τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 23. Oktober 2014

In der Metaphysik lesen (1012b 34 – 1013b 24)

Das Buch V setzt wieder (wie die vorausgehenden Bücher) neu an und stellt sich als „Lexikon von Definitionen“ dar. Es werden 30 Begriffe der Metaphysik (auch der Physik, der Logik) definiert.

Der erste dieser Begriffe lautet im Griechischen arche, zumeist als „Prinzip“ übersetzt, welche Übersetzung jedoch, wie man gleich sieht, keineswegs immer geeignet ist, denn die arche wird recht vielfältig verwendet („ausgesagt“), die Grundbedeutung ist so etwas wie das „Erste“. Die ersten drei Bedeutungen sind immanent: Teile der Sache, deren Prinzipien sie sind. Also der Anfang eines Weges – mit der Implikation, dass so ein Weg auch einen anderen Anfang hat; Anfang eines Lernprozesses, der mit dem Prinzip der zu lernenden Sache zusammenfallen kann – oder auch nicht: dann handelt es sich um einen Anfang für uns; grundlegender Teil eines Bauwerks oder Hauptorgan eines Lebewesens; oder aber nicht-immanente Ursachen wie Eltern oder Streitigkeiten als Anfänge von Kriegen oder Entscheidungen oder Entscheidungsträger (Herrschende); Künste und vor allem leitende Künste als Ursachen von Werken; das Erkennbarste einer Sache (wiederum ein eher immanentes Prinzip) oder Voraussetzungen von Beweisen. Also eine recht gemischte Gesellschaft versammelt sich unter dem Begriff arche – der übrigens auch alle Ursachen umfasst (bei denen gibt es ebenfalls immanente sowie transzendente). Als etwas abstraktere archai werden genannt: Natur, Element, Überlegung, Entscheidung, Wesenheit und Worumwillen, das Gute, das Schöne.

Schon die folgenden Definitionen beziehen sich explizit auf einige hier genannte archai. Diese Definitionensammlung scheint also nicht in jeder Hinsicht „logisch“ aufgebaut zu sein. Wohl aber dürfte sie den tatsächlichen Gebrauch der Wörter wiedergeben, welcher der Umgangssprache entstammt und die Umgangssprache nicht einfach überwindet oder ersetzt, sondern sie weiterentwickelt. Allerdings darf gefordert werden, dass der jeweilige Gebrauch eines Begriffs expliziert und unterschieden werden können muß. Unklarheit ist nicht das „Ideal“ antiken Philosophierens – schon gar nicht des aristotelischen. Aber wie sich die Philosophen zwischen Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit verhalten, sieht man erst, wenn man genau hinschaut.

Walter Seitter

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Sitzung vom 15. Oktober 2014 

Freitag, 17. Oktober 2014

In der Metaphysik lesen (1011a 2 – 1012b 31)

Während in den ersten Büchern, vor allem in Buch I, die „gesuchte Wissenschaft“ dahingehend anvisiert wird, dass sie die ersten, also die höchsten, in unserem Sinn die entferntesten Ursachen und Prinzipien der Dinge, also der Seienden, und zwar aller, aufsuchen und bestimmen soll, vollzieht das Buch IV ab 1003a 32 eine Kehrtwendung in Richtung Immanenz, Identität, beinahe Tautologie.

Betrachtung des Seienden als Seienden – aber doch gleich mit einer bestimmten Differenzierung bzw. Pluralisierung: es, das Seiende wird vielfältig ausgesagt. Diese Vielfältigkeit erstreckt sich nun keineswegs enzyklopädisch auf Arten, Gattungen und dergleichen, etwa Pflanzen, Menschen, Sterne. Sondern eher formalistisch auf Seinsmodalitäten, von denen die erste den Bezugspunkt für alle bilden soll, die gemeinsame arche oder physis. Diese erste heißt ousia, zumeist übersetzt als Wesen oder Substanz, von dem bereits genannten Joe Sachs entweder als independent thing oder thinghood.[1] Diese zweifache – im Englischen wohl revolutionäre – Übersetzung können wir Deutschsprachige sehr gut nachvollziehen, wir könnten sie sogar direkt übernehmen und sagen: Ding oder Dingheit (Dinglichkeit). Eine Doppeltheit, die scholastisch als Erste Substanz bzw. Zweite Substanz wiedergegeben worden ist.

