τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Sonntag, 30. Januar 2022

In der Metaphysik lesen (1077a 1 – 14)

26. Jänner  2022

 

Wenn Aristoteles jetzt versucht, die Seinsweise der mathematischen Entitäten zu bestimmen, so wendet er sich einer Wissenschaft zu, von der er weiß, daß sie älter ist als die Griechen, folglich auch älter als die Philosophie, und daß sie geographisch anderswo ihre Anfänge hatte. In seiner eigenen Wissenschaftsklassifikation gehört sie zu den theoretischen Wissenschaften, unter denen sie jeweils an zweiter Stelle gereiht wird, nach der Physik und vor der sogenannten Theologie. Der Ehrentitel der Philosophie bleibt ihr versagt, der Grund dafür kommt in den momentanen Überlegungen zur Sprache: es feht ihr an Realitätsgehalt, genauer gesagt: an Existenzvermögen. Dem gegenüber bekommt die Physik den Titel einer „Zweiten Philosophie“. Während die drittgereihte Theologie zur „Ersten Philosophie“ ernannt wird.

Aristoteles operiert also mit Nummerierungen, die nicht unbedingt als Benennungen taugen.

 

„Erste Philosophie“ scheint dennoch als Benennung geeignet zu sein, weil die Titulierung als „Theologie“ nicht ganz ernstgenommen werden kann: nicht einmal zehn Seiten von über dreihundert sind der theologischen Thematik gewidmet.

 

Fast alle anderen lassen sich eindeutig einer Thematik zuordnen, für die Aristoteles keine Benennung, wohl aber die Umschreibung „Wissenschaft vom Seienden als seienden“, einführt. Aber er kann sich kaum dazu durchringen, die theologische und die ontologische Thematik deutlich zu unterscheiden – am ehesten noch im neulich erwähnten Buch XI.

Die von Aristoteles hinterlassene Textmasse, welche diese Titelnot sowie auch andere Zeichen der Nicht-Vollendung trägt, ist dann 300 Jahre nach seinem Tod notdürftig geordnet sowie mit einem Titel versehen worden: Metaphysik, welcher nun seit 2000 Jahren sein wechselhaftes Eigenleben führt und den ohnehin schwierigen Text in Geiselhaft genommen hat.

 

Derjenige, der das mit größerer Deutlichkeit als die professionellen Aristotelesexegeten gesehen und gesagt (also gedacht) hat, ist der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, den in ich in meinem Buch zitiere.[1] Er verweist auf das übermäßige Mißverhältnis zwischen Bezeichnen und Bedeuten, welches die Metaphysik mehr und mehr zu einem Monstrum hat werden lassen, das als solches gesehen werden muß, um überhaupt noch etwas zu zeigen.

 

Die erwähnte Hauptthematik des Werkes hat dann noch einmal ein paar Jahrhunderte später, um 1600 nach Christus, von einigen deutschen Gelehrten den Titel „Ontologie“ bekommen – sodaß sich in diesem Buch zwei unbescheidene Thematiken und sogar zwei postaristotelische Titel den Textraum streitig machen.

 

Sie überspannen auch den Charakter des Theoretischen beziehungsweise sie können nicht verheimlichen, daß Theorie notwendigerweise auch nicht-theoretische Voraussetzungen hat – nämlich praktische und poietische Dimensionen, die Aristoteles anderen Wissenschaftsgattungen zuweist. Die minimale praktische Voraussetzung der Theorie heißt schlicht gesagt Neugierde, die poietische ist die Formulierung – und diese beiden drängen in der sogenannten Metaphysik zum Erscheinen, obwohl sie vom Text offiziell unter Verschluß gehalten werden. (Anregungen in dieser Richtung habe ich bei Rainer Marten: Denkkunst. Kritik der Ontologie gefunden)

Wenn unsere Lektüre sowohl für die Neugierde wie auch für die Formulierung ein Gespür entwickelt, könnte sie in der langwierigen Geschichte der Metaphysik einen Ruck ermöglichen.

