τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 24. März 2021

In der Metaphysik lesen (1071b 32 - 1072a 2)

  

Karl Bruckschwaiger bemerkt zu meinem von der (seiner Tochter wohlbekannten) amerikanischen Künstlerin Doja Cat inspirierten Neologismus „Zoodramatik“, er habe ihn an die „Theodramatik“ des katholischen Theologen Hans Urs von Balthasar (1905-1988) erinnert. Der Zusammenhang ist mir nicht bewusst gewesen und, wenn er besteht, dann überbrückt er einen denkbar weiten Abstand – und doch einen zwischen Theologie und Theologie. Denn ich dachte dabei schon an die im Buch XII endlich ausbrechen werdende aristotelische „Theologie“.

 

Jetzt taucht für mich (wohlgemerkt) die Frage auf, wieso sich Aristoteles, der bei der Frage nach den für die Menschen zuständigen Ursachen bis zu der doppelten Bewegursache Sonne/Ekliptik zurückgegangen ist, diese große Ursache nicht als „erste“ Gesamtbewegursache für alle (anderen) Dinge akzeptiert, sondern über sie hinaus nach einer andersartigen und unwahrnehmbaren Bewegursache sucht, obwohl eine solche jedenfalls für meinen eher positivistischen Verstand kaum plausibel zu sein scheint.[1]

 

Da verweist Karl Bruckschwaiger auf die gegenwärtige Physik, die sich ja auch für eine Wissenschaft hält, und die momentan die Gesamtheit des irgendwie materiellen Universums so quantifiziert, dass 4,6% davon auf die uns „bekannten“ Atome entfallen, 23% auf die sog. Dunkle Materie, 72% auf die sog. Dunkle Energie. Die beiden letzteren „Größen“ entziehen sich unserer Wahrnehmung und überhaupt jeder näheren kognitiven Erfassung, sie werden nur als notwendige Voraussetzungen, also Ursachen, derjenigen Kontraktion oder Expansion des Universums erschlossen oder gar errechnet, die als wirksam angenommen werden. 

 

Der Vergleich bezieht sich nur auf die epistemische Problematik – nicht auf die von Aristoteles gesuchte „Ursache“, welche bei Aristoteles von seiner Wissenschaftskonzeption aus perspektiviert wird.

 

Zuletzt hat Aristoteles ältere Lehren zitiert, die als Urzustand entweder die „Nacht“ oder das „alles beisammen“ angenommen haben. Beide Annahmen lassen sich wohl zu anderen kosmologischen Auffassungen der Antike leichter in Beziehung setzen als zu modernen (obwohl auch solche Bezüge nicht ausgeschlossen werden müssen). Jenen Thesen unterstellt Aristoteles, sie würden die Dinge, die es jetzt gibt, aus der bloßen Möglichkeit oder, was auf dasselbe hinausläuft, aus einer bloßen Stofflichkeit im Sinne der materia prima hervorgehen lassen. Dazu bedürfte es aber zusätzlich einer wirklich bewegenden Ursache, wie sie im Bauwesen von der Kunst (also von Technik und Kunst) oder in der pflanzlichen bzw. animalischen Reproduktion von irgendwelchen Samen (und Samentransporten) geliefert werden. 

 

Da die Welt vorläufig noch ewig weiterbesteht und insofern keine Zeitknappheit diese Lektüre beschleunigen muß, kann man auch einmal ein paar Zeilen zurückspringen (der Text vollzieht selber viele und größere Rücksprünge, weshalb er sich selber so in die Länge zieht – auch eine Weise der Vorwärtsbewegung und des Wachstums), gehe ich ein paar Zeilen zurück zu dem Satz 1071b 20, also zur Suche nach „einem solchen Prinzip, dessen Wesen Verwirklichung ist“. 

 

Ein sehr kurzer Satz, in den drei Hauptbegriffe hineingepackt werden, ein Hauptbegriff der Ätiologie und zwei Hauptbegriffe der Ontologie. Das gesuchte Prinzip wird mit einem Relativsatz charakterisiert (definiert – wäre zu viel gesagt), in dem das Subjekt „Wesen“ mit dem Prädikat „Verwirklichung“ bestimmt, man könnte auch sagen ausgezeichnet wird. Denn es ist ein sehr ungewöhnliches Prädikat. Üblicherweise werden Wesen mit Spezies-Angaben wie Mensch oder Eiche oder Tragödie bestimmt (die ihrerseits bestimmten Gattungen zugeordnet sind). 

 

Hier hingegen prallen Wesen und Verwirklichung aufeinander oder Seiendheit und Wirklichkeit. Ein Zusammenprall von W und V. Oder von S und W. Sind die beiden überhaupt unterscheidbar? Ist so eine Aussagung, in der V von W oder W von S ausgesagt wird, mehr als eine Tautologie - bekanntlich die lächerliche Krone der Ontologie? 

