τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 28. April 2011

In der Metaphysik lesen (983b 1-7)

28. April 2011
Die vier konkreten Ursachen (Faktoren, Bestandteile) für jede Sache bilden eine Klassifikation der Ursachen. Eine andere quer dazu liegende bezieht sich auf zwei große Ursachenbereiche (Sachbereiche), nämlich Natur und Kunst: die Naturdinge haben eine natürliche Kausalität, die Kunstsachen eine künstliche. Für beide große Gattungen aber gilt, daß jeweils die vier konkreten Ursachen bestimmt werden können. Nehmen wir zuerst ein Kunstding, den Tisch; Materialursache: zumeist Holz, kann aber auch etwas anderes sein, z. B. Kunststoff; Formursache: Tischform, Tischheit: eine Erhöhung des Bodens um ungefähr einen Meter, welche Erhöhung aber begrenzt sein muß: ungefähr ein Quadratmeter oder mehr, oben eine glatte Fläche; Wirkursache, von der die Form geliefert wird: Tischler, Tischfabrik; die Tischform muß zuerst in der Seele des Künstlers, Handwerkers, Technikers sein; Zweckursache: Möglichkeit zum vorübergehenden Hinstellen von kleinen Dingen wie Tasse, Buch oder dergleichen; der Spezialist für die Zwecksetzung ist der Gebraucher: er weiß am besten, wozu ein Tisch - für ihn – gut ist. Nehmen wir einmal an, eine Höhle sei eine natürliche „Sache“ – wie können wir dann ihre vier Ursachen bestimmen? Materialursache: sicherlich nicht einfach, denn der Hohlraum besteht aus „Leere“ (relativ zum Material der Umgebung oder Einfassung), Leere eventuell mit Luft und Licht (oder eher Dunkelheit), dazu oder vielmehr darum herum braucht es ein festes Material, in der Regel Erde, Stein, Felsen, vielleicht ein ganzer Berg; jetzt die Formursache, die Höhlenform: eine Einbuchtung oder Aussparung im festen Material, ein Ansatz von „Loch“; die Wirkursache muß von der Naturgeschichte bestimmt werden: vielleicht Wasser oder so etwas; Zweckursache muß von irgendeinem Benutzer, z. B. Bewohner – Bären, Menschen – bestimmt werden, Höhlen ohne Benutzer haben keinen Zweck, es kann ihnen aber ein Zweck zuwachsen, wenn z. B. Höhlenforscher eine zwecklose Höhle finden, besuchen und erforschen, dann kann sie für sie zum Zweck werden, als Freizeitbeschäftigung oder Arbeitgeber. Oder ein aristotelisches Beispiel: die Tragödie; Materialursache: Sprache und Musik; Formursache: da setzt Aristoteles „metaphorisch“ den Formbegriff ein, der normalerweise den Lebewesen vorbehalten ist, nämlich „Seele“: die Seele der Tragödie ist der mythos oder plot; Wirkursache: der Dichter: in dessen Seele (wörtlich verstanden) muß die Form der Tragödie vorher gewesen sein; Zweckursache: Erzeugung einer ganz bestimmten Lust (mit Erschütterung, Katharsis ...) beim Betrachter. Dann noch ein Naturding: das Kamel; Materialursache: die für Säugetiere (Gattungsbegriff) üblichen chemischen Verbindungen bzw. dann die verschiedenen „Gewebe“ ...; Formursache: die Kamelform, die Kamelseele, die laut Aristoteles vom Vater kommt; Wirkursache: der Vater des Kamels, wir würden aber heute die Mutter ebenso nennen, von der ist nämlich auch die Kamelseele gekommen, außerdem direkt das Material für den Fötus, dann auch die Milch usw.; Zweckursache: wozu ein Kamel? Vielleicht als Nachwuchs für die Kamelfamilie oder als Nutztier für die „Kameltreiber“ oder als Schaustück für die Zoobesucher oder ...
Wir sehen, daß wir mit den „vier Ursachen“, wenn wir sie auf auf beide Sachbereiche, die Natur und die Kunst ausweiten, vom Hundertsten ins Tausendste kommen können: so gut wie alle Wissenschaften können damit beschäftigt werden.