 

Weiter lesend sehen wir, daß Aristoteles auf die 5. Aporie im Buch III zurückgreifend (dieses Buch hat das gesamte Werk im Aporien-Modus entworfen und es ist immer noch die Frage, ob das Werk aus diesem Modus herauskommt), daß er also von der Seinsweise der mathematischen Entitäten zu den Entitäten der Astronomie übergeht, das sind die Himmelserscheinungen, die mathematisch behandelt werden, aber dennoch tatsächlich existierende Gegenstände sind – allerdings hält Aristoteles sie für ewig und göttlich, weil sie von der Erde so weit entfernt seien.

 

Die mathematischen Entitäten, denen Aristoteles die Existenz abspricht, setzen andere Entitäten voraus, denen sie nicht abgesprochen werden kann.

 

Ähnlich steht es mit den Wissenschaften Optik und Harmonik, die mathematische Gesetzmäßigkeiten darstellen, welche selber nicht im vollen Sinn existieren und die wiederum andere Entitäten voraussetzen, die ebenfalls nicht im vollen Sinn existieren, nämlich das Sehen und die Stimme – die allerdings sehr wohl existierende Dinge voraussetzen: zum einen die gesehenen Dinge und die sehenden Dinge, zum anderen die gehörten Dinge und die hörenden.

Die anderen Wahrnehmungsformen erwähnt Aristoteles nur pauschal, aber es ist klar, daß er von der Ebene der mathematischen Gesetzmäßigkeiten aus den Raum der Wahrnehmungswelt aufspannt und als deren subjektiven Pol die Wahrnehmer nennt, die er pauschal als die „Lebewesen“ bezeichnet, weil der angebliche Metaphysiker in Wahrheit eher ein Physiker (im antiken Sinn) ist, der die Tiere nicht ausschließt, wenn sie nach naiver antiker Auffassung einfach dazu gehören.

 

Dann ein Satz, den ich eigens wörtlich zitiere, d. h. wiederhole, damit der Leser die Chance wahrnimmt, ihn in seiner Prägnanz – und Kargheit – anzuschaun: „Weiter werden von den Mathematikern noch einige allgemeine Sätze über diese Wesen hinaus graphiert, geschrieben, aufgestellt.“ (1077a 9) Die Mathematiker schreiben alle möglichen Dinge an die Tafel, wobei sie über die Ziffern, die Zahlwörter und die Begriffe der Umgangssprachen hinaus alle möglichen lateinischen, griechischen und so weiter Buchstaben einsetzen, sogar neuartige Grapheme erfinden, weil die Wissenschaft so ein Zeichenvulkan ist, der noch länger als andere Vulkane explodiert und die Welt mit ihren Auswürfen überschwemmt.

 

Aristoteles akzeptiert selbstverständlich diese Vorgangsweise der Mathematiker. Er selber praktiziert eine ähnliche Begriffsvermehrung auf seinen ähnlich gearteten Fachgebieten (Logik, Ontologie) und er sagt: es ist unmöglich, daß solche Sachen wie Punkt, Größe, Zeit abgetrennt, extra neben den wahrnehmbaren Dingen existieren. Mit den wahrnehmbaren Dingen meint er jetzt nicht die graphischen Zeichensetzungen – die sind natürlich auch wahrnehmbar: allerdings an den jeweiligen Schreib- oder Schrift- oder Textkörpern.

 

Wenn er an dieser Stelle die „wahrnehmbaren Dinge“ irgendwie konkretisiert hat, dann mit dem meinetwegen banalen Wesensbegriff „Lebewesen“.

 

Die Haupttendenz liegt hier darin, begriffliche Bestimmungen nicht zu existierenden Wesen zu ernennen, sondern sie auf ihre jeweilige Funktion festzuschreiben. Also keine Hypostasierung, keine Substanzenvermehrung! Mit dieser Sorge nimmt Aristoteles eine jahrhundertelange Angst vor der scholastischen Begriffshypostasierung vorweg, welche man allerdings zuvörderst ihm selber unterstellt hat.