Wenn man darauf verzichtet, sich jetzt über die Ontologie lustig zu machen, so wird man nun gerade hier auf ihre Mehrdimensionalität (über die hier schon ironisiert worden ist) gestoßen, die sich nicht in der berühmten Vielfachaussagung des Seienden erschöpft (welche nur eine ihrer Dimensionen ausmacht). Seiendheit und Wirklichkeit könnten im Deutschen als zwei strikte Synonyme aufgefaßt werden – aber die aristotelischen Wörter unterscheiden sich tiefgreifend: das eine stammt von dem neutral oder gar minimal klingenden „seiend“, während im anderen das Werk und die Tätigkeit und die Erfüllung der Möglichkeit steckt, also das Werden und der Prozeß und all das, was die Modernen entweder bedauernd oder triumphierend bei Arisoteles vermissen.

 

Mit dem zitierten Satz kippt die Ontologie vom Wesen zur Wirklichkeit, sie schlägt eine andere Richtung ein. Bruch oder Knick oder Kurve – diese Frage wird man erst später stellen können, wenn sichtbar geworden sein wird, wohin die Bewegung, die Schreib-, Denk-, Textbewegung, die Schreib-, Denk-, Textproduktion (denn Bewegung ist auch eine Ursächlichkeit) hin gelangt.

 

Die Ontologie wird hier zum Kippen gebracht, um einen Weg zu einem anderen Prinzip zu bahnen, welches aber nicht mit lauter Negativprädikaten „bestimmt“ oder besser gesagt un-bestimmt werden soll. 

 

Wieder zurück zum Gang der Untersuchung im Abschnitt 6. Nach Abweisung der Lehren, die den Anfang aller Dinge in Möglichkeitszuständen sehen, nennt Aristoteles Leukipp und Platon, die eine immerwährende wirkliche Bewegung annehmen – ohne jedoch die Ursache dafür anzugeben, dass die Bewegung einmal so und einmal so verlaufe.

Aristoteles unterscheidet jetzt drei Arten von Bewegungen: solche von Natur aus, solche durch Gewalt und solche durch Vernunft. 

Die gewaltsame Bewegung und die vernunftbedingte kann man dem Menschen zurechnen. Die erste greift störend in den Kreislauf der naturhaften Bewegungen ein, die zweite greift ebenfalls in die Natur ein, versucht aber, sie nicht durch Maßlosigkeit vom Typ „Unendlichkeit“ aus ihren Bahnen zu werfen – und stellenweise gelingt es ihr, Vollkommenheiten hervorzubringen, die die Natur nicht zustande bringt (man denke an Ästhetik und Ethik).  

Hier kann man an die alte Geschichte von der Mutter Erde erinnern, die sich bei Zeus darüber beklagt hat, dass die gewaltsamen Menschen auf ihr herumtrampeln, woraufhin Zeus von langer Hand den trojanischen Krieg einfädelt, der die Erde von allzu vielen kriegerischen Männern befreien sollte. In der Folge haben die Menschen viele Methoden ersonnen, um in ihren Aktionen Vernünftigkeit und Gewaltsamkeit „zweckrational“ zu verbinden und die Erde nicht nur kriegerisch sondern auch friedlich zu beschädigen.

Der berühmte Soziologe Max Weber hat mit seinem wohlklingenden Begriff der „Zweckrationalität“ einen willkommenen Vorschub geleistet – denn eigentlich wollte er damit „Mittelrationalität“ also Angemessenheit von Mitteln für bestimmte Zwecke sagen. Aber in dem Moment hat ihn sein Sprachverstand verlassen oder vielmehr es folgt nun die Sprache einem dominanter werdenden Trend der „Verwechslung“ von Mitteln und Zwecken.[2]

Die Verschmelzung von Gewalt und Vernunft im menschlichen Handeln hat nun zu dem neuen Begriff „Anthropozän“ geführt, der signalisiert, dass die menschliche Ursächlichkeit oder gar Verantwortung solche Ausmaße annehmen sieht, dass sogar eine erdgeschichtliche Epoche nach dem Menschen benannt wird. 

 

Soviel zum derzeitigen Verhältnis zwischen den drei mehr oder weniger bekannten Bewegungssorten – mit dem die vier schon öfter erörterten Verursachungsweisen (Natur, Kunst, Zufall, Automat) umformuliert, auch verständlicher werden. 

 

Aristoteles nimmt noch eine andere Ursächlichkeit an, es ist genau die, die er näher bestimmen will. Im Moment bezeichnet er sie nur als „erste“ Bewegung und meint, sie unterscheide sich sehr von den drei genannten. 

Hier empfiehlt es sich, das Attribut „erst“ ernstzunehmen und dabei auch Deutsch zu lernen (Griechisch lernt man, wenn man Aristoteles liest, ohnehin). Die Ordinalzahl „erst“ wird von Aristoteles öfter etwas leichthändig – und nicht immer konsequent – vergeben. 

„Erst“ ist ein Superlativ, dessen Positiv man auf der Ebene von „ehe“, also vor, früh findet, und dessen Komparativ „eher“ lautet. Die Raffinesse des Superlativs liegt darin, dass er den Komparativ sozusagen mitnimmt – also „eherst“ und daraus eine gewisse Geschmeidigkeit bezieht.

