τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 3. März 2021

In der Metaphysik lesen (1071a 4 – 1071 b 4)

 Im 21. Jahrhundert Aristoteles lesen macht ja nicht gerade einen avantgardistischen Eindruck, will ihn auch gar nicht machen – vielmehr versucht es, eine Denkungsart aus ihrer angeblichen Bekanntheit herauszureißen und ihr neue Erkenntnislieferungen abzutrotzen beziehungsweise uns neue Erkenntnischancen zuzumuten. 

 

Dazu heute zwei kleine Exkurse, von denen der erste eher anekdotischen Charakter hat und die Anregung dazu kam von dem Film „Lou Andreas-Salomé“ (2013), der am Montagabend im Fernsehen lief. Im Jahre 1882 trugen sich Lou Salomé, Paul Rée und Friedrich Nietzsche mit dem Gedanken, ihre persönliche Freundschaftsbeziehung zu einem gemeinsamen philosophischen Leben in Wien auszubauen, dem sie sogar den theologischen Titel der „Dreieinigkeit“ geben wollten. Paul Rée war Philosoph, Aristoteles-Spezialist und beschäftigte sich mit moralphilosophischen Fragen auf naturwissenschaftlicher Basis. Von ihm könnte also der Gedanke stammen, die philosophische „Dreieinigkeit“ der drei Freunde in einer Fotoszene zu realisieren, die von Nietzsche arrangiert worden sein soll. Dabei wurde auf die mittelalterliche Legende zurückgegriffen, derzufolge der antike Philosoph am Hof des Königs Philipp sich in eine Hofdame verliebt habe und von ihr dazu gebracht worden sei, sie auf seinem Rücken durch den Garten reiten zu lassen. Womit die Gefährlichkeit der Frauen, aber auch die Leichtsinnigkeit des heidnischen Philosophen offenbart worden sei. In der Fotoszene teilen sich Rée und Nietzsche die Aristoteles-Rolle und lassen sich von Salomé (mit Peitsche in der Hand) vor ihren Wagen spannen. Ein Scherz mit allerdings ernsthaften erotischen Ambitionen jedenfalls aufseiten der beiden Männer.[1]

 

Philosophisch hat sich Nietzsche von den naturalistischen um nicht zusagen „englischen“ Ansichten Rées, die vielleicht auch annähernd aristotelische waren, alsbald distanziert. Salomé hingegen fand einen Weg nach Wien und wurde eine hochgeschätzte Freundin und Kollegin von Sigmund Freud. 

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Gerhard Weinberger schickt mir folgendes Levinas-Zitat aus dessen Autrement qu'être: „Le passé immémorial est intolérable à la pensée. D'où l'exigence de l'arrêt: ananke stenai. Le mouvement au-delà de l'être devient ontologie et theologie...“

 

Wie schon in der am 18. November 2020 zitierten Stelle repliziert Levinas auf die aristotelische Infragestellung des aktual Unendlichen, jedenfalls im Physischen.  

 

Damals bemerkte Gerhard Weinberger, dass Levinas das Unendliche im menschlichen Willen und in der Verantwortung sieht – also nicht in einer Fortsetzung des Physischen.

 

Die aristotelische Problematik könnte man so fassen: zergliedern die Seinsmodalitäten nur deskriptive Realität oder machen sie die „Kurve“ zum Optativen und Normativen? Das Deskriptive (vom Faktischen bis zum Notwendigen) kann tatsächlich nicht endlos fortgesetzt und ausgeweitet werden. Die Realiät muß flexibler, mehrsinniger verstanden werden – was Aristoteles mit dem „pollachos legetai“ ja auch ins Auge gefasst hat. 

 

Bloße Endlosigkeit bleibt in Romantik oder Allmachtsphantasie oder schlicht im Niedergang oder im Unmöglichen stecken. Die führte auch Nietzsche in seine Ausweglosigkeit. 

