τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 10. März 2021

In der Metaphysik lesen (1071b 3 – 22)


Die ätiologischen Begriffe Ursache, Prinzip, Element, die im Buch XII erstmals explizit aufeinander bezogen und miteinander eingesetzt werden, sind im Begriffslexikon des Buches V – plausiblerweise als die ersten Begriffe - definiert und analysiert worden und folglich hier vor mehreren Jahren schon besprochen worden.[1]

Natürlich könnten oder vielmehr sollten diese ätiologischen Begriffe (die ich zum Akronym UPE zusammengeschrieben habe) von uns auch kritisch befragt werden, zumal sie in der Wissenschaftstheorie seit dem 20. Jahrhundert vielfach als überholt gelten. Erinnert sei an die radikale Ablehnung des Konzepts der Kausalität durch Bertrand Russel (1872-1970).

 

Man kann aber auch im griechischen Wort für „Ursache“, das von Aristoteles benützt wird, etwas sehen, was den Sachverhalt in neuem Licht erscheinen lässt: dass nämlich die Grundbedeutung von aitios nicht nur „ursächlich“ in dem überwiegend physikalischen Sinn ist, sondern auch „schuld an etwas“ oder „verantwortlich für etwas“. Daß also eine politische, eine judiziell-moralische Sinnschicht dem Wort innewohnt, die ziemlich leicht verständlich ist, denn Verantwortung besteht darin, dass jemandem von irgendwem (auch von ihm selber) eine Verursachungsaktivität zugeschrieben wird, die er auch noch willentlich annehmen kann. „Urheber“ von Achill im vollen Sinn des Wortes ist Peleus dann, wenn er nicht nur irgendetwas irgendwohin gespritzt hat, sondern seine Aktivität wissentlich und willentlich annimmt und durchhält.

Doch ob Aristoteles in diesem Buch dem Begriff „Ursache“ (der noch dazu in vier Partialkausalitäten zerfällt) eine solche Sinnschicht mitgibt, sei jetzt dahingestellt.

 

Die Sachfrage, in welche die ätiologischen Begriffe einbezogen werden, ist zunächst die, ob verschiedene Dinge nur verschiedene oder auch selbe Ursachen, Prinzipien, Elemente haben. Ob es also auf der ätiologischen Ebene der „ersten“ Ursachen, Prinzipien, Elemente weniger Entitäten gibt als im Raum der „allen“ Dinge. Die ätiologische Fragestellung, die im Buch I schon probeweise durchexerziert worden war, wird nun mit den Hauptbegriffen der Ontologe wie Wesen, Möglichkeit, Wirklichkeit sozusagen aufgefüllt und beschwert, sodaß die große Warum-Frage mit dem gesamten Begriffs-Instrumentarium in Angriff genommen werden kann.

 

In 1071b 3f. greift Aristoteles auf die Klassifikation der Wesen zurück, die in 1069a 30f. aufgestellt worden ist: zum einen gibt es die natürlichen wahrnehmbaren, beweglichen und vergänglichen Wesen; das sind solche wie die Pflanzen, Tiere, Menschen, Bücher und so weiter; zum anderen die natürlichen wahrnehmbaren beweglichen und unvergänglichen Wesen; solche gibt es schon viel weniger, Aristoteles würde da die schon erwähnte Sonne nennen, die uns ebenfalls bekannt ist und der Francis Ponge im 20. Jahrhundert eine poetische Physik gewidmet hat – doch statt sie für unvergänglich zu halten, erklärt er ihr den Krieg; zum dritten die unvergänglichen und unbewegten Wesen, deren Existenz nicht unmittelbar evident ist. Aber für die Existenz eines solchen Wesens hat er sofort einen eleganten Beweis an der Hand.

Rückgriff auf den im Buch VII (1028a 32ff.) aufgestellten Grundsatz, demzufolge das Wesen überhaupt die primäre Seinsmodalität bildet. Wenn alle Wesen vergänglich sind, so sind überhaupt alle Dinge vergänglich – alle „Dinge“, das heißt alle irgendwelchen Entitäten, auch solche, die vielleicht ontologisch niedrigen Ranges sind, außerdem aber wahrnehmbar, erfahrbar sind und nicht bloß gedacht oder postuliert.

 

Besagter Grundsatz will also sagen, wenn es irgendwelche niedrigen Entitäten gibt, die irgendwie unvergänglich erscheinen, so können sie das nur, wenn höherrangige ebenfalls unvergänglich sind – und das sollten eben Wesen sein. 

Daher ist der erste Schritt, den Aristotels nun gehen muß, ein relativ einfacher. Er muß irgendetwas finden, was unentstanden, unvergänglich, immerwährend und insofern ewig ist. Und da greift er nun paradoxerweise zur – Bewegung und zur Zeit, die ein Akzidens der Bewegung ist. Ausgerechnet diese beiden Akzidenzien, die für Unbeständigkeit stehen, sind selber sehr beständig. Entgegen der modernen Redensart von der Zeit, die vergeht.

