τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Dienstag, 12. April 2022

In der Metaphysik lesen (1079a 13 – 1079b 3)

 6. April 2022

 

 

Neulich kam mir zu Ohren, das Metaphysik-Lesen sei langweilig.

Wenn jemand einen solchen Eindruck gewonnen hat, wird man sich nicht wundern, daß er dieses Lesen abbricht. 

 

Aber der Aussage wird man trotzdem zustimmen müssen. Denn der Text ist umständlich aus unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt. Man sieht nicht leicht, wie diese Teile zusammengehören. Zwei der insgesamt 14 „Bücher“ folgen nicht dem Texttyp „Abhandlung“ – sondern sind als „Listen“ arrangiert: Liste der Aporien (mitsamt von Auflösungen), Liste von Begriffen (mitsamt deren Analysen). Irgendwo im Buch XI wird so etwas wie eine Theologie angekündigt, nachdem in ungefähr sieben Büchern eine Wissenschaft vom Seienden als Seienden lang und breit auseinandergelegt worden ist – diese beiden Themengebiete werden aber nirgendwo klar voneinander abgesetzt. So bleibt die Themenstellung insgesamt unklar.

 

Und das alles trägt dazu bei, daß der Leser kaum einen roten Faden findet, er tappt von einem Abschnitt zum nächsten, es baut sich kaum eine Spannung auf, die den Leser vorwärts treibt, die Lektüre wird als langweilig, weil langwierig empfunden und höchstens irgendein Pflichtgefühl mag den Leser dazu anhalten, weiter zu lesen, um zum Ende zu kommen.

 

Genau mit so einem Vorsatz vergibt man sich die Chance, die das Langwierige bietet: nämlich sich in den Text hineinzubohren, indem man das Weiterlesen mit Rücksprüngen „aufhält“. 

Was ich mit den Kürzeln UB oder DD bezeichnet habe und mit einer Litanei von emblematischen Ausdrücken auseinandergefaltet habe, das ist im Buch XII mit vielfältigen begrifflichen Bestimmungen geradezu plastisch als eine komplexe Instanz charakterisiert worden.

 

Eine dieser Bestimmungen geht dahin, daß das UB als „gleichsam Geliebtes“ motiviert und insofern bewegt, mitverursacht, anstößt. Auch diese Bestimmung läßt sich mit neueren theoretischen Modellen assoziieren – etwa solchen von Jacques Lacan, der bestimmte „Objekte des Begehrens“ zu „Ursachen des Begehrens“ erklärt. Solche Objekte können menschliche Personen und deren Teilaspekte, Ideale, verkündete Gottheiten, Institutionen, Fetische und so weiter sein. Zum Beispiel machen sie verrückt – und wenn sie verrückt machen, dann verrücken sie, das heißt sie bewegen wirklich. Sie bewegen die Begehrenden in die Staatsoper, ins Fußballstadion, sie bewegen kriegswillige Menschen in den Krieg und so weiter. 

Eine präzise Darlegung der einschlägigen Lehre von Lacan wäre umso erwünschter, als Lacan zu den wenigen gehört, welchen die vertrackte Anziehungs- und Abstoßungskraft der aristotelischen Metaphysik nicht unbekannt ist. Er selber fühlte sich angezogen. Außerdem war er ein Anziehender, der den Titel sujet supposé savoir, eine Variante auf DD, vor allem für sich selber erfunden hat.

Ich hoffe, ich drücke mich nicht zu esoterisch aus - aber ganz ohne Esoterisches geht es in der Angelegenheit wohl doch nicht.

Gegen die platonischen oder platonistischen Annahmen, es gebe von allem, was Gegenstand einer Wissenschaft sein könne, „Formen“ im Sinne existierender Ideen, wendet Aristoteles ein, daß es dann auch von Verneinungen und von zerstörten Dingen derartige „Formen“ geben müßte. Und daß die Anhänger der Ideenlehre dann gegen ihre Lehrmeinung die Zahl für wirklicher halten müßten als das an sich Existierende. 

 

Noch einmal ruft er in Erinnerung, was einer bestimmten Vorstellung vom Denken des Aristoteles zu widersprechen scheint: „Wissenschaften gibt es nicht nur vom Wesen.“ (1079a 23)

Eine Aussage, die die Reichweite der Wissenschaften fast unbegrenzt auszudehnen scheint. Jedenfalls weit über das hinaus, was als das aristotelische Hauptthema gilt.

 

Daraus können wir schließen, daß in extensionaler Hinsicht die Wissenschaften das bezeichnen, womit Aristoteles seine eigene professionelle Tätigkeit definiert. Was man auch so verstehen kann, daß sich Aristoteles zunächst einmal als Wissenschaftler, ja als Erfinder von Wissenschaften verstanden hat. 

 

Und zu Beginn von Buch XIII haben wir mit den mathematischen Gegenständen schon Dinge angetroffen, die keine Wesen sind, aber sehr wohl Gegenstände einer Wissenschaft, die in der aristotelischen Wissenschaftsordnung einen fest bestimmten Platz innehat.