 

Man wird sehen, ob und wie Aristoteles „anstelle“ einer unmöglichen Unendlichkeit eine plausible Realitätsfassung finden wird.

 

 

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Selbe oder andere Prinzipien für viele verschiedene Dinge? Zur Beantwortung der Frage nennt Aristoteles Verwirklichung und Vermögen als Prinzipien, die für verschiedene Dinge als verschiedene Prinzipien und verschiedenartig fungieren. In einigen Fällen wirkt ein und dasselbe einmal der Wirklichkeit nach und einmal der Möglichkeit nach, wie etwa Wein oder Fleisch oder Mensch. 

 

Plötzlich diese drei uns sehr vertraut vorkommenden Sachen, die einigermaßen mühelos als aristotelische Ursachen – wofür? für den Menschen - angenommen werden können; aber drei recht unterschiedliche Ursachen. Und er erläutert sie mit seiner uns schon bekannten Begrifflichkeit, wobei er die Privation hervorhebt, für die er noch zwei konkrete Beispiele nennt, die er auch schon deutlicher ausgeführt hat. 

 

Dann eine vollständig sein wollende Aufzählung der Ursachen des Menschen, sozusagen eine anthropologische Ätiologie: „Ursächlich für den Menschen sind die Elemente Feuer und Erde als Stoff, dann die eigentümliche Form. Und weiter noch etwas anderes Äußeres, der Vater nämlich; und neben diesen Dingen noch die Sonne und die schräge Kreisbahn (Ekliptik), die weder Stoff noch Form sind, auch nicht Privation oder dergleichen, sondern Bewegende.“ (1071a 13ff.)[3]

 

Insgesamt also sieben verschiedene Ursachen, die ungefähr drei verschiedenen Arten angehören; man könnte wohl auch von drei verschiedenen Gattungen sprechen – so weit liegen sie qualitativ und entfernungsmäßig auseinander. Die zwei zuletzt genannten – Sonne und Ekliptik – hängen ganz eng miteinander zusammen, so sehr, dass die Ekliptik nur ein Akzidens der Sonne ist, aber ein größeres als sie. Aristoteles zählt sie als zwei Menschenursachen, womit er seinen schon auffällig gewordenen Willen zum Pluralisieren in einem prominenten Fall auf die Spitze treibt. Die Ekliptik sprengt die Sonne in eine Konstellation vieler Sonnen – Sommer-, Winter-, Tag- und Nachtsonne ... – auseinander, als deren Zentrum sie sich doch behauptet.[2]

 

Aristoteles möchte die Suche nach Prinzipien über die menschenbezogenen Fragestellungen und Feststellungen hinaustreiben, kommt jedoch zur Aussage, dass es ein erstes und allgemeines wie auch wirkliches Prinzip für die Einzeldinge, für alle Einzeldinge nicht gibt.

Diese schroffe Behauptung ist mit der Andeutung zur Sonnenkonstellation als Bewegursache nur vereinbar, wenn sie sich auf die anderen Ursachensorten bezieht und für sie so etwas wie eine allgemeine Erstursache ausschließt. 

Das positive allgemeine Prinzipienaxiom lautet folglich: „Prinzip der Einzeldinge ist das Einzelding.“ (1071a 20). Und es wird auf drei Stufen vom Allgemeinen zum Einzelnen und Nächsten durchdekliniert: das B ist Prinzip für das BA; Peleus ist das Prinzip des Achill; dein Vater ist das von dir. (Siehe 1071a 22ff.)

Eine der wenigen Stellen in diesem Buch, wo der Text ein Du aufruft und anspricht. Natürlich hat dieses Ansprechen einen anderen Charakter als das oftmalige Du in den platonischen Dialogen, wo es im lebendigen aber wohl fingierten Gesprächsverlauf mit dem Text noch stärker verbunden ist als hier, wo ein Leser „nur“ dazu angesprochen wird, damit er, der Leser das „nächste“, das „allernächste“ in einer Reihe von Lehrbeispielen bilde. 