Ist das die „gesuchte Wissenschaft“? Sie wäre dann nichts anderes als die „Enzyklopädie“ der Wissenschaften, wie sie im 18. Jahrhundert entworfen worden ist und seither öfter als „eigentliche“ Philosophie propagiert worden ist, sei es unter dem Motto „Positivismus“ oder „Einheitswissenschaft“ mit der Voraussetzung, Wissenschaft allein könne Erkenntnis und sogar Orientierung liefern.
Aristoteles ist hier von dieser Voraussetzung insofern nicht ganz weit entfernt, als er ja auf der Suche nach einer bestimmten Wissenschaft ist, die die Gesamtheit der schon bestehenden Wissenschaften abschließen und vervollständigen soll. Aber die gesuchte Wissenschaft soll über die bestehenden in einer bestimmten Richtung hinausgehen. In welcher Richtung? Suche nach den allerersten Ursachen, von uns aus gesehen nach den entferntesten (also nicht nur nach Vater, Großvater sondern Nochgrößervater ....), Suche nach möglichst wenigen Ursachen, Suche nach den am schwersten erkennbaren Ursachen.
Für diese Suche erhofft sich nun Aristoteles bei denen Hilfe, die ihm offensichtlich bei einer ähnlichen Bemühung vorausgegangen sind, und diese Vorgänger – in Sachen Ursachenfeststellung – charakterisiert er zweifach: sie sind zur Untersuchung der Seienden gekommen und sie haben über die Wahrheit philosophiert, noch wörtlicher übersetzt: sie haben um die Wahrheit herum die Weisheit geliebt (983b 2). Es werden also wie schon einmal (982b 11) frühere Philosophen als vertrauenswürdige Gewährsleute genannt – und dies, obwohl die gesuchte Wissenschaft bisher nicht als „Philosophie“ bezeichnet worden ist (damit würde sie ja einen schon bestehenden Namen bekommen). Vom Studium dieser Vorläufer erwartet sich Aristoteles entweder eine Bestätigung seiner eigenen bisher vorgenommenen Ursachenangaben oder deren Ergänzung und Erweiterung. Beides kann er sich nur erwarten, wenn die Aussagen dieser Vorläufer seriös, vertrauenswürdig, d. h. einschlägig und ziemlich „wahr“ sind, ungefähr so vertrauenswürdig, wie er seine eigenen Aussagen einschätzt: gleichrangige Aussagen. Diese Voraussetzung scheint Aristoteles stillschweigend zu machen; allerdings werden wir sehen, daß er bestimmte Aussagen der von ihm genannten früheren Philosophen doch kritisch betrachtet oder sogar ablehnt. Allerdings könnte es sein, daß für ihn auch eine derartige Diskussion bzw. Kritik einen sinnvollen Schritt innerhalb seiner Unternehmung darstellt und daß insofern auch die abgelehnten Positionen nützliche, nämlich von ihm ausgenützte Stützpunkte darstellen.
In Analogie zur Ursachenfeststellung, die auf Väter, Großväter usw. rekurriert, kann man sogar sagen, daß Aristoteles mit seiner theoriegeschichtlichen Exkursion, mit seiner Betrachtung von kollegialen Vorgängern die „Ursachenforschung“ auf die Ursachenforschung, nämlich auf die Theoriearbeit selber anwendet: Vortheoretiker als Vorgänger, Urtheoretiker als Ursachen.
In der doppelten Charakterisierung der Vorgänger können zwei Ebenen unterschieden werden: die „Betrachung der Seienden“ könnte man mit der Gesamtheit der bestehenden Wissenschaften identifizieren, das „Philosophieren über die Wahrheit“ hingegen als eine Art Meta-Tätigkeit, die mit der „gesuchten Wissenschaft“ gemeint ist. Wie das Philosophieren etwas anderes ist als das Betrachten, die Präposition peri eine andere Relation anzeigt als der schlichte Genitiv, so sind auch „die seienden Dinge“ von der „Wahrheit“ zu unterscheiden - vor allem dann, wenn man beim „logischen“ Begriff der Wahrheit bleibt: das heißt bei der Wahrheit als einer möglichen Eigenschaft von Aussagen.