 

*

 

Am Schluß komme ich auf die etwas übermütige Bemerkung im letzten Protokoll zurück, die von der Vermutung inspiriert ist, die Metaphysik müßte, auch wenn sie nur eine theoretische Wissenschaft sein sollte, doch auch poietische Anteile enthalten, da sie ja geschrieben, komponiert, formuliert sei: daß ich mir auch künstlerische Reaktionen auf diesen Text wünschen würde. Susanne Schick und Karl Bruckschwaiger meinen aufgrund ihrer künstlerischen Erfahrungen, daß sie Übertragungen der Metaphysik in mimetische, skulpturale, literarische Medien für möglich halten. So etwas hat schon Jacques Lacan ins Auge gefaßt.

 

Walter Seitter




[1] Siehe Walter Seitter: op. cit.: 43.

Freitag, 28. Januar 2022

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 6 (60vC -61vB)

 19. Jänner 2022

 

In der im letzten Hermesprotokoll zur Hermann-Lektüre zitierten Stelle aus Aristoteles „Über Werden und Vergehen“ 316a, 5ff hatte er die Verwendung zu vieler logischer Argumente und den damit verbundenen Verzicht auf Erfahrung für die geringere Fähigkeit gesehen, die zusammengehörigen Konsequenzen einer Argumentation zu überblicken.

Es geht um die Entstehung der Körper aus kleinsten Größen. Dabei führt uns Aristoteles in eine Aporie der unendlichen Teilbarkeit, wobei kein Körper mehr übrigbleibt, sondern nur mehr Ungrößen wie eben Punkte und Linien, wobei sich die Unmöglichkeit der Entstehung von Körpern aus ungeteilten Nichtgrößen ergibt.

„Wenn aber freilich kein Körper und kein Größe mehr übrig sein wird, wohl aber die Teilung existiert, wird er aus Punkten, somit aus Ausdehnungslosen (amegéthe) zusammengesetzt, oder gänzlich nichts sein, so daß er, wenn er aus Nichts würde und zusammengesetzt wäre, auch insgesamt nichts, sondern (bloß) Erscheinendes wäre.“ Aristoteles, De gen. et corr., 316a, 26-29

 

Mit solchen Elementen ohne Größe (was amegéthe wörtlich bedeutet) und ohne Körper beschäftigt sich auch Hermann, wenn er sich mit der Zusammensetzung der ersten Samen befasst. Nur treibt er die Konsequenzen der unendlichen Teilbarkeit nicht in die Aporien wie Aristoteles. Er spricht von den Samen als Erste in der Zusammensetzung und als letzte in der Auflösung, aber am Ende stehen die Mischungen aus den einfachen Elementen, die nicht weiter aufgelöst werden können. Er führt zwar noch andere Namen an wie das Allgemeine Einzelne oder das kleinste Teilchen, aber am Anfang der Zusammensetzung steht die „Mischung“.

Im Versuch die Frage, was die einfachen Elemente der Dinge sind, zu beantworten, weicht Hermann in die Darstellung der Ansichten der medizinischen Autoren aus. Einerseits sieht er, dass Teilungen wieder nur zu Körpern führen und deswegen meint er, dass die Erkenntnis der Elemente nicht durch Teilung geschehen kann, weil sonst eine Wegführung ins Unendliche droht. Deswegen der Halt bei den Mischungen.

Dann kommt er zu Anschaulichem, wie der Kühle der Erde und der Feuchte des Wassers und kritisiert die Vier-Elemente-Lehre der medizinischen Autoren, die diese Elemente einerseits als einfache Wesen verstehen, andererseits jedes einzelne Element aus den anderen gefertigt ansehen. Das bedeute für Hermann zuviele Ursprünge anzunehmen.

 

Die Argumente der Astrologen zu der Entstehung der Dinge bringen 8 weitere Elemente der oberen Welt ins Spiel, die als erzeugende und nährende Ursachen für die weltlichen Dinge hinzutreten. Diese Elemente sind rein und beständig und nicht die direkten materiellen Ursache der Dinge, aber sie bestimmen doch die natürliche Zusammensetzung der Dinge selbst.

Nach dieser Einflusstheorie der Entstehung der Dinge von Oben und Unten wendet sich Hermann der Körperlichkeit der Elemente selbst zu. Am Anfang wurde alles aus dem Nichts gemacht, aber nicht ohne Plan. Den Plan gilt es zu erkennen, und es gibt dabei Einzelne, die dasselbe sind und Verschiedene, die die Körper sind. Obwohl Ursprung des Verschiedenen sind dieselben Einzelnen nur unkörperlich.