Die „erste“ Bewegung ist nicht nur pauschal die erste und vorrangige vor allen (anderen), sondern jeweils eher als die Bewegung A und die Bewegung B .... (wiederum die Pluralität der „alle“). Sie beansprucht einen Vorrang (nicht nur einen zeitlichen) sowohl vor der naturhaften wie auch vor der gewaltsamen und der vernunftmäßigen, die ja ihrerseits eher nebeneinander, miteinander, gegeneinander koexistieren und dabei auch eine andere Klassifizierung der Bewegungen bilden als die schon öfter besprochene, welche die Bewegungen oder Veränderungen nach vier Kategorien unterscheidet. 

Hier geht es um eine Unterscheidung verschiedener Bewegungen innerhalb des Kosmos im Ganzen und Aristoteles bezieht sich nun auf Platon, der die für die Seele typische Selbstbewegung zur ersten und vorrangigen Bewegung erklärt und sie auf eine Ebene mit dem Himmel stellt.[3] Mit der ersten Behauptung stimmt Aristotels nicht überein, wohl aber mit der zweiten. Die Seele ist für Aristoteles die Fähigkeit zur Selbstbewegung und sie findet sich in den pflanzlichen, tierischen und menschlichen Körpern – doch die postulierte Erstheit kommt den Seelen nicht zu. Ebenso wenig wie dem Himmel – also der peripheren Sphäre des Kosmos. 

Die Suche muß also weitergehen. 

 

Das hier erscheinende Bild kann zeigen, wie nahe der Himmel der Erde erscheinen kann. 

 

 


 

Walter Seitter


[1] Zur Sonnenkausalität hat Francis Ponge sehr vieles gesagt. Hier nur ein Satz von geradezu aristotelischer Schlichtheit: „Die Sonne ist der Gegenstand, dessen Erscheinen und Verschwinden, im Apparat der Welt wie auf jeden der (anderen) Gegenstände, die ihn komponieren, am meisten Wirkung und Eindruck produziert.“ (Francis Ponge: op. cit.: 865)

[2] Man kann sich denken, welche Mittel da in den Vordergrund treten. Siehe dazu Joseph Vogl: Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart (München 2021).

[3] Siehe Platon:  Phaidros 245c, Timaios 34b.

Mittwoch, 17. März 2021

In der Metaphysik lesen (1071b 23 – 31)

In den letzten Tagen sind mir ungefähr fünf oder sechs Repliken, Kommentare, Publikationen, Manifestationen zugegangen. 

Karl Bruckschwaiger bezieht sich auf meine Erwähnung der Tatsache, dass das griechische Wort für „ursächlich“ aus dem Gerichtswesen stammt und ursprünglich so etwas wie „schuld an etwas“, „verantwortlich für etwas“ bedeutet, woran man die Frage knüpfen kann, ob der aristotelische Ursachenbegriff auf seine physikalische Bedeutung festgeschrieben bleiben muß oder ob er die politisch-ethische Bedeutung zu übernehmen hat. Immerhin setzen neuere französische und amerikanische Metaphysik-Übersetzungen auch „Verantwortlicher“ für Ursache ein.

 

K. B. wendet – nicht auf der Ebene des Aristoteles-Verständnisses, sondern auf derjenigen des eigenen Selbstverständnisses – ein, dass eine solche Bedeutungsverschiebung oder –erweiterung ein Selbstwertgefühl voraussetzt, das er „uns Ohnmächtigen“ eher abspricht. Meine Nachfrage, wieso er sich entgegen dem Anschein den Ohnmächtigen zurechne, beanwortet er damit, dass er seine berufliche Position als Unterordnung und Abhängigkeit erlebt. Dagegen ließe sich eine sinnvolle berufliche Tätigkeit als augenscheinlicher Nachweis für das Gegenteil von Ohnmächtigkeit ins Feld führen. Ich würde sogar die These aufstellen, dass es bei den Menschen Ohnmacht nicht gibt – Allmacht aber auch nicht. Die beiden spielen jedoch in Einbildungen riesige Rollen und gehören damit auch zur Realität - leider.

Der Kommentar, den mir Gerhard Weinberger geschickt hat und der sich auf seine Levinas-Lektüre bezieht, schließt zufällig thematisch an, denn er geht von einer Ethik aus, die die alter-Position unendlich hoch steigert, während ego quasi masochistisch in eine Geisel-Position hinuntergesetzt wird. G. W. übernimmt aus einem Aristoteles-Zitat von Levinas (siehe Protokoll vom 3. März) den „Stopp“ (seit man ihn mit zwei p schreibt, ist das ein deutsches Wort), der Denkbewegungen, die ins Unendliche gehen, sei es ins Radikale, sei es ins Extreme, gehen und entsprechend faszinieren, Einhalt zu gebieten hat, weil sie nicht stimmen. Levinas sucht selber nach Instanzen, um die illusionäre Unendlichkeit zu bannen, - etwa den „jenen“, also die Dritte Person. Wie G. W. schreibt, setzt Levinas einmal sogar „mich selber“ als Stopp gegen den absoluten Vorrang des Anderen...  

 

Des weiteren ist mir ein Buch in die Hände gefallen: Philippe Chevallier: Michel Foucault et le christianisme (Paris 2011), das Foucaults von 1961 bis 1984 dauernde „Lektüre des Abendlandes“ unter besonderer Berücksichtigung des Christentums straff zusammenfasst und gliedert, dabei auch aufs Übersetzen der griechischen und lateinischen Kirchenväter eingeht: Foucault akzentuiere die begrifflichen Knotenpunkte, weniger den diskursiven Fließtext.