Worin liegt der Unterschied zwischen den beiden Übersetzungen und worin ihr Bezug zum Seienden? Die Erste Substanz ist nichts anderes als eine erhöhende Wiederholung des Seienden: sie nennt das Seiende im Vollsinn des Wortes: ein selbständig und mit eigentümlicher Wesensform ausgestattetes Seiendes. Da ist keine Ursache ins Auge gefasst, sondern eine Sache im vollen Sinn des Wortes, eine Sache mit Sosein und Dasein. Und die Zweite Substanz – ist eben das Sosein, die Wesensform, die Formursache der Sache.

Diese eine „Ursache“ wird also in dieser immanentistischen oder „tautologischen“ Betrachtung sehr wohl in Betracht gezogen, sogar prominent hervorgehoben. Aber ständig auch in Quasi-Gleichsetzung, Beinahe-Verwechslung mit dem Verursachten, also der Sache selbst, der Sache in ihrer Fülle. Übrigens eignet dem aristotelischen Ursachen-Begriff überhaupt die Neigung zur Immanenz und gleichzeitig eine starke Vielfältigkeit: Form ist immer ganz immanent; Materie einigermaßen (das Holz, aus dem der Tisch gemacht ist, liegt ganz und gar in ihm; wenngleich es solches Holz auch noch außer ihm gibt (er ist ja „aus“ Holz)), Urheber zumeist außerhalb der Sache; Zweck hingegen eher darin). Daher tendiert die aristotelische Physik der Ursachen zunächst einmal wenig zum „meta“.
Die Vielfältigkeit des Ausgesagtwerdens des Seienden fängt also schon mit der Fast-Wiederholung durch die Erste Substanz an, geht weiter mit der abgeschwächten Wiederholung durch die Zweite Substanz, setzt sich fort mit der Aufzählung der anderen Kategorien, als da sind die Akzidenzien, lauter Anhängsel oder vielleicht doch nicht nur Anhängsel der Substanz, geht über die Akzidenzien noch hinaus zu stärker dramatisierenden Versionen des Wesens wie Vergehen, Beraubung, Erzeugung und sogar Verneinung. So weit gestreut ist die Vielfältigkeit des Seienden als solchen, wofür man auch sagen kann: der Seiendheit. Denn das ist die wörtlichste Übersetzung von ousia. Und dies alles wohlgemerkt innerhalb jedes Seienden – unabhängig von Art und Ort seines Vorkommens in der Welt.
Immanentismus und immanente „Explosion“ eines jeden Dinges, Wesens kennzeichnen also „Ontologie a“. (Beinahe noch immanentistischer (und anderswie extensiv) verhält sich „Ontologie b“). Allerdings wird sie im Buch IV nur kurz angerissen bzw. sie wird durch die Aufstellung von „Axiomen“, fortgesetzt, die für alle Dinge gelten. Diese Axiome sind der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, der Satz vom ausgeschlossenenen Dritten, die Regel von der Unrichtigkeit einseitiger Aussagen über alle Dinge. Auch diese Axiome gehen in die Richtung von Immanentismus, Identismus: sie besagen alle, dass jede Aussage Bestimmtes sagen muß.
Diese eher logische Weiterführung der „Ontologie“ wird sehr langwierig vorgetragen und mit beißender nicht enden wollender Polemik einerseits gegen Sophisten – hauptsächlich Protagoras – und Naturphilosophen wie Heraklit und Anaxagoras, Demokrit aufgefüllt. Als gemeinsame Behauptung dieser Philosophen nennt er die sensualistische These, die aisthesis sei phronesis, als die Wahrnehmung sei Verstand (1009b 14). Eine These, von der Aristoteles gar nicht weit entfernt ist, besagt doch unser aristotelisches Hermesgruppen-Motto, das Wahrnehmen sei so etwas Ähnliches wie das vernünftige Erfassen. Die Sophisten und einige Naturphilosophen aber kommen zu eher absurden Schlussfolgerungen oder Selbstwidersprüchen – entweder aus Lust an der Provokation oder vielleicht aufgrund ihrer Überwältigung durch den Abschied von den Mythen.
Im Zuge dieser Ausführungen gibt es immer wieder bemerkenswerte Stellen. Etwa wenn Aristoteles meint, gewisse Voraussetzungen müssen angenommen werden, können nicht bewiesen werden; etwa diejenige; dass „wir jetzt“ nicht „schlafen“ sondern „wachen“ (1011a 7). Er hat ja selber Über Wachen und Schlafen eine kleine Schrift verfasst und ich ein zweibändiges Werk darüber. Wieso kann man das nicht beweisen? Weil unser gesamtes Leben ein Traum sein könnte. Wir „müssen“ unser Wachsein theoretisch voraussetzen und wir sollen es praktisch uns einschärfen. Schlafen und Wachen könnte man – in Anlehnung an energeia und dynamis - als strikt ontologische Modalitäten unseres Daseins betrachten.