Trotz dieser Voraussetzungen sucht Hermann eine Entstehung der Körper aus etwas Unkörperlichen zu umgehen, als würde er Aristoteles in einer Parallelbewegung folgen, der es aporetisch mit der Addition von Punkten zeigen möchte, das dadurch kein Körper entstehen kann.

„Wenn es aber kein Körper ist, sondern eine Art trennbare Form oder eine Beschaffenheit, die wegfiel, und die Größe in Punkten oder Berührungen besteht, die diese Beschaffenheit haben, bleibt doch ungereimt, daß aus Nichtgrößen Größe sein soll.“ Aristoteles, De gen. et corr., 316b, 2-5

 

Bei Hermann wird die Lösung aus dem Dilemma der Entstehung der Körper aus etwas Unkörperlichem darin gefunden, das er keine Übertragung der Form annimmt, sondern eine Gestaltung der Materie sich vorstellt, in der Art, dass etwas Formloses irgendwie eine Gestalt erlangt. Hier spielt er mit dem lateinischen Wort informationem, das durchaus Gestaltung bedeutet, aber auch in Form bringen, wenn die Erde anders gestaltet wird, informatis, entstehen andere Gattungen, weil hier das Formlose, informe, in eine geformte, informatam, Sache überführt wird.

Die ersten Mischungen können auch nicht genau bestimmt werden, denn dann wären sie nicht mehr imstande jede Form aufzunehmen und passend zu sein. Sie sind nur der Einbildungskraft zugänglich, die aber die täuschendste aller Arten der Weisheit ist und so unsicher und überfließend wie der Lernäische

Sumpf – der war südlich von Sparta und wurde durch Herkules trockengelegt.

 

Karl Bruckschwaiger

 

Nächster Termin: 26.2.2022 

Aristoteles lesen, Metaphysik, Buch XIII

Sonntag, 16. Januar 2022

In der Metaphysik lesen (1076b 19 – 38)

12. Jänner 2022

 

Aufgrund meiner Milieukenntnis sage ich, daß sich Wolfgang Koch mit seiner regelmäßigen Ersetzung des Namens „Aristoteles“ durch „den Stagiriten“ selber markiert: als Kenner seit jeher und Inhaber des totalen Überblicks.

 

Zu den drei ironisch so genannten Gestirnen des aristotelischen Denkens bemerke ich, daß diese Charakterisierung des aristotelischen Habitus eine diskutierbare Annäherung an die Sache ist.

 

Subjektive Beobachtungen: jedwede Beobachtung ist notwendigerweise „subjektiv“, gleichzeitig immer auch schon objekthaltig, sofern die äußeren Sinne ein „etwas“ erfassen; sie kann aber verglichen, kritisiert bzw. erweitert werden in Richtung intersubjektiv und objektiv.

Leser: eben durch Lesen können „subjektive“ Beschränktheiten aufgehoben werden.

 

Gemeinplätze: gehen ebenfalls in diese Richtung, verbleiben aber mehr oder weniger im Heimischen. Lesen hilft da heraus.

 

Kritische Beobachtungen an Aristoteles sind natürlich nützlich, müssen aber nicht von einer eingebildeten Souveränität aus durchgeführt werden.

Man kann die drei Feststellungen auch in die Richtung deuten, daß Aristoteles sich nicht für den Weltgeist gehalten hat, sondern seine Position als eine endliche formuliert. Daß er sich nicht für einen Avantgardisten und auch nicht für den Endpunkt der Geschichte gehalten hat.

 

Wolfgang Koch wendet gegen die einigermaßen tautologisch klingende  Aussage, die einfachen Bestandteile gehen den Zusammensetzungen voraus, zwei Beispiele von „Zusammensetzungen“ ein, die sich einer solchen Zerlegung nicht fügen würden: nämlich die der Familie sowie die des landschaftlichen Himmels, bei denen die aristotelische Behauptung ins Absurde gehen würde. Doch jene Behauptung, wie apodiktisch sie auch auftritt, bezieht sich nicht auf alles und jedes – obwohl sie im  Buch namens Metaphysik auftritt. Sondern auf den Gegenstandsbereich der mathematischen Entitäten (bei Aristoteles eher ein seltenes Thema).