 

Wolfgang Koch wiederholt und ergänzt die Ausführungen der letzten Woche, insbesondere zu Bewegung und Zeit bei Aristoteles. Andererseits gibt er mir ein Buch, das dem Namenspatron der Hermesgruppe gewidmet ist und dem vielleicht ein nützlicher Wink entnommen werden kann – nützlich nicht nur für die Psychotherapie, die in diesen Zeiten ohnehin auf den Wellen des Medizin-Booms getragen wird, sondern auch für das Aristoteles-Lesen, das im Moment vor einer wichtigen Etappe steht. Der Wink: eine Dosis Unseriosität könnte vielleicht hilfreich sein, damit man im jetzigen Stadium der aristotelischen Such- und vielleicht Findbewegung die passende Beweglichkeit zum Mitgehen oder Mitspringen aufbringt.

 

 

 

 

Rafael Lopez-Pedraza: Hermes oder die Schule des Schwindelns ein neuer Weg in der Psychotherapie (Zürich 1983)


 

 

Und fünftens ist mir in der Zeitung heute, die nicht als Qualitätszeitung gilt, eine amerikanische Sängerin gezeigt worden, deren Name Doja Cat bereits ihren Wesenszug verrät, welcher sie zu den Tieren zieht. Auf der Feier eines Musikpreises fiel sie nicht durch einen Preis auf, sondern durch eine extrem offene wilde und doch künstliche Zoomorphie, die man im Internet sehen kann. Künstliches Wildtier. Sie ist bereits öfter durch kleine politische Unkorrektheiten aufgefallen, für die sie sich dann brav entschuldigt hat – wie es sich gehört. Eines ihrer wichtigeren Werke ist ein Musikvideo mit dem Titel (übersetzt) muh muh muh - eine dramatische und mimetische Annäherung an die Kühe, die zu den häufig unbedankten Mitursachen des menschlichen Lebens zählen. Auch diese kleine Zoodramatik und –mimetik ist im Internet zu sehen. Und sie hat vielleicht einen engeren Bezug zum Buch XII, wie wir sehen werden, wenn wir zu sehen vermögen.

 

 

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Aristoteles hat drei Sorten von Wesen postuliert: 1. Die wahrnehmbaren und beweglichen und veränderlichen und vergänglichen Wesen, zu denen wir selber gehören und zwischen denen vielerlei Kausalitäten am Werk sind. 2. Wahrnehmbare und bewegliche und unvergängliche Wesen, deren kreisförmige Bewegungen notwendige zusätzliche Bewegursachen für die erstgenannten Wesen sind – Beispiel Sonne und Ekliptik. 3. Unwahrnehmbare, unstoffliche, unkörperliche, unbewegte Wesen, von denen weitere Kausalkräfte im Sinne von Bewegungsstößen ausgehen. 

 

Dem aristotelischen Postulat, unvergängliche Bewegungs- und Zeitabläufe müssten von Wesen getragen sein, die ebenfalls bzw. erst recht unvergänglich sind, wird eigentlich schon durch die zweite Gruppe von Wesen Genüge getan. Wieso bedarf es da noch der dritten Sorte, die sich empirisch kaum bis gar nicht ausweist? Ja die sich sozusagen weigert zu erscheinen und damit dem primären Existenzkriterium in der griechischen – und auch in der heutigen – Kultur nicht entspricht. Trotzdem postuliert Aristoteles diesen gesamten Ursachenkomplex und tut so, als wäre er damit auch schon aufgewiesen.

In der Zeile 23 jedoch unterbricht er sich und sieht eine Aporie, eine Ausweglosigkeit. 

 

Der Gang der Untersuchung ist kein reibungsloser Durchmarsch von einem Anfang zu einem Ziel. Aporien sind sekundäre, unerwünschte Bewegungszwischenfälle, die dazu zwingen, den Fortgang zu bedenken und vielleicht zu modifizieren. Für die Überwindung einer Schwierigkeit und den Weitergang hat Aristoteles den Begriff „Diaporie“ geprägt. Damit sind „Aporie“ und „Diaporie“ zwei Phasen einer Bewegung – dieser Begriff darf auch hier Anwendung finden.  

 

Die Schwierigkeit sieht Aristoteles darin, dass im Gesagten ein Primat des Möglichen vor dem Wirklichen vorausgesetzt sein könnte, der das Nicht-Sein von irgendwelchen beziehungsweise von allen Dingen impliziert und daher direkt an die Leibniz-Frage rührt, die ja diese in der Neuzeit dominant gewordene Priorität voraussetzt. 

 

Aristoteles repliziert mit Distanzierungen von seinerzeit verbreiteten Lehren, welche eine Priorität des Möglichen vor dem Wirklichen im Format des Kosmos suggerieren – ich sage suggerieren, weil ein solcher Ursprung wohl auch schon damals eine gewisse Faszination ausgeübt zu haben scheint. Die Vertreter jener beiden Lehren nennt er „Theologen“ und „Physiker“, womit er sie in seine engste Nähe rückt, denn im gerade jetzt geschrieben werdenden Buch und exakt im aktuellen Kapitel macht er das, was er schon öfter angekündigt hat: Theologie. Und ebenfalls in diesem Buch XII greift er oft auf seine eigene Physik zurück. 