Walter Seitter

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Sitzung vom 15. Oktober 2014 


[1] Joe Sachs: op. cit.: 54.

Freitag, 10. Oktober 2014

Ontologie a und b

Bekanntlich gliedern sich die Wissenschaften bei Aristoteles so:

A Theoretische Wissenschaften
Physik (Zweite Philosophie)
Mathematik
Erste Philosophie

B Poietische Wissenschaften
Poetik, Architektonik, Medizin, Strategik ....

C Praktische Wissenschaften
Ethik, Ökonomik, Politik
 Zur Steigerung der Deutlichkeit und Verständlichkeit formuliere ich A folgendermaßen um:
 A  Theoretische Wissenschaften
A I Physik: alle Wissenschaften von materiellen Dingen, also auch von den Tieren, sowie vom Menschen (folglich auch De anima) und gewissermaßen auch von den künstlichen Dingen.

A II  Erste Philosophie spaltet sich in
A II 1 Ontologie: Lehre von allen Bestimmungen, die jedem Seienden als solchem zukommen (also allen Gegenständen aller Wissenschaften). Der allgemeine Grundsatz der Ontologie auf Lateinisch: ens multipliciter dicitur.
A II 1 a Und diese Lehre setzt bei der Kategorienlehre ein und setzt sich mit der Suche nach weiteren sozusagen dramatischen Seinsmodalitäten fort, die in Met. IV, 1003a 32ff. genannt werden. Die Begriffe dieser Lehre lauten also Substanz, Akzidenzien (Qualität, Relation, Wirken, Leiden ...), Wesen, Weg zum Wesen, Entstehung, Vergehung, Verneinung des Wesens, ... : Ontologie a.

In der Analytischen Philosophie wird die aristotelische Tradition der Ontologie mit dem Akzent auf Substanz (oder Ding) und Akzidenzien fortgesetzt, so Barry Smith; oder aber mit dem Akzent auf Ereignis, welcher Begriff ja als Zusammenfassung der aristotelischen Akzidenzien aufgefasst werden kann, wobei alternativ oder komplimentär auch Zustand, Handlung, Veränderung, Prozeß als Kategorien vorgeschlagen werden, so Christian Kanzian, Uwe Meixner. Es handelt sich dabei erklärtermaßen um mehrkategoriale Ontologien, andernfalls würden sie ja in die Lehre von den Transzendentalien umschlagen.
Martin Heidegger hat mit der Unterscheidung zwischen dem Seienden und dem Sein eine Ontologie, die vom Seienden (Substanz, Ding) ausgeht, kritisiert und dagegen ein Seinsdenken, welches das Ereignis zugrundelegt, vorschlagen wollen (sichtbar bereits in der Einsetzung von „Dasein“ für „Mensch“).
A II 1 b In der Scholastik wurde eine spezifische Richtung der Ontologie entwickelt: Lehre von den Transzendentalien bzw. von den Konvertibilitäten: Ontologie b.
Ens, res, aliquid, unum, verum, bonum; später wurde häufig auch das pulchrum hinzugefügt.