Walter Seitter
eHgeH
HH

Donnerstag, 14. April 2011

In der Metaphysik lesen (983a 24-983b 2)

Nachdem Aristoteles sich schon in 982b 12 auf „die ersten philosophiert habenden“ bezogen hatte, kommt er in Kapitel 3 ausführlich auf diejenigen zurück, „die zur Untersuchung der seienden (Dinge) übergegangen sind und über die Wahrheit philosophiert haben“ (983b 3). Er schließt also seine jetzt „gesuchte Wissenschaft“ an die Tradition der (griechischen) Philosophie an, die zu seiner Zeit wohl schon fast 200 Jahre existiert hat – und doch mag er sich anscheinend nicht dazu entschließen, seine gesuchte Wissenschaft exakt mit jener „Liebe zur Weisheit“ zu identifizieren; er scheint irgendeine Abweichung im Sinn zu haben.
Seine Suche nach den „allerersten“ Ursachen, womöglich nach der „ersten Ursache“, differenziert er aber zunächst mit einer Überlegung zu den vier Bedeutungen des Wortes „Ursache“. Und diese Überlegung zeigt, daß der aristotelische Wortgebrauch von unserem heutigen oder sagen wir modernen doch ziemlich weit entfernt ist. Denn die erste Bedeutung oder die erste Art von Ursache ist die ousia oder das was-war-sein – also das Was, das Wesen, die Wesenheit einer Sache. Die ousia war uns schon in der Poetik begegnet: als Grundbegriff bei der Definition der Tragödie: auch die Tragödie „hat“ eine ousia. Die zweite Ursache heißt Stoff, Materie oder hypokeimenon: Substrat. Diese beiden „Ursachen“ sind offensichtlich keine der Sache äußerlichen Faktoren oder Urheber – sondern innere man möchte sagen innerste Bestandteile, eigentlich weniger Teile sondern Komponenten, Konstitutiva.
Abgesehen von diesem Gebrauch des „Ursache“-Begriffs ist die aristotelische Unterscheidung von „Stoff“ und „Form“ durch die neuzeitlichen Naturwissenschaften nicht „widerlegt“, wohl aber aufgegeben, verlassen worden. Wie Jonathan Lear schreibt: „Since the seventeenth century Western science has moved steadily away from conceiving forms as part of the basic fabric of the universe. It is thought that if we understand all the properties of the matter we will see form as emerging from these properties. It is important to realize that Aristotle’s world is not like that. In Aristotle’s world, forms cannot be understood in terms of matter. Forms must occupy a fundamental ontological position: they are among the basic things that are.“[1] Allerdings dürfte der Ausdruck „Materie“ in den beiden Kontexten oder „Welten“ nicht dieselbe Bedeutung haben und das, was Aristoteles „Wesen“ oder „Form“ nannte, dürfte etwa in der heutigen Biologie, die von genetischem Code, von Programmierung und Information spricht, wiederum auf Verständnis stoßen.[2] Im übrigen gab es den „Materialismus“, der die Körper nur aus der „Materie“ heraus erklären zu können meinte, auch in der Antike – so bei den ersten „Philosophen“, die Aristoteles sogleich nennen wird.
Nun aber zur dritten „Ursache“: das ist das, „woher der Anfang der Bewegung“ kommt; man nennt sie gemeinhin „Wirkursache“ und sie entspricht einigermaßen unserem heutigen Ursachenbegriff, überdehnt diesen aber doch auch etwas: so, wenn ich mich frage, was die „Ursache“ meiner Existenz ist, dann würde Aristoteles sagen, es sind zwei Ursachen: der Vater und die Sonne, wir würden eher sagen: die Mutter und der Vater. Und die vierte Ursache liegt teilweise auf der Linie, die durch dieses Beispiel evoziert wird: es ist das Weswegen und das Gute, welches das Ziel einer jeden Bewegung und Entstehung (Zeugung) ist. Damit sind einerseits die „Motive“, also Beweggründe menschlichen Handelns und Herstellens gemeint, aber auch die in allen Lebewesen wirkenden Teleologien der Entwicklung, des Wachstums usw. Wie schon erwähnt gibt es das „Gute“ für alle Tiere (und sogar Pflanzen), weil sie bestimmte Stoffe suchen, aufnehmen – und andere nicht.
Nun, was diese vier Ursachen betrifft, so verweist Aristoteles darauf, daß er sie in seiner Schrift Über die Natur ausführlicher behandelt hat, womit er wohl seine Physik genannte Vorlesung meint, vor allem das Zweite Buch. Darin werden die „biologischen“ Tatsachen zwar nicht allzuoft erwähnt, aber doch insoweit, daß man sagen kann, daß für Aristoteles die Lebewesen eine relativ hohe Realitätsschicht innerhalb der „Natur“ darstellen. Und direkt im Anschluß daran geht er dann zu seinen „philosophischen“ Vorgängern über. Was uns aber nicht daran hindern kann zu denken, daß seine Ausführungen über die vier Ursachen nicht direkt zu seiner „gesuchten“ Wissenschaft gehören. Die Physik wird ausdrücklich als eine schon gefundene, ja bereits ausgearbeitete Wissenschaft zitiert.