Und nur für diesen Gegenstandsbereich macht er hier seine Aussagen, welche – nach Aristoteles – wahr sein sollen. (Übrigens können und sollen in erster Linie Aussagen wahr sein – und nicht etwa Begriffe. Wenn in der europäischen Tradition die Wahrheitsforderung an Begriffe gestellt worden ist, dann liegt genau darin der Fehler sowie die Quelle des von Wolfgang Koch monierten „Wortaberglaubens“. Auf den wiederum hat Fritz Mauthner mit seiner nominalistischen „Kritik der Sprache“ reagiert, die so etwas wie „Begriffe“ strikt leugnet.)

 

Das heißt, es handelt sich um eine Fehllektüre, womit die Frage aufgeworfen ist, ob auch das Lesen, in diesem Fall das Aristoteles-Lesen, unter einem Anspruch von Wahrheit, jedenfalls von hermeneutischer Richtigkeit steht.

Wolfgang Koch stellt in seiner Lektüre den Aristoteles sehr wohl unter einen Anspruch, wenn schon nicht unter den der philosophischen Wahrheit, so doch unter den der intellektuellen Redlichkeit – und bescheinigt ihm mehrere Arten von „Schlampigkeit“.

Andererseits formuliert er eine extrem „liberale“ Auffassung von Textlektüre und bekennt, er halte eine Aristoteles-Lektüre schon dann für gelungen, wenn sie – für ihn - „anregend“ ist, ihn also zum Denken bewegt. Das mag als Erfolgserlebnis durchaus interessant sein und zum Denken gehört tatsächlich auch eine wilde mentale, begriffliche oder bilderreiche Bewegtheit.

Aber genau genommen schließt sich Wolfgang Koch mit seinem freimütigen Bekenntnis aus dem Kreis der wissenschaftlichen Aristoteles-Leser aus, die das Geschriebene, vermutlich Gedachte, erkennen wollen, „so wie es ist“ – denn das heißt „erkennen“.

 

Auch das Lesen, Verstehenwollen und Nachformulierenkönnen gehört zum Denken, daher fragen wir uns, wie wir sagen können, was Denken ist.

Denken als Tätigkeit, als Leistung, als Vorgang – aristotelisch oder bei uns, für uns hier und heute. Wir finden Denkaspekte im Aufnehmen, Ergriffenwerden, Reflektieren, Spekulieren, Kombinieren, Problemlösen, Bestimmen, Urteilen – was wohl alles in Richtung „Erkennen“ gehen kann, zumindest kann. Das setzt zum einen so etwas wie Subjekte des Denkens voraus, wie Wolfgang Koch postuliert, zum andern auch Objekte, die erkannt werden oder werden sollen.

 

Dies aber ist genau das, was Fritz Mauthner mit seiner nominalistisch-kritizistischen „Erkenntnistheorie“ für unmöglich  erklärt. Und über den „berühmten Realismus“ des Aristoteles macht er sich lustig (überhaupt macht er sich hauptsächlich lustig). Wobei er sich gelegentlich auch über die vielleicht abstruseste Aristoteles-Divinisierung im Berlin des 17. Jahrhunderts lustig macht.

 

Nicht so einen Lustgewinn sollten wir durch das Aristoteles-Lesen anstreben, sondern den ernsthafteren, den kognitiven, der darin besteht, dieses schwierige, oftmals in sich selber unklare Buch mitsamt seinen Inkonsequenzen und Brüchen verstehen zu können.

Wenn sich jedoch unser Aristoteles-Lesen zusätzlich in Richtung künstlerischer Produktion entwickeln, entfalten würde und dafür auch bestimmte prägnante Formulierungen finden würde, wenn es in künstlerische Formfindungen explodieren und auskristallisieren würde, dann würde uns das wohl gefallen dürfen – aber ich rede von „würde“, weil dieses „würde“, das meines Erachtens am ehesten in bezug auf das „Unbewegt-Bewegende“, das gedachte, das begehrte, das geliebte, in Betracht kommen würde, wohl noch ferner aussteht als eine hermeneutische Weiterschreibung des etwas wirren Textes, der in der Tat, wie auch Mauthner gespürt haben könnte, und viel präziser und konstruktiver Lacan, eine eher schwache und noch wirrere Nachgeschichte erduldet.