 

Er unterscheidet drei große Wissenschaftsgattungen, die sich durch ihre Zweckbestimmung, also ihre Beziehungen zur Lebenswelt, stark voneinnander unterscheiden. 

Die erste Gattung bilden die theoretischen Wissenschaften, das sind diejenigen, die auch in die moderne Wissenschaftsordnung (seit dem 19. Jahrhundert) übernommen worden sind. Es sind folgende:

 

Physik

 

Mathematik

 

Theologie

 

 

 

In dieser Reihenfolge werden sie im Buch VI und im Buch XII genannt. Physik und Mathematik werden als bekannte Wissenschaften vorausgesetzt - Physik als die von Aristoteles selber neu geschaffene Wissenschaft von den Körpern, Mathematik als die überlieferte Grundlagen-Disziplin. Die 3. theoretische Wissenschaft war das große aristotelische Projekt, das zwar gewisse ältere Vorläufer hatte aber erst vom älteren Aristoteles in Angriff genommen worden und nicht vollendet worden ist. Daß sie als „Theologie“ bezeichnet wird, ist eher als Verlegenheitslösung zu betrachten, denn in der großen Textmasse sind kaum mehr als zehn Seiten dem Göttlichen gewidmet, welches mit einer neuen Begrifflichkeit beschrieben wird, die ihrerseits viele Jahrhunderte später „Ontologie“ genannt werden wird. 

 

Das gesamte Werk, das Ontologie wie auch Theologie enthält aber kaum deutlich unterscheidet, wird erst im 1. Jahrhundert ediert und bekommt den Titel „Metaphysik“. Dieses Sammmelsurium erhält von Aristoteles sogleich den Ehrentitel „Erste Philosophie“, während die 1. theoretische Wissenschaft, also die Physik, auch „Zweite Philosophie“ genannt wird. Die Benennungen und Reihungen überkreuzen sich also und sie erweitern sich noch durch die praktischen sowie die poietischen Wissenschaften. 

 

Praktische Wissenschaften

 

Ethik

Politik

Ökonomik

Rhetorik

Strategik

 

Poietische Wissenschaften

 

Poetik

Musiklehre

Baukunde

Heilkunde

  

Die praktischen und die poietischen Wissenschaften bilden gegenüber den theoretischen Wissenschaften andersartige Wissenschaftsgattungen: sie haben eine andere Zweckbestimmung: sie zielen nicht auf das theoretische Leben sondern sie haben praktische Leistungen, also gutes menschliches Zusammenleben, oder aber poietische Leistungen, also die Erzeugung nützlicher oder schöner Dinge, zu fördern. Der Titel „Philosophie“ wird den praktischen Wissenschaften zugesprochen (die folglich als „Philosophie der menschlichen Angelegenheiten“ gelten), den poietischen eher nicht. Darüberhinaus gibt es noch die logischen Disziplinen, die kaum als Wissenschaften und schon gar nicht als Philosophien geführt werden (was in späteren Rezeptionen ganz anders gehandhabt werden wird (Fritz Mauthner hat sein Aristoteles-Trauma wohl aus der Logik bezogen, bis zur Metaphysik kam er gar nicht)). Und dann noch die zoologischen Bücher, die der Physik nahestehen aber nicht zur Philosophie gezählt werden.

 

 

 

Was sind die Nicht-Wesen, von denen es auch Wissenschaften gibt? Es sind die Akzidenzien, die bei allen körperlichen Wesen dazukommen, etwa bei den Menschen und Tieren. Der amerikanische Übersetzer nennt hier als Beispiel den Apfel, über den sich vieles wissen läßt bis hin zu seinem Einsatz in der Kochkunst (und der analog in anderen Körpersorten ebenfalls vorkommt, welche wiederum von anderen Wissenschaften betreut werden).[1]

 

Akzidenzien, die vor allem in den praktischen und poietischen Wissenschaften wichtig sind, in denen es um kontingente Handlungen geht, welche gerechte oder ungerechte Eigenschaften haben, angenehme oder unangenehme, schöne oder schlechte Wirkungen erzeugen. 

 

Das Akzidens, das von Aristoteles hier erwähnt wird, nämlich die Zweiheit, verhalte sich als solche unabhängig davon, ob sie als vergängliche oder als ewige angesetzt wird (wie bei Platon, der sie als eines der beiden höchsten Prinzipien aufgestellt habe): wenn sie als Gemeinsames bei einem x und bei einem y erblickt wird, kann sie als solches zur Kenntnis genommen werden.

 

Nächste Sitzung am Mittwoch, dem 27. April 2022

 

Walter Seitter

 

 

 

[1] Siehe Paul Sachs, op. cit.: 261.