Was hat sie nun überhaupt mit der „gesuchten“ zu tun? Die Ursachenforschung hat sie offensichtlich mit ihr gemeinsam; aber innerhalb der Ursachenforschung beschäftigt sie sich mit Bereichen, die näherliegen, die leichtere Erkenntnisse ermöglichen. Um das zu verdeutlichen, komme ich wieder auf die Frage zurück, wo die Ursachen für meine Existenz (als Lebewesen) zu finden sind: die nächsten und nicht besonders schwer zu erkennenden Ursachen sind wohl meine Eltern – wobei zwischen der Erkennbarkeit der Mutter und der des Vaters bekanntlich schon gravierende Unterschiede bestehen (können). Da Aristoteles auf diese Frage nicht ganz einheitliche Antworten liefert, scheint sie für ihn auch nicht allzu „leicht“ beantwortbar gewesen zu sein.
In den Jahrtausenden nach Aristoteles haben sich in diese Frage unterschiedliche Komplikationen eingeschlichen, die so weit gingen, daß Sigmund Freud mit seinem Insistieren auf der Eltern-Kausalität eine gewisse Verstörung ausgelöst hat. Im Kielwasser Darwins hat er jede göttliche Urheberschaft für die Existenz des Menschengeschlechts und der Menschenindividuen aus der Wissenschaft ausgeschlossen. Und doch konnte er der Frage nicht jedes „religiöse“ oder „quasi-religiöse“ Gewicht nehmen: denn Mutter und Vater bekommen bei ihm eine geradezu unheimliche Übermacht über das entstehende Menschenindividuum zugesprochen, eine fast göttliche Allmacht, die sich in manchen Fällen – das sind dann die sogenannten „Fälle“ der Psychoanalyse – als verhängnisvoll und kaum abzuschütteln herausstellt (die psychoanalytische Kur bietet sich als Abschüttelungshilfe an).
Und Jacques Lacan hat diese freudsche sei es Entdeckung sei es Suggestion mit einem anderen Vokabular formuliert, vor allem mit seiner Begriffs-Trinität real, imaginär, symbolisch. Sowohl die Mutter wie auch der Vater existieren, so behauptet er, in jeder dieser drei Versionen - also "dreifaltig", und wirken, selbst, wenn sie schon längst vergessen oder verstorben sind, in irgendwelchen dieser Versionen nach, weiter, anscheinend „unsterblich“ oder unausrottbar.
Die Theologisierung der zwei sexuierten Eltern dürfte wohl ein Motiv für die Ausprägung der „heidnischen“, der polytheistischen Götter gewesen sein, womit die „ersten“ Ursachen in die Ferne gerückt werden, in der sie wohl auch von Aristoteles’ „gesuchter“ Wissenschaft gesucht werden – er hat ja „den Gott“ als eine vermutliche unter den „ersten“ Ursachen genannt. Die sogenannten „ersten“ oder gar „die erste“ Ursache sind „von uns aus gesehen“, als „von uns zu erkennende“ eher die letzten, die am schwierigsten erkennbaren.
Lacan hat die Eltern bzw. die Elternmacht nicht nur entschiedener terminologisiert, mystifiziert als Freud. Er hat sie deutlicher theologisiert, indem er die bei Freud noch gewahrte und in gewissem Sinn „heidnische“ Symmetrie zwischen Vatermacht und Muttermacht in eine Asymmetrie verschoben hat, die dem Vater eine fast „monotheistische“ Übermacht zuspricht. Übermacht einer einzigen ersten Ursache?
Gleichwohl ist bei den beiden Autoren, Freud und Lacan, auch eine gegenläufige Differenz zu beobachten. Freud war insofern ein Deutscher, ein Romantiker, als bei ihm das Denken des „Ursprungs“ in den vielen Wortbildungen mit dem Präfix „Ur“ zum Ausdruck kommt. Im vergangenen Oktober hielt ich auf der Thessalonicher Tagung, die dem „Ursprunghaften“ gewidmet war, einen Vortrag über die Ursachenlehre des Aristoteles, während der Pariser Psychoanalytiker Claude Duprat über das Ursprunghafte bei Lacan sprach. Ergebnis seiner philologischen Recherche: Lacan distanziert sich von Freuds Ursprungs-Obsession und zieht den nüchterneren und sachlicheren (eine Tautologie!) Begriff der Ursache vor – nicht ohne direkte Bezugnahme auf die aristotelischen Ursachen (bis hin zu den unnormalen Ursachen namens automaton und tyche).
Vorläufiger Kommentar zu Aristoteles’ Eingehen auf die – auf „seine“ – Physik. Es handelt sich dabei nicht um die von ihm jetzt gesuchte Wissenschaft, wohl aber um eine hilfreiche und sogar notwendige Vorstufe dazu. Denn, was er am Anfang der Physik sagt, gilt auch für das Verhältnis der Physik zu der jetzt gesuchten Wissenschaft, daß man nämlich von dem für uns besser Bekannten und Wißbaren ausgehen und zu dem übergehen soll, was an sich selber besser bekannt und wißbar ist.[3]
Walter Seitter