Die älteren Theologen, etwa Hesiod oder Orpheus, lassen aus der Nacht hervorgehen, der Naturphilosoph Anaxagoras behauptet, alle Dinge seien beisammen gewesen. Solche konfusen Ansichten implizieren mehr oder weniger, meint Aristoteles, daß alle Dinge aus dem Stoff, aus der Möglichkeit entstanden seien. Aber wie soll etwas ohne aktualen Urheber in Bewegung geraten? Das Material bewegt sich nicht selber, sondern die Baukunst bewegt: die Bewegung vom Felsen zum Tempel. Oder die Monatsblutung beziehungsweise die Erde bewegen sich nicht, es bewegen die Samen und das Saatkorn.[1]

 

Damit deutet Aristoteles an, dass er neben der Stoffursache auch die Formursache für notwendig erachtet – und er bleibt damit strikt im Rahmen seiner „Physik“. 

 

Ebenso im Rahmen der Physik bzw. der Botanik bleibt die Tatsache, dass sich vom Samen bzw. vom Saatkorn aus Vermögen und Verwirklichung noch einmal spalten und differenzieren. Für Verwirklichung setzt Aristoteles öfter die „Vollendung“ und obwohl darin das Wort „Ende“ steckt, betont Aristoteles, dass das Vollendete das Erste ist und nicht der Same – 1073a 35ff.. Oder um ein vor Jahren ventiliertes Beispiel aufzugreifen: die Eiche existiert vorrangig vor der Eichel. Oder das Huhn vor dem Ei. Oder die Kuh vor der Milch.


Walter Seitter


[1] Den männlichen Samenzellen entsprechende Eizellen spricht unser heutiges Wissen den Frauen zu, die allerdings allein über Monatsblutung und Mutterkuchen verfügen, welche Aristoteles als „Stoff“ ansieht. 

Mittwoch, 10. März 2021

In der Metaphysik lesen (1071b 3 – 22)


Die ätiologischen Begriffe Ursache, Prinzip, Element, die im Buch XII erstmals explizit aufeinander bezogen und miteinander eingesetzt werden, sind im Begriffslexikon des Buches V – plausiblerweise als die ersten Begriffe - definiert und analysiert worden und folglich hier vor mehreren Jahren schon besprochen worden.[1]

Natürlich könnten oder vielmehr sollten diese ätiologischen Begriffe (die ich zum Akronym UPE zusammengeschrieben habe) von uns auch kritisch befragt werden, zumal sie in der Wissenschaftstheorie seit dem 20. Jahrhundert vielfach als überholt gelten. Erinnert sei an die radikale Ablehnung des Konzepts der Kausalität durch Bertrand Russel (1872-1970).

 

Man kann aber auch im griechischen Wort für „Ursache“, das von Aristoteles benützt wird, etwas sehen, was den Sachverhalt in neuem Licht erscheinen lässt: dass nämlich die Grundbedeutung von aitios nicht nur „ursächlich“ in dem überwiegend physikalischen Sinn ist, sondern auch „schuld an etwas“ oder „verantwortlich für etwas“. Daß also eine politische, eine judiziell-moralische Sinnschicht dem Wort innewohnt, die ziemlich leicht verständlich ist, denn Verantwortung besteht darin, dass jemandem von irgendwem (auch von ihm selber) eine Verursachungsaktivität zugeschrieben wird, die er auch noch willentlich annehmen kann. „Urheber“ von Achill im vollen Sinn des Wortes ist Peleus dann, wenn er nicht nur irgendetwas irgendwohin gespritzt hat, sondern seine Aktivität wissentlich und willentlich annimmt und durchhält.

Doch ob Aristoteles in diesem Buch dem Begriff „Ursache“ (der noch dazu in vier Partialkausalitäten zerfällt) eine solche Sinnschicht mitgibt, sei jetzt dahingestellt.

 

Die Sachfrage, in welche die ätiologischen Begriffe einbezogen werden, ist zunächst die, ob verschiedene Dinge nur verschiedene oder auch selbe Ursachen, Prinzipien, Elemente haben. Ob es also auf der ätiologischen Ebene der „ersten“ Ursachen, Prinzipien, Elemente weniger Entitäten gibt als im Raum der „allen“ Dinge. Die ätiologische Fragestellung, die im Buch I schon probeweise durchexerziert worden war, wird nun mit den Hauptbegriffen der Ontologe wie Wesen, Möglichkeit, Wirklichkeit sozusagen aufgefüllt und beschwert, sodaß die große Warum-Frage mit dem gesamten Begriffs-Instrumentarium in Angriff genommen werden kann.