 

Nach dem angeblichen oder wirklichen Höhepunkt, der Theologie im Buch XII, begibt sich die Metaphysik auf ein anderes Themenniveau; sie kommt nämlich auf die Frage, ob die mathematischen Entitäten überhaupt sind und wenn ja, wie sie sind. Tieferes Themenniveau? Die mathematischen Entitäten, arithmetische und geometrische, sind für Aristoteles Ausfaltungen eines einzigen der neun Akzidenzien, nämlich der Quantität – die allerdings von Pythagoras als die wichtigsten Wirklichkeitsaspekte gefeiert worden waren.

Einen ähnlich harten Übergang vom vollkommensten Wesen zum Akzidenziellen kann man im Buch XI zwischen dem 7. und dem 8. Abschnitt beobachten – aber nur wenn man bereit ist, das Buch XI zu lesen, welches nach Ansicht der deutschen Aristoteles-Koryphäen nur aus Wiederholungen besteht (doch Aristoteles fabriziert Wiederholungen, um irgend etwas Neues vorsichtig sichtbar zu machen).

 

Und was jetzt die Seinsweise der einzelnen geometrischen Bestandteile betrifft, so kann sie nur eine einfache, eine nur gedachte und nicht selbständige sein, nicht selbständig – aber früher im Sinne von vorausliegend, vorausgesetzt, eben gedacht und denknotwendig.

 

Würde man diese mathematischen Bestandteile als existierend annehmen, so würden sie eine unaufhörliche Selbstvermehrung in Gang setzen, denn sie müßten ja jeweils neben einander, außerhalb von einander existieren - das lateinische Wort faßt dieses partes extra partes, das im Griechischen mit symbainein=akzidieren und para=neben ausgedrückt wird, in ein Wort zusammen.

 

Zum Schluß liest Karl Bruckschwaiger aus dem Aristoteles-Handbuch das Kapitel von Dominik Perler über Anti-Aristotelismus als treibende Kraft in der frühneuzeitlichen Transformation der Naturwissenschaften vor. Damals wurden speziell „Stoff“ und „Form“ als überflüssige Begriffe, die die Konzeption der Körper behinderten, ausgeschieden (S. 443-445).

Allerdings ist auch bei Aristoteles klar, daß diese beiden hylomorphischen Bestandteile genau so wenig „existieren“ wie die geometrischen Bestandteile des Quadrats, die ebenso vier Dreiecke wie auch vier Quadrate sein können. Doch gilt die Existenz von Stoff und Form bei Aristoteles-Lesern bis heute als aristotelisch (wie Sophia Panteliadou bezeugt).

 

Walter Seitter

Freitag, 7. Januar 2022

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 5 ( 60rG -60vC)


Der Teil aus Hermanns Schrift, der gelesen wurde, musste vor Ort von Walter Seitter und mir ad hoc übersetzt werden, da ich die vorbereitete Übersetzung vergessen hatte mitzunehmen.

Dieser Abschnitt ist von dem englischen Übersetzer Burnett mit dem Zwischentitel „Gottes Schöpfung von Materie und Form“ versehen worden.

In den ersten Sätzen wird eine Teilhaberschaft an der Schöpfung Gottes angesprochen. Wenn das Wort „consors“ aber eher als Genosse oder Gefährte übersetzt wird, dann könnte man Burnett, dem englischen Übersetzer, folgen, der die Schöpfung gleichsam als Gefährten Gottes sieht. Dazu würde zwar passen, dass Hermann hier die Elemente als Samen bezeichnet und damit die biologische Reproduktion auf die kosmische Ebene der Schöpfung hebt. Gleichzeitig schränkt er die Möglichkeit der Gefährtenschaft stark ein, wenn er Unsterblichkeit und vollkommene Ursprünge und feste Verbindungen als Voraussetzungen dieser Teilhaberschaft verlangt.

 

Da aber weder das völlig Gleiche noch das nur Verschiedene eine feste