[1] Jonathan Lear: Aristotle: the desire to understand (Cambridgre 1988): 20.
[2] Siehe Jonathan Lear: op. cit.: 22f.
[3] Vgl. Aristoteles: Physik 184a 30.

Samstag, 9. April 2011

BARBARA EICHHORN: PIERRE KLOSSOWSKI

Im Frühjahr 2001 legte die Galeristin Christine König  der Zeichnerin Barbara Eichhorn eine Serie von Schwarz/Weiß-Fotos vor: Porträtaufnahmen von Pierre Klossowski, die wenige Wochen zuvor in Paris entstanden waren. Barbara Eichhorn schreibt dazu: "Was ich auf den Fotos sah und mich sofort in seinen Bann zog, war nicht der Ausdruck einer zweifelsohne großen Persönlichkeit, sondern vielmehr der Mensch als solcher: ein alter, fast zerbrechlich wirkender Mann jenseits seiner gesellschaftlichen und intellektuellen Bedeutung, an der Schwelle  zwischen Leben und Tod."

Kurz nach Fertigstellung der Porträtzeichnungen ist Pierre Klossowski in Paris gestorben (12. August 2001). Im September 2001 wurden sie, neben anderen Arbeiten von Barbara Eichhorn, in der Galerie Christine König gezeigt; die Ausstellung war Pierre Klossowski gewidmet.

Auf Anregung von Walter Seitter wurden die Zeichnungen in der Taschenbuch-Ausgabe von Pierre Klossowskis Roman-Trilogie Die Gesetze der Gastfreundschaft (Berlin 2002) veröffentlicht.








Barbara Eichhorn
P.K., 2001
Bunststift auf Papier, 150x115cm
Courtesy Christine König Galerie, Wien

Freitag, 8. April 2011

GLOSSE ZUR KOSMOPOLITIK


GEO 04/April 2011 bringt ein umfangreiches Dossier zur aktuellen Lage in der Geschichte der Nacht. Nachdem seit der vorderasiatischen und europäischen Antike immer wieder zur religiösen oder philosophischen "Verteufelung" der Nacht aufgerufen worden ist und seit dem 19. Jahrhundert nach Christus die technischen Aufwendungen zur Erleuchtung der Nacht immer erfolgreicher geworden sind, häufen sich nun unterschiedlichste (z. B. zoo- und humanpathologische) Auswirkungen dieser Art von Aufklärung. Eine sozusagen "theoretische" Auswirkung ist die zunehmende Verarmung und Verdrängung des sichtbaren Sternenhimmels - der einst die Menschen zu allerhöchstem Sehen, Schauen, Messen und Rechnen aufgerufen und aufgeweckt hat: zu äußerst physischer "Metaphysik", besser gesagt "Hyperphysik".

Europas irdische Sternenhäufung

Buchtipps: Th. Posch, A. Freyhoff, Th. Uhlmann (Hg.): Das Ende der Nacht (Wiley-VCH 2010); Walter Seitter: Geschichte der Nacht (Philo 1999); Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke (Fischer 2004).

Donnerstag, 7. April 2011

In der Metaphysik lesen (983a 11-23)

7. April 2011

Wozu führt es, wenn man die gesuchte Wissenschaft tatsächlich erreicht bzw. erwirbt? Zum Gegenteil der anfänglichen Verwunderung und Nachforschung, zu Nicht-Verwunderung und Nicht-mehr-Nachforschung. Aristoteles gibt drei Beispiele für Gegenstände oder Situationen, über die man in Verwunderung geraten kann: Wunderapparate, das könnten größere oder kleinere Theatermaschinen sein, Automaten, die irgendetwas Lebendiges simulieren; oder die Sonnenwenden, also die Umkehr der Tagverkürzung oder –verlängerung (21. März oder 22. September), oder die Inkommensurabilität zwischen Seitenlängen und Diagonale des Rechtecks. Die Verwunderung gerade über diese geometrische Tatsache könnte bei uns Erstaunen auslösen – weil wir sie irgendwann in der Schule schon gelernt haben (Pythagoreischer Lehrsatz), weil wir das also schon zu wissen meinen, und andererseits weil sie uns kaum so präsent ist, daß wir uns darüber wundern können. Man muß sich in das Problem schon sehr gründlich und genau hineingearbeitet haben, um da erstaunen zu können. Die Verwunderung ist da der Anfang der Forschung und der Impuls zu weiterer Nachforschung: Neugierde, Interesse, fieberhaftes Weitersuchen. Diese „erkenntnispsychologische“ Dramatik ist allerdings noch harmlos gegenüber der legendenhaft überlieferten erkenntnispolitischen Dramatik, welche mit der Entdeckung der Inkommensurabilität durch Hippasos von Metapont (Geheimnisverrat, Ermordung) verbunden gewesen sein soll.