 

In 1071b 3f. greift Aristoteles auf die Klassifikation der Wesen zurück, die in 1069a 30f. aufgestellt worden ist: zum einen gibt es die natürlichen wahrnehmbaren, beweglichen und vergänglichen Wesen; das sind solche wie die Pflanzen, Tiere, Menschen, Bücher und so weiter; zum anderen die natürlichen wahrnehmbaren beweglichen und unvergänglichen Wesen; solche gibt es schon viel weniger, Aristoteles würde da die schon erwähnte Sonne nennen, die uns ebenfalls bekannt ist und der Francis Ponge im 20. Jahrhundert eine poetische Physik gewidmet hat – doch statt sie für unvergänglich zu halten, erklärt er ihr den Krieg; zum dritten die unvergänglichen und unbewegten Wesen, deren Existenz nicht unmittelbar evident ist. Aber für die Existenz eines solchen Wesens hat er sofort einen eleganten Beweis an der Hand.

Rückgriff auf den im Buch VII (1028a 32ff.) aufgestellten Grundsatz, demzufolge das Wesen überhaupt die primäre Seinsmodalität bildet. Wenn alle Wesen vergänglich sind, so sind überhaupt alle Dinge vergänglich – alle „Dinge“, das heißt alle irgendwelchen Entitäten, auch solche, die vielleicht ontologisch niedrigen Ranges sind, außerdem aber wahrnehmbar, erfahrbar sind und nicht bloß gedacht oder postuliert.

 

Besagter Grundsatz will also sagen, wenn es irgendwelche niedrigen Entitäten gibt, die irgendwie unvergänglich erscheinen, so können sie das nur, wenn höherrangige ebenfalls unvergänglich sind – und das sollten eben Wesen sein. 

Daher ist der erste Schritt, den Aristotels nun gehen muß, ein relativ einfacher. Er muß irgendetwas finden, was unentstanden, unvergänglich, immerwährend und insofern ewig ist. Und da greift er nun paradoxerweise zur – Bewegung und zur Zeit, die ein Akzidens der Bewegung ist. Ausgerechnet diese beiden Akzidenzien, die für Unbeständigkeit stehen, sind selber sehr beständig. Entgegen der modernen Redensart von der Zeit, die vergeht.

 

In den Akzidenzien-Listen wird die Bewegung nicht genannt, trotzdem kann man sie den Akzidenzien zurechnen – als eine Akzidenzien-Kumulation, die etwa das Wirken und das Leiden, das Wann und das Wo einbezieht. Die Zeit wird denn auch als Akzidens an der Bewegung bezeichnet. Also Akzidens an einem Akzidens. Und beide sollen unentstanden und unaufhörlich sein – also immerwährend und sozusagen ewig.

Man könnte darin den aristotelischen Akzidenzialismus am Werk sehen, dessen Entdeckung (in der Poetik) ich an meine Fahne hefte. Das mag zutreffen aber gleichzeitig wirft es ein größeres Licht auf die aristotelische Ontologie, in der die Dimension Wesen-Akzidenzien mit anderen ebenso entscheidenden Dimensionen wie Möglichkeit-Wirklichkeit oder Werden und Vergehen koexistiert und sich konstelliert.

Was den oben genannten Grundsatz betrifft, so kann ich nicht sagen, ob er von Aristoteles explizit als solcher deklariert worden ist. In diesem Fall wäre er wohl als Axiom zu bezeichnen.

Der Schluß vom faktischen Stattfinden irgendeiner unvergänglichen Bewegung auf Wesen, die ebenfalls unvergänglich sind, wird von Aristoteles doch nicht als zureichender Beweis anerkannt.

Er macht sich auf die Suche nach den Voraussetzungen dafür, dass eine Bewegung nicht nur unentstanden und unaufhörlich stattfindet sondern notwendig und ewig ist.

 

 

Walter Seitter


[1] Siehe Walter Seitter: op. cit.: 131ff. 

 

Mittwoch, 3. März 2021

In der Metaphysik lesen (1071a 4 – 1071 b 4)

 Im 21. Jahrhundert Aristoteles lesen macht ja nicht gerade einen avantgardistischen Eindruck, will ihn auch gar nicht machen – vielmehr versucht es, eine Denkungsart aus ihrer angeblichen Bekanntheit herauszureißen und ihr neue Erkenntnislieferungen abzutrotzen beziehungsweise uns neue Erkenntnischancen zuzumuten. 

 

Dazu heute zwei kleine Exkurse, von denen der erste eher anekdotischen Charakter hat und die Anregung dazu kam von dem Film „Lou Andreas-Salomé“ (2013), der am Montagabend im Fernsehen lief. Im Jahre 1882 trugen sich Lou Salomé, Paul Rée und Friedrich Nietzsche mit dem Gedanken, ihre persönliche Freundschaftsbeziehung zu einem gemeinsamen philosophischen Leben in Wien auszubauen, dem sie sogar den theologischen Titel der „Dreieinigkeit“ geben wollten. Paul Rée war Philosoph, Aristoteles-Spezialist und beschäftigte sich mit moralphilosophischen Fragen auf naturwissenschaftlicher Basis. Von ihm könnte also der Gedanke stammen, die philosophische „Dreieinigkeit“ der drei Freunde in einer Fotoszene zu realisieren, die von Nietzsche arrangiert worden sein soll. Dabei wurde auf die mittelalterliche Legende zurückgegriffen, derzufolge der antike Philosoph am Hof des Königs Philipp sich in eine Hofdame verliebt habe und von ihr dazu gebracht worden sei, sie auf seinem Rücken durch den Garten reiten zu lassen. Womit die Gefährlichkeit der Frauen, aber auch die Leichtsinnigkeit des heidnischen Philosophen offenbart worden sei. In der Fotoszene teilen sich Rée und Nietzsche die Aristoteles-Rolle und lassen sich von Salomé (mit Peitsche in der Hand) vor ihren Wagen spannen. Ein Scherz mit allerdings ernsthaften erotischen Ambitionen jedenfalls aufseiten der beiden Männer.[1]