 

Karl Bruckschwaiger macht mich darauf aufmerksam, dass ich als aktual Lesender dieses Textes – und ebenso natürlich auch er – mich da angesprochen fühlen darf; vor allem wenn der Text dazu verfaßt worden ist, um von irgendwelchen Menschen individuell gelesen zu werden. Was zur Zeit des Aristoteles wohl schon üblich war (auch wenn er als Platon-Schüler noch ironisch als „der Leser“ apostrophiert worden ist). 

 

Als angesprochenes Du erfahre ich, und zwar als ich, nicht nur, dass mein Vater Walter Seitter, mein, Walter Seitters Vater ist, was ich wahrlich schon weiß, sondern dass er auch das Prinzip, die Herkunft, der erste Anfang, die erste Ursache von mir ist, jedenfalls eine erste Ursache von mir ist. Aber da würde er schon Einspruch erheben wollen, denn in der aristotelischen Terminologie will sagen Ätiologie oder Genealogie ist mein Vater eher eine „letzte“, weil eine „nächste“ Ursache und zwar Bewegursache. Trotzdem ist die Tatsache nicht gering zu schätzen, dass Aristoleles hier jeden Leser als Du anspricht.  

 

Aber er rückt mir noch näher, wird noch zudringlicher, indem er sein Du-Sagen mit seinem Ich-Sagen noch stärker intimisiert. Und zwar konfrontiert er meinen Stoff, also mein Fleisch und meine Form, also meine Mensch- und Walterheit, mit seinem Fleisch und seiner Form, welche er als „meinige“ bezeichnet. 

 

Und zum Allgemeinen zurückkehrend betont er, dass die Ursachen der Wesen die Ursachen aller Dinge sind, denn mit ihrer Beseitigung würden alle Dinge verschwinden, ebenso mit der Beseitigung des der Vollendung nach Ersten. Aber was ist das? Aussagen, die so tun, als könnten sie zur Beantwortung der Leibniz-Frage beitragen. 

 

Damit will Aristoteles die Erörterung der Prinzipien der wahrnehmbaren Dinge, die er in 1070b 10 begonnen hat, abgeschlossen haben. 


Walter Seitter




[1] Auch ich habe mich irgendwie in diese legendäre Aristoteles-Rolle hineinbegeben, indem ich der amerikanischen Artistin Tanner Mayes den Text „Intimsteintechnik“ gewidmet habe, der im letzten mit dem Namen „Tumult“ gezeichneten Band der Schriftenreihe „Tumult“ (1979-2018) erschienen ist: Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft 42 Bleibende Steinzeit (Wien 2018).

 

Im Titel dieses Bandes sehe ich eine Art philosphisches Vermächtnis, denn die Festkörper stehen in Gefahr, von Flüssigkeiten hinweggefegt oder aufgelöst zu werden sowie auch unter der von Aristoteles nach Thales gesehenen Drohung, selber durch Schmelzung verflüssigt zu werden (siehe 1015a 9ff. und 1016a 23).

 

[2] Aristoteles braucht für seine Fraktalisierung der Sonne kaum mehr als fünf Wörter. Eine nähere Erläuterung der komplexen Sonneneinwirkung auf die irdischen Lebewesen findet sich in De gen. et corr. 336a 22 – 336b 26. Der Dichter Francis Ponge (1899-1988) hat von den Zwanziger- bis in die Fünfzigerjahre seine Auseinandersetzung mit der Sonne vorangetrieben, die erst jetzt ediert worden ist: Francis Ponge: Die Sonne. Übersetzt von Thomans Schestag (Berlin 2020)

 

[3] Diese vielen Ursachen würden heute als riesige "Interdisziplinarität" postuliert oder gefeiert werden. Es gibt aber auch Versuche zur Erfindung neuer Disziplinen, die zunächst hybrid wirken. Siehe Mischa Meier und Steffen Patzold: Gene und Geschichte. Wie die Archäogenetik zur Geschichtsforschung beitragen kann (Stuttgart 2021) 

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