Umschlag ins Gegenteil durch Nachforschen, Ersetzung der anfänglichen Vorstellungen durch „bessere zweite“ (983a 18): Gaston Bachelards Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis Frankfurt 1987) hat diesen Moment der Wissenschaft zum Thema gemacht.

Aber ist damit über den Erwerb der „gesuchten Wissenschaft“ etwas gesagt? Direkt überhaupt nichts. Denn alle Beispiele stammen aus Wissenschaften, „die es schon gibt“: eine poietische oder Technik-Wissenschaft für die Theaterautomaten, die Astronomie, die man der Physik zurechnen kann, für die Sonnenwenden, und für die Inkommensurabilität die Geometrie, die zur Mathematik gehört.

Heißt das, daß die gesuchte Wissenschaft noch so weit entfernt ist, daß man Beispiele für ihren Verlauf aus anderen Wissenschaften nehmen muß, oder daß die gesuchte Wissenschaft nur „mit“ oder „in“ den anderen Wissenschaften angefangen werden kann. Auch diese Wissenschaften suchen ja Ursachen für Erscheinungen oder Situationen auf. Wodurch unterscheidet sich die gesuchte Wissenschaft von den anderen, die „leichter“ sein dürften? In den letzten Zeilen von Kapitel 2 behauptet Aristoteles, er habe nun die „Natur“ sowie das „Ziel“ der gesuchten Wissenschaft dargelegt. Wirklich? Was er über ihr Gegenstandsfeld gesagt hat, läßt sich folgendermaßen resümieren: die ersten Ursachen und Gründe, und zwar eher wenige, das Gute bzw. das Beste als Handlungsgrund, der Gott (der selber auch Inhaber des gesuchten Wissens ist). Der Leitbegriff dürfte „Ursache“ sein, das Beste und der Gott müßten zu den Ursachen gehören, außerdem könnte es noch – wenige – andere Ursachen geben, bei denen man am ehesten an kosmologische denken mag; für das Gute als Ursache wird von Ivo Gurschler die Zeugung, also die geschlechtliche Vereinigung, als Ursache für neue Lebewesen (Menschen) vorgeschlagen. Sie entspricht tatsächlich dem Ursachen-Begriff und hat außerdem die Nähe zur Zoologie, die man auch Aristoteles unterstellt.

Die Gegenstandsangabe für die gesuchte Wissenschaft hat ein sehr vages Profil aus Kosmologie, Theologie, vielleicht Timologie (Schätzungskunde) – wenn überhaupt.

eHgeH

HH

Walter Seitter

Freitag, 1. April 2011

In der Metaphysik lesen (982b 25-983a11)

31. März 2011

Die „gesuchte“ Wissenschaft wird von Aristoteles in seine Wissenschaftsklassifikation eingeordnet. Um uns diese noch klarer zu machen, sagen wir, welche Wissenschaftsklassifizierung heute bei uns bekannt und üblich ist. Das wichtigste Schema ist die Zweiteilung von Natur- und Geisteswissenschaften, die aus dem späten 19. Jahrhundert stammt, weil sich die Geisteswissenschaften erst zu diesem Zeitpunkt (und nur im Deutschen unter dieser Benennung) etabliert haben. Historisch-philologische Wissenschaften, die auf der Grundlage alter Texte und anderer Monumente (Bilder, Bauten ...) vergangene menschliche Produktionen, Lebensweisen erforschen, beschreiben. Diese Zweieilung erfaßt aber längst nicht alle real existierenden Wissenschaften der modernen Zivilisation: wo ist der Platz der Sozialwissenschaften, zu denen man die Wirtschaftswissenschaft zählen kann? Welchen Aspekt fügen diese Wissenschaften zu der genannten Zweiteilung hinzu? Sie können den Aspekt der „Praxis“ nicht ganz ausschalten: gewirtschaftet wird so oder so, mit solchen oder solchen Ergebnissen, auch mit unterschiedlichen Interessen. Was begründet diesen Aspekt?

Der Grund des Praktischen berührt sich mit dem Grund, der noch ganz andere Wissenschaften bzw. Hochschullehren trägt, nämlich die Technikwissenschaften (wie baut man eine Brücke?) und die Lehren (Lehrtätigkeiten), die an Kunsthochschulen (ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert) installiert sind: wie macht man Gemälde, Musik, Theater? Diese Lehren haben bis heute nicht einmal einen Namen, der ihren wissenschaftlichen Charakter ausspricht. Denn das Wort „Kunstwissenschaft“ (zum Beispiel) wird zwar jetzt allmählich üblich – aber als eine rein theoretische Wissenschaft, ja als Theoretisierung der „Kunstgeschichte“, der ihr rein historischer Charakter allmählich fragwürdig wird. Diese „Kunstwissenschaft“ ist immer noch eine Wissenschaft von der Kunst. Die Kunstlehre an den Kunsthochschulen würde aber, wenn sie eine Wissenschaft sein soll, eine Wissenschaft „zur“ Kunst sein müssen: Wissenschaft dazu, wie man Kunst macht, machen könnte .... Etwas Analoges ist eher in der Medizin schon institutionalisiert, die ja in einer eigenen Fakultät etabliert ist, wo es „nur“ um Berufsausbildung, Ausbildung „zur“ Heilkunst, geht.