 

Philosophisch hat sich Nietzsche von den naturalistischen um nicht zusagen „englischen“ Ansichten Rées, die vielleicht auch annähernd aristotelische waren, alsbald distanziert. Salomé hingegen fand einen Weg nach Wien und wurde eine hochgeschätzte Freundin und Kollegin von Sigmund Freud. 

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Gerhard Weinberger schickt mir folgendes Levinas-Zitat aus dessen Autrement qu'être: „Le passé immémorial est intolérable à la pensée. D'où l'exigence de l'arrêt: ananke stenai. Le mouvement au-delà de l'être devient ontologie et theologie...“

 

Wie schon in der am 18. November 2020 zitierten Stelle repliziert Levinas auf die aristotelische Infragestellung des aktual Unendlichen, jedenfalls im Physischen.  

 

Damals bemerkte Gerhard Weinberger, dass Levinas das Unendliche im menschlichen Willen und in der Verantwortung sieht – also nicht in einer Fortsetzung des Physischen.

 

Die aristotelische Problematik könnte man so fassen: zergliedern die Seinsmodalitäten nur deskriptive Realität oder machen sie die „Kurve“ zum Optativen und Normativen? Das Deskriptive (vom Faktischen bis zum Notwendigen) kann tatsächlich nicht endlos fortgesetzt und ausgeweitet werden. Die Realiät muß flexibler, mehrsinniger verstanden werden – was Aristoteles mit dem „pollachos legetai“ ja auch ins Auge gefasst hat. 

 

Bloße Endlosigkeit bleibt in Romantik oder Allmachtsphantasie oder schlicht im Niedergang oder im Unmöglichen stecken. Die führte auch Nietzsche in seine Ausweglosigkeit. 

 

Man wird sehen, ob und wie Aristoteles „anstelle“ einer unmöglichen Unendlichkeit eine plausible Realitätsfassung finden wird.

 

 

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Selbe oder andere Prinzipien für viele verschiedene Dinge? Zur Beantwortung der Frage nennt Aristoteles Verwirklichung und Vermögen als Prinzipien, die für verschiedene Dinge als verschiedene Prinzipien und verschiedenartig fungieren. In einigen Fällen wirkt ein und dasselbe einmal der Wirklichkeit nach und einmal der Möglichkeit nach, wie etwa Wein oder Fleisch oder Mensch. 

 

Plötzlich diese drei uns sehr vertraut vorkommenden Sachen, die einigermaßen mühelos als aristotelische Ursachen – wofür? für den Menschen - angenommen werden können; aber drei recht unterschiedliche Ursachen. Und er erläutert sie mit seiner uns schon bekannten Begrifflichkeit, wobei er die Privation hervorhebt, für die er noch zwei konkrete Beispiele nennt, die er auch schon deutlicher ausgeführt hat. 

 

Dann eine vollständig sein wollende Aufzählung der Ursachen des Menschen, sozusagen eine anthropologische Ätiologie: „Ursächlich für den Menschen sind die Elemente Feuer und Erde als Stoff, dann die eigentümliche Form. Und weiter noch etwas anderes Äußeres, der Vater nämlich; und neben diesen Dingen noch die Sonne und die schräge Kreisbahn (Ekliptik), die weder Stoff noch Form sind, auch nicht Privation oder dergleichen, sondern Bewegende.“ (1071a 13ff.)[3]

 

Insgesamt also sieben verschiedene Ursachen, die ungefähr drei verschiedenen Arten angehören; man könnte wohl auch von drei verschiedenen Gattungen sprechen – so weit liegen sie qualitativ und entfernungsmäßig auseinander. Die zwei zuletzt genannten – Sonne und Ekliptik – hängen ganz eng miteinander zusammen, so sehr, dass die Ekliptik nur ein Akzidens der Sonne ist, aber ein größeres als sie. Aristoteles zählt sie als zwei Menschenursachen, womit er seinen schon auffällig gewordenen Willen zum Pluralisieren in einem prominenten Fall auf die Spitze treibt. Die Ekliptik sprengt die Sonne in eine Konstellation vieler Sonnen – Sommer-, Winter-, Tag- und Nachtsonne ... – auseinander, als deren Zentrum sie sich doch behauptet.[2]

 

Aristoteles möchte die Suche nach Prinzipien über die menschenbezogenen Fragestellungen und Feststellungen hinaustreiben, kommt jedoch zur Aussage, dass es ein erstes und allgemeines wie auch wirkliches Prinzip für die Einzeldinge, für alle Einzeldinge nicht gibt.