Was res, aliquid betrifft, so begnügen sie sich anscheinend mit der Wiederholung allgemeinster, banaler und sogar niedriger Begriffe – was besonders beim aliquid hervorsticht: denn es heißt bloß was im Sinne von etwas, aber durch das „ali“ wird sogar das sozusagen weggeworfen: irgendwas, man weiß nicht was, irgendwas anderes, bloß nicht dieses bestimmte Etwas hier, sondern irgendein anderes. Gleichwohl will dieses „aliquid“ besagen: etwas Bestimmtes, von anderem Abgegrenztes, also selber ein „anderwas“, ein aliud.

Demgegenüber erscheint res schon als eine sehr hohe Modalität, die eigentlich bereits das Wesen oder gar die selbständig existierende Substanz impliziert. Aber die Transzendentalien müssen als so „flexibel“ gedacht werden, dass sie allen Seinsmodalitäten zukommen können – jeweils in Entsprechung mit deren Eigenart und Rang. Also ist jedwedes, auch eine Eigenschaft, eine res: etwas res-haftes.

Ens et unum convertuntur: das Seiende als solches ist eines, ist einheitlich, kohärent. Dieses Transzendentale ist in der älteren griechischen Philosophie – von Parmenides bis Platon – schon häufig postuliert und diskutiert worden, auch in der Metaphysik war es schon vorgekommen.

Ens et verum convertuntur: dieser Satz ist von Platon und Aristoteles vorbereitet worden: je höher etwas in der Stufung der Seienden steht, umso intelligibler, umso klarer ist es – nicht unbedingt für uns, wohl aber an sich.

Ens et bonum convertuntur: und umso erstrebenswerter: appetibler.

Ens et pulchrum convertuntur: das Schöne ist eine Kombination aus Wahrem (Wahrnehmbarem) und Gutem: das was gefällt.

Ergibt sich nicht aus diesen ca. sechs Konvertibilitäten der Satz: Ens et convertibile convertuntur - ? Ja, aber der Satz gilt nicht so generell wie die vorigen. Ens ist nur mit „convertibile cum re, cum aliquo, cum vero ...“ konvertibel. Immerhin ist das schon eine multiple Konvertibilität, sodaß der Satz „ens multipliciter dicitur“ in beschränktem Maß auch auf die Transzendentalienlehre bezogen werden kann.
Tatsächlich gehört er direkt in diese Lehre hinein, denn bei Thomas gibt es auch die multitudo absoluta sive transcendens: die innere Opposition zur transzendentalen Einheit. Das Transzendentale „aliquid“ geht schon in diese Richtung. Wird dadurch das „ens et unum convertuntur“ aufgehoben? Wohl nicht.

Ens est convertibile multipliciter und folglich
Ens et convertibile (multipliciter) convertuntur.
Lassen sich die ontologischen Konvertibilitäten noch vermehren?
Etwa in Richtung Aktivität? Das verum und das bonum werden ja wie üblich mit Passiv-Eigenschaften übersetzt, obwohl sie doch Vollkommenheiten bezeichnen (diese Passiv-Eigenschaften beruhen allerdings auf ihrer Vollkommenheit: sie attrahieren, sie faszinieren).
Andere Vollkommenheiten, die wir mit „aktiv“ verbinden, würden lauten:
Ens et potens, et agens, et intelligens, et appetens (desiderans) convertuntur. Solche Konvertibilitäten würden die Richtung „res“ in Richtung „substantia“ intensivieren und zu „animal“, „spiritus“, „persona“ weiterführen. Sie würden auch das sächliche Geschlecht nur mehr als neutrale Hülle bestehen lassen. Res ist ja grammatisch bereits aus diesem Geschlecht herausgetreten, semantisch nur schwach. Immerhin macht „res“ ein grammatisch weibliches Wort zur allgemeinen Begriffshülse.


A II 2: Für die andere Richtung der Ersten Philosophie passt die Bezeichnung „Metaphysik“ einigermaßen: Lehre von den ersten oder höchsten oder entferntesten Ursachen, wie sie in Buch I flüchtig erwähnt worden ist. Vielleicht kann man auch sagen: Lehre von den überirdischen oder nicht-irdischen Dingen. Also vom Guten an sich oder vom unbewegten Beweger oder vom Göttlichen.

Walter Seitter


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Sitzung vom 8. Oktober 2014