Wie stellt sich die aristotelische Wissenschaftsklassifikation dar, wenn man sie mit dieser unserer gegenwärtigen Wissenschaftsrealität konfrontiert? Eine Frage, die ein bißchen viel von ihr, nämlich von der aristotelischen Wissenschaftsklassifikation verlangt, denn die war ja eigentlich nicht dazu da, unsere gegenwärtige Wissenschafsrealität zu ordnen. Trotzdem meint Gesche Heumann: sie ist wissenschaftlicher. Ein hohes Lob, und ein verdientes. Ich sage etwas zurückhaltender: sie ist vollständiger. Zwei von den drei aristotelischen Wissenschaftsgruppen, die poietische und die praktische, operieren mit einem Zusatzaspekt zum Theoretischen, und den nenne ich den Aspekt des Wünschens, des Schätzens, des Forderns, des „Es-ist-nicht-egal-wie“. Dieser Aspekt begründet die Lehren zur Politik, zur Ethik, zur Medizin, zu den Künsten.

Im Moment greift er auch in die theoretischen, ja naturwissenschaftlichen Disziplinen über: die Ökologie, vor 130 Jahren rein „theoretisch“ erfunden, wird zu einer Wissenschaft des Normativen oder Optativen, die „Lebenswissenschaften“ nehmen diese Perspektive auf, etwa mit dem Begriff der „Nachhaltigkeit“, der sich theoretisch, also auch empirisch belegen läßt, und doch auch ein „Wunschbegriff“ ist.

Die Konzeption des Wünschens als Grund läßt sich daraus entwickeln, daß die Dimension des Normativen, die ja nicht ganz unbekannt ist, durch das Optative ergänzt wird: seinen Gegenspieler und „Kollegen“, denn beide gehen über das Faktische hinaus und zwar in dieselbe Richtung. Für die poietischen und die praktischen Wissenschaften ist das Optativ-Normative tragend, das Aristoteles mit dem Begriff des „Guten“ bezeichnet wird (wiewohl er auch die verbalen Ausdrücke wie anstreben, begehren, lieben, genießen kennt). Das praktisch Gute liegt im Handeln selber: freundschaftlich, gerecht handeln, miteinander agieren; das poietisch Gute liegt in einem Werk, das herzustellen ist: so ein Werk kann sein eine Gesundheit (wo vorher Krankheit war), ein Sieg (als Ergebnis eine gut geführten Krieges), eine schöne Statue, eine „gute“, das heißt richtig gemachte Tragödie. Beispiele für neuzeitliche Kunstlehren sind die sogenannten „Gastrosophien“ – eine davon von dem Italiener Pellegrino Artusi: Scienza in cucina e l’arte die mangiar ben (1891). Ohne einen vielfältig, d. h. analog vorausgesetzten Begriff des Guten gibt es weder Kunst noch Technik bzw. die Wissenschaften zu ihnen (Techniken sind Wunscherfüllungen – daher gibt es sie).

In den theoretischen Wissenschaften spielt das Gute nicht so eine dominante Rolle, aber auch da wird es von Aristoteles eingesetzt: für die gesuchte Wissenschaft sogar das höchst Gute (582b 7). In der anderen und besser zugänglichen theoretischen Wissenschaft, nämlich in der Physik ist das Gute oder der Zweck, das Worumwillen immerhin eine der vier Ursachen, wie wir bald sehen werden. Das widerspricht einigermaßen unserem neuzeitlichen Begriff von Physik, der sich nur auf Anorganisches bezieht. Für Aristoteles sind hingegen die Lebewesen die zentralen Entitäten der „Physik“ – und die sind nun einmal Wunschwesen, Schätzwesen, Entscheidungswesen: sie nehmen auf, was ihnen gut tut, sie weisen ab oder fliehen, was ihnen schlecht tut (das gilt auch für die Pflanzen, deren Außengrenze ventilartig Aufnahme einschaltet oder ausschaltet). Und wenn sie vergewaltigt, gezwungen werden, etwas Ungutes aufzunehmen, werden sie krank oder sterben vorzeitig.