Diese schroffe Behauptung ist mit der Andeutung zur Sonnenkonstellation als Bewegursache nur vereinbar, wenn sie sich auf die anderen Ursachensorten bezieht und für sie so etwas wie eine allgemeine Erstursache ausschließt. 

Das positive allgemeine Prinzipienaxiom lautet folglich: „Prinzip der Einzeldinge ist das Einzelding.“ (1071a 20). Und es wird auf drei Stufen vom Allgemeinen zum Einzelnen und Nächsten durchdekliniert: das B ist Prinzip für das BA; Peleus ist das Prinzip des Achill; dein Vater ist das von dir. (Siehe 1071a 22ff.)

Eine der wenigen Stellen in diesem Buch, wo der Text ein Du aufruft und anspricht. Natürlich hat dieses Ansprechen einen anderen Charakter als das oftmalige Du in den platonischen Dialogen, wo es im lebendigen aber wohl fingierten Gesprächsverlauf mit dem Text noch stärker verbunden ist als hier, wo ein Leser „nur“ dazu angesprochen wird, damit er, der Leser das „nächste“, das „allernächste“ in einer Reihe von Lehrbeispielen bilde. 

 

Karl Bruckschwaiger macht mich darauf aufmerksam, dass ich als aktual Lesender dieses Textes – und ebenso natürlich auch er – mich da angesprochen fühlen darf; vor allem wenn der Text dazu verfaßt worden ist, um von irgendwelchen Menschen individuell gelesen zu werden. Was zur Zeit des Aristoteles wohl schon üblich war (auch wenn er als Platon-Schüler noch ironisch als „der Leser“ apostrophiert worden ist). 

 

Als angesprochenes Du erfahre ich, und zwar als ich, nicht nur, dass mein Vater Walter Seitter, mein, Walter Seitters Vater ist, was ich wahrlich schon weiß, sondern dass er auch das Prinzip, die Herkunft, der erste Anfang, die erste Ursache von mir ist, jedenfalls eine erste Ursache von mir ist. Aber da würde er schon Einspruch erheben wollen, denn in der aristotelischen Terminologie will sagen Ätiologie oder Genealogie ist mein Vater eher eine „letzte“, weil eine „nächste“ Ursache und zwar Bewegursache. Trotzdem ist die Tatsache nicht gering zu schätzen, dass Aristoleles hier jeden Leser als Du anspricht.  

 

Aber er rückt mir noch näher, wird noch zudringlicher, indem er sein Du-Sagen mit seinem Ich-Sagen noch stärker intimisiert. Und zwar konfrontiert er meinen Stoff, also mein Fleisch und meine Form, also meine Mensch- und Walterheit, mit seinem Fleisch und seiner Form, welche er als „meinige“ bezeichnet. 

 

Und zum Allgemeinen zurückkehrend betont er, dass die Ursachen der Wesen die Ursachen aller Dinge sind, denn mit ihrer Beseitigung würden alle Dinge verschwinden, ebenso mit der Beseitigung des der Vollendung nach Ersten. Aber was ist das? Aussagen, die so tun, als könnten sie zur Beantwortung der Leibniz-Frage beitragen. 

 

Damit will Aristoteles die Erörterung der Prinzipien der wahrnehmbaren Dinge, die er in 1070b 10 begonnen hat, abgeschlossen haben. 


Walter Seitter




[1] Auch ich habe mich irgendwie in diese legendäre Aristoteles-Rolle hineinbegeben, indem ich der amerikanischen Artistin Tanner Mayes den Text „Intimsteintechnik“ gewidmet habe, der im letzten mit dem Namen „Tumult“ gezeichneten Band der Schriftenreihe „Tumult“ (1979-2018) erschienen ist: Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft 42 Bleibende Steinzeit (Wien 2018).

 

Im Titel dieses Bandes sehe ich eine Art philosphisches Vermächtnis, denn die Festkörper stehen in Gefahr, von Flüssigkeiten hinweggefegt oder aufgelöst zu werden sowie auch unter der von Aristoteles nach Thales gesehenen Drohung, selber durch Schmelzung verflüssigt zu werden (siehe 1015a 9ff. und 1016a 23).

 

[2] Aristoteles braucht für seine Fraktalisierung der Sonne kaum mehr als fünf Wörter. Eine nähere Erläuterung der komplexen Sonneneinwirkung auf die irdischen Lebewesen findet sich in De gen. et corr. 336a 22 – 336b 26. Der Dichter Francis Ponge (1899-1988) hat von den Zwanziger- bis in die Fünfzigerjahre seine Auseinandersetzung mit der Sonne vorangetrieben, die erst jetzt ediert worden ist: Francis Ponge: Die Sonne. Übersetzt von Thomans Schestag (Berlin 2020)

 

[3] Diese vielen Ursachen würden heute als riesige "Interdisziplinarität" postuliert oder gefeiert werden. Es gibt aber auch Versuche zur Erfindung neuer Disziplinen, die zunächst hybrid wirken. Siehe Mischa Meier und Steffen Patzold: Gene und Geschichte. Wie die Archäogenetik zur Geschichtsforschung beitragen kann (Stuttgart 2021)