein, welche die
frühesten Ergebnisse philosophischer Erkenntnis sammeln und kritisieren. Es
gehe dabei um den Aufweis der ersten Prinzipien, welche die allerwahrsten sind
und insofern in der „Erkenntnis“ bereits enthalten sind. Wieso kommt es dann
eigentlich zu den vielen Unterschieden, Mängeln und Defiziten in den älteren
Philosophemen? Ein Grund dafür liegt in der Vielfältigkeit auf der Ebene der
Prinzipien, Ursachen und Bestandteile. Die einzelnen Philosophen haben einzelne
Aspekte hervorgehoben und andere vernachlässigt. Ein anderer Grund liege in
gewissen Tricks der Sophisten - deren Gemeinsamkeit darin liege, dass den
Wörtern als solchen, dass der „Materialität des Diskurses“ der Primat
eingeräumt werde. Und Foucault identifiziert sich mit dieser materialistischen
sowie bellizistischen Einstellung der Sophisten.[3] Das
geht ungefähr in die Richtung, die Lacan für die Lektüre empfiehlt.
Aristoteles
hingegen versucht - laut Foucault - das als vorgängig vorausgesetzte Erkennen
einzuholen. Es mag sein, dass er das versucht. In unserer Lektüre stellen wir
allerdings fest, dass der Text des Buches Metaphysik die
apriorische Zirkularität des „Erkennens“ nicht einholt, sondern dass er immer
wieder neue Anläufe macht, die Durcharbeitung von Aporien zum Programm erhebt
und vorläufig zu keinem definitivem Ende kommt.
Der Inhalt des
Gesamtbuches wird anfänglich als „Weisheit“ bezeichnet – eine ehrwürdige
Kategorie seit archaischen Zeiten, von den Sophisten jedoch ins Zwielicht
gerückt: zwischen mutigem Nonkonformismus und höherer Geschäftsklugheit.
Bleiben wir
bei den verbalen Bezeichnungen für die volitiven Annäherungen an das kognitive
Ziel, so haben wir das „Streben“, das „Lieben“ und zwar das hochschätzende, das
verehrende Lieben (agapesis) sowie die Freundschaft, die im Wort
„Philosophie“ steckt. Doch die Hauptbezeichnung, die Aristoteles zunächst für
sein Unternehmen erfindet, heißt „gesuchte Wissenschaft“: eine älteste und
gleichzeitig eine neueste Wissenschaft, weniger gut begründet und aufgestellt
als etwa Mathematik oder Medizin. „Gesuchte Wissenschaft“ – das heißt zunächst
einmal Wissenschaft, speziell aber eine noch zu suchende und umso mehr eine
noch suchende und nur suchende Wissenschaft: eine Aufeinanderfolge und
Aneinanderfügung von verschiedenen Suchbewegungen, die jeweils in einem der „Bücher“
vorangetrieben und dann abgebrochen werden.
Daß für
Aristoteles die Suchtätigkeit charakteristisch ist, geht aus einem Artikel über
zwei griechische Philosophen des 15. Jahrhunderts – Plethon und Scholarios -
hervor, welche die Überlegung oder Erwägung (boule, bouleuesthai)
näher bestimmen wollten. Die boule ist nach Aristoteles eine
Erkenntnisform, die in praktischen Angelegenheiten ihren Platz hat, wo es um
die richtigen Mittel für einen vorausgesetzten Zweck geht. Doch in dem
erwähnten Aufsatz geht es um die Frage, ob sie auch in Natur und Kunst
anzutreffen ist. Plethon bejaht die Frage, weil er unter boule die
Antizipation des Zwecks durch den Intellekt versteht. Scholarios verneint sie,
weil er die boule eher aristotelisch als ein Suchen und Herumschaun
auffaßt, das mit Zweifel und Unsicherheit einhergeht. Es scheint, dass er damit
dem Duktus der Metaphysik nahekommt.[4]
Die Metaphysik
beginnt mit einem Satz über das Wollen. Das Streben nach Wissen, das allen
Menschen von Natur aus zukomme. Diese Verallgemeinerung und Naturalisierung des
Wollens hat nach Foucault den Effekt, die tatsächlichen Verhältnisse zwischen
dem Wissen und dem Wollen zu verdrängen und die Philosophie für Jahrtausende
vor den Unruheherden namens Wollen, Begehren, Kampf, Macht zu schützen. Er
sieht also im ersten Satz der Metaphysik eine sehr zweideutige
„Voluntarismus-Erklärung“. Bei Aristoteles laufe sie auf eine Zähmung, ja
Stilllegung des Wollens hinaus. Gegen einen solchen „Erkenntnis-Quietismus“
möchte Foucault seinen eigenen „Wissens-Voluntarismus“ setzen.
Am Anfang der
erwähnten Vorlesung vom 9. Dezember 1970 erklärt Foucault, dass er den Titel
„Der Wille zum Wissen“ auch den meisten seiner bisherigen historischen
Analysen hätte geben können und er würde auch zu den künftigen passen. Das
heißt sein Lebenswerk bestehe aus „Fragmenten zu einer Morphologie des Willens
zum Wissen“.[5]
Tatsächlich sollte er ja auch 1976 dem ersten Band seiner Geschichte der
Sexualität diesen Titel geben.[6]
Aristoteles,
der Foucault die allgemeine Formel für die voluntaristische Erkenntnisdramatik
liefert, habe sich dieser schließlich doch entzogen. Er habe den Willen zur
Erkenntnis naturalisiert, essenzialisiert – und ihn so seiner Kontingenz,
seiner Gewaltsamkeit beraubt.
Sowohl die
Erkenntnis wie auch darüber hinaus die Wahrheit seien „Erfindungen“ – über dem
Spiel der Instinkte: Erfindungen aus Schein, Illusion, Irrtum, Lüge. So
resümiert Foucault über Nietzsche seine Gegenposition zu Aristoteles.[7]
Das Singuläre
unserer Metaphysik-Lektüre könnte sein: dass sie auf der Poetik-Lektüre
aufruht. Eingedenk der Tatsache, dass die Philosophie in Griechenland entstehen
konnte, weil da die Religion nicht nur von den Priestern sondern maßgeblich von
den Künstlern gestaltet worden ist.
Nächste
Sitzung: 7. Oktober 2015
Walter Seitter
[2]
Siehe
Michel Foucault: Leçons sur la volonté de savoir. Cours au Collège de
France. 1970-1971 (Paris 2011): 7ff.
[4]
Siehe
Sergei Mariev: Plethon and Scholarios on Deliberation in Art and Nature, in :
J. Matula, P. R. Blum (Hg.): Georgios Gemistos Plethon. The Byzantine and the
Latin Renaissance (Olmütz 2014): 113ff.
[7]
Siehe
Michel Foucault: Leçons sur la volonté de savoir. Cours au Collège de
France. 1970-1971 (Paris 2011): 195ff.
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