Dieser animalische Aspekt wird erst bei Nietzsche und nach ihm bei Plessner wieder voll ernstgenommen, auf andere Weise bei Freud – und zwar für die Anthropologie im weiteren Sinn.

Zurück zur aristotelischen Wissenschaftsklassifikation. Auch wenn sie die Technikwissenschaften und die Kunstlehren viel besser begreifen läßt als die bisherigen modernen Wissenschaftskonzeptionen, so kann sie doch nicht das Gesamte der heutigen Wissenschaften umgreifen: gerade nicht die sogenannten Geisteswissenschaften (die sich zur Zeit in Kulturwissenschaften umbenennen, um ihrer angeblichen Immaterialität zu entkommen). Zwar gab es die Geschichtsschreibung auch schon zur Zeit des Aristoteles, aber sie fand damals und auch später in der Antike und im Mittelalter kaum einen Platz im System der Wissenschaften: eben weil sie sich aufs Individuelle konzentriert (wie Aristoteles in der Poetik ja betont hat). Die historischen Wissenschaften wurden erst im späten 19. Jahrhundert wissenschaftstheoretisch reflektiert und definiert – hauptsächlich in Deutschland.

Und jetzt zurück zu unserem Text, wo die gesuchte Wissenschaft in mehreren Hinsicht als die „höchste“ programmiert wird. Dies auch in einem „politischen“ Sinn: als um ihrer selbst willen gewünschte und realisierte Wissenschaft soll sie frei und nicht knechtisch – nicht irgendeinem anderen Zweck untergeordnet, dienlich, nützlich. Im Jahre 1970 sprach Jacques Lacan, als er den sogenannten Diskurs der Universität definierte, den Satz aus: „Das Wissen ist eine Angelegenheit des Knechts“ – womit Hegels Herr-Knecht-Dialektik paraphrasiert wird. Aristotelisch mag das für gewisse Wissenschaften gelten, aber nicht für die theoretischen. Allerdings macht sich Aristoteles selber einen Einwand – einen gewissermaßen „religiösen“. Die mythische Vorstellung vom Neid der Götter gegen allezu mächtige Menschen (siehe Prometheus) oder einfach die Einsicht in die „knechtische Natur“ des Menschen, also die Einsicht in das unaufhebbare Gefälle zwischen Göttern und Menschen, scheint so eine Wissenschaft wie die gesuchte als menschenunmöglich, als Hybris, zu verbieten. Die gesuchte Wissenschaft beansprucht nicht nur, von Gott als von einer Ursache ein Wissen zu haben, sondern eben damit auch, diejenige Wissenschaft zu sein, die nur der Gott haben kann. Werden „wie Gott“. Dieser allerhöchste Anspruch wird jedoch von Aristoteles nicht verworfen, er nimmt die Göttlichkeit in jedem Sinn des Wortes für die gesuchte Wissenschaft in Anspruch, weil er tatsächlich den Superlativ des Guten im Auge hat und anstrebt. Gleichzeitig setzt er diese gesuchte Wissenschaft in einer anderen Hinsicht auf den letzten Platz: in der Hinsicht der Notwendigkeit. Notwendiger als die hier gesuchte Wissenschaft sind mit Sicherheit die poietischen Wissenschaften (die zur Heilkunst, Kriegskunst, Statuenkunst usw. führen sollen), ebenso die praktischen, vielleicht sogar die Physik (obwohl die als theoretische Wissenschaft gilt). Diese notwendigeren Wissenschaften sind also keineswegs unwichtig, sie sind sehr wohl auch gut, aber eben nicht ganz so gut, edel, vornehm, frei. Die gesuchte Wissenschaft soll nicht deswegen gut sein, weil die anderen ungut, unwichtig sind. Nicht nur mit ihrer eigenen kognitiven Leistung macht sie es sich „schwer“, sondern auch mit ihrem Bestsein: noch besser als andere gute sein.

Die drei Wörter in 983a 11: „besser aber keine“ drückt den Superlativ für die gesuchte Wissenschaft aus, und nicht etwa ein postmodernes „alle sind gleich gut“. Diese letztere Lesart ist nur möglich, wenn man nicht liest.

Der Exkurs zum Göttlichen ist eine Art „Hochsprung“, der zunächst folgenlos bleibt und keineswegs einen Übergang in „Theologie“ herbeiführt. Im Grunde genommen steigert er nur eines: das Hin und Her, das Holprige der Suchbewegung, mit der die gesuchte Wissenschaft umrissen werden soll. Das einzige, was wir bisher von ihr erfahren, ist ihr hoher, ja allerhöchster Anspruch. Und weil der so hoch ist, gestaltet sich seine Einlösung weiterhin langwierig, umständlich und vielwegig. Zunächst wird der Weg durch die Niederungen der Physik führen. eHgeH

HH