 

In den Akzidenzien-Listen wird die Bewegung nicht genannt, trotzdem kann man sie den Akzidenzien zurechnen – als eine Akzidenzien-Kumulation, die etwa das Wirken und das Leiden, das Wann und das Wo einbezieht. Die Zeit wird denn auch als Akzidens an der Bewegung bezeichnet. Also Akzidens an einem Akzidens. Und beide sollen unentstanden und unaufhörlich sein – also immerwährend und sozusagen ewig.

Man könnte darin den aristotelischen Akzidenzialismus am Werk sehen, dessen Entdeckung (in der Poetik) ich an meine Fahne hefte. Das mag zutreffen aber gleichzeitig wirft es ein größeres Licht auf die aristotelische Ontologie, in der die Dimension Wesen-Akzidenzien mit anderen ebenso entscheidenden Dimensionen wie Möglichkeit-Wirklichkeit oder Werden und Vergehen koexistiert und sich konstelliert.

Was den oben genannten Grundsatz betrifft, so kann ich nicht sagen, ob er von Aristoteles explizit als solcher deklariert worden ist. In diesem Fall wäre er wohl als Axiom zu bezeichnen.

Der Schluß vom faktischen Stattfinden irgendeiner unvergänglichen Bewegung auf Wesen, die ebenfalls unvergänglich sind, wird von Aristoteles doch nicht als zureichender Beweis anerkannt.

Er macht sich auf die Suche nach den Voraussetzungen dafür, dass eine Bewegung nicht nur unentstanden und unaufhörlich stattfindet sondern notwendig und ewig ist.

 

 

Walter Seitter


[1] Siehe Walter Seitter: op. cit.: 131ff. 

 

2 Kommentare:

  1. Die ontologischen Dimensionen »koexistieren« beim Stagiriten nicht einfach miteinander. Bewegung setzt tatsächlich einiges voraus, was die Dimensionen miteinander verbindet: a) ein geordnetes zeitliches Nacheinander, b) die Verflechtung der Dinge (Beständigkeit der Naturen, Unbeständigkeit der Umstände), c) die Modalkategorien möglich/verwirklicht. Bewegung ist laut der Physikvorlesung »das Aktiviertsein des Möglichen als solchen«, und Zeit, anaximandisch gedacht, »unaufhörliche Vernichtung« sowie »Ursache der Vernichtung«, weil die Dinge durch eine Übertretung geworden sind und das in ihrer Existenz abzubüssen haben.

    Kann nun Zeit ein »Akzidens an der Bewegung« sein, wenn die Zeitlichkeit des Körpers der Natur des Gegenstands in der Bewegung entspricht wie die Lebendigkeit des Leibes der Natur des Menschen in der Seele?

    Seele // Lebendigkeit des Leibes // Natur des Menschen
    Bewegung // Zeitlichkeit des Körpers // Natur des Gegenstandes

    Wenn Zeit ein Akzidens an der Bewegung sein kann, wäre die Lebendigkeit ein Akzidenz an dem Wesen der Lebewesen. Man sieht wieder einmal, dass in der Zuordnung der Eigenschaften ein Konstrukt entsteht, in dem sich der Konstrukteur automatisch mitkonstruiert. Seele und Zeit werden zu operablen Messgrössen umgebaut. Unaufhörlicher Bestand ist beim Stagiriten bereits dadurch ausgeschlossen, dass etwas auch nicht der Fall sein kann. Genau genommen, heisst das aber auch nur: die Bewegung muss im zeitlichen Anlauf, die Lebendigkeit in den Ritzen des Anorganischen bemerkt werden können.

    Ebenfalls schon in der Physikvorlesung sagt der Autor, die Zeit sei »etwas an der Bewegung« (tês kinêseôs ti), deren zeitlicher Koinzidenz sich wiederum zurückführen lässt auf kombinierte Wahrnehmung, also auf das Gliedern und Zählen von Abschnitten zwischen Anfang und Ende. Mit anderen Worten: Zeit gibt es, im Unterschied zu blossen Bewegung, nur aufgrund einer intelligenten Leistung unserer Seele. Kein Zeitbegriff, keine Zeitauffassung, kein Zeitverständnis ohne eine lebendige Anstrengung des Geistes. Nicht auf die »Akzidenzien-Kumulation« im ontologischen Wertungssystem scheint es anzukommen, sondern darauf, wie die akzidentiellen Aspekte der Wahrnehmung einander in ihrer grossartiger Unbedeutendheit der Sonne aussetzen.

    Wolfgang Koch, 3-2021

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  2. Wenn man das Wort aitia - Ursache in einem mehr ethischen Rahmen als Verantwortung übersetzt oder einsetzt, denn hier wird jemand als Ursache eine Handlung eingesetzt, wo vorher Dinge oder andere Wesen die Ursachen waren, dann setzt das ein gewisses Selbstwertgefühl voraus. Das man mächtig oder stark sein muss um sich als Ursache von Handlungen und Dingen zu verstehen, setze ich hier voraus. Wir Ohnmächtigen müssen auf die physikalische Kausalität vertrauen, weil wir uns nicht als Ursache verstehen können und die Verantwortung nicht so einfach übernehmen können.

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