Montag, 4. April 2022

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 11 (63vC - 64rD)

  

30. März 2022


 

In dem von mir vorgelesenen Abschnitt, der von Burnett mit „Art des Aufbaus“ übertitelt wurde, beschreibt Hermann die Schaffung der Sphären des Himmels. So beginnt der weiseste Handwerker zuerst mit dem Zeichnen von Linien und Kreisen, worauf dann diese Zeichnung zur Schaffung der ersten Sphäre herangezogen und umgebogen wird. Dabei bleibt eine unbewegte Achse und ein Wendepunkt in der Mitte als Ruhepunkt oder Anker bestehen, der auch die Bewegungen der Extremitäten beschränken soll. Allein aufgrund dieser Erwähnung des Unbewegtseins der Achse hat man das Gefühl, das hier eine Nachbildung des aristotelischen unbewegten Bewegenden vorliegen könnte, zudem, weil es heißt, dass diese Achse sowohl Anfang wie das Erhaltende als auch das Ende aller Bewegung wäre. Dazu wird von Hermann ein Satz aus der „Spaerica“ des Theodosios von Bithynien zitiert, den ich so übersetzt habe, „Alles bewegt sich über dieses, aber es selbst ist unbewegt.“

Daran moniert Walter Seitter das männliche Geschlecht des ipse und des hunc im lateinischen Original, was stimmt, aber ich war wohl noch im Eindruck des sächlichen „unbewegt Bewegenden“ gefangen und habe auch auf die englische Übersetzung geschaut, daher habe ich das Geschlecht verändert. Wenn sich Hermann auf den Wendepunkt (cardo) bezieht, so ist dieser im Lateinischen männlich, wenn er sich auf das Erhaltende (sustentaculum) beziehen würde, wäre es sächlich. Das Insistieren auf das falsche Geschlecht ließ mich etwas in Sorge ob der Qualität meiner Übersetzung geraten und ob ich geeignet wäre, damit fortzufahren.

Nach Überwindung der gröbsten Selbstzweifel war ich imstande im Text fortzufahren, es war die Bildung der zweiten Sphäre an der Reihe, die vom Schöpfer analog zur ersten mit einer Zeichnung begann, und darauf wird die Sphäre gebildet, die an der Innenseite der ersten Sphäre anstößt und zu dieser in einem spitzen Winkel geneigt ist. Hier macht Hermann eine kurze Bemerkung über Thelesmatiker, die eine andere Auffassung der geneigten Sphäre hatten oder diese gar nicht kannten, genaueres spricht er aber nicht an.

Die erste Sphäre ist mit der Autorität der Bewegung Desselben ausgestattet, während die zweite die Amtsgewalt über die Verschiedenen übertragen bekommt. Hermann nennt die erste Sphäre „Mutter von allem“ ohne weitere Gründe, man kann immerhin an das grammatikalische Geschlecht von sphaera denken, das weiblich ist. Damit Hermann die Hierarchie der Amtsgewalten auch absichert, stellt er noch fest, dass die erste Sphäre die Autorität über die ganze Verschiedenheit der anderen Bewegungen besitzt, und dass die Gleichförmigkeit und Abweichung der Kreisbahnen auch von der Astronomie bestätigt werden.

In dieser zweiten Sphäre befinden sich die tropica – Wendepunkte der Sternbilder und außerdem ist jeder Quadrant der Sphäre noch in drei Zwischenräume geteilt, in die dann die vier Samen der Verschiedenheit platziert werden. Darin wird Hitze und Trockenheit, seinen Naturen entsprechend, gemäß eines gleichseitigen Dreiecks, das in einem Kreis eingeschrieben ist, in der Sphäre verteilt. Die sich daraus ergebene Anordnung wird mit Figuren und Namen gekennzeichnet.

 

Es wird noch eine dritte Sphäre gebildet, die zwar von der zweiten Sphäre abhängig ist und damit auch von der ersten, zumindest was die Wirkkraft betrifft. Diese dritte Sphäre besitzt dennoch eine gewisse Selbständigkeit und Kraft. Es gibt auch einen Grund, der im Aufbau der Körper liegt, der im äußeren Extrem vollendet werden soll. Es ist nämlich so, dass ein Körper im Durchgang in der ersten Abgrenzung die lineare Essenz, in der zweiten Abgrenzung die flächige Essenz und in der dritten die fest-körperliche Essenz erhält.

Ich möchte hier einmal an die Bedeutung des lateinischen Wortes Dimension erinnern, das zweifache Vermessung heißt. In diesem Textabschnitt bewegen wir uns mit Hermann noch weitgehend im Bereich der Astronomie, und die Astrologie ist nur im Hintergrund spürbar als Wirkkraft, die durch alle Sphären strömt oder als Figuren im Wendekreis der Sternbilder. Noch dazu war die deutliche Trennung zwischen Astronomie und Astrologie zu dieser Zeit noch nicht vorhanden, sondern beides Aspekte eines gemeinsamen Betätigungsfelds. Die Astrophysik lag noch nicht in gedanklicher Reichweite.

 

Karl Bruckschwaiger

 

 

Nächster Termin: Aristoteles, Metaphysik XIII, ab 1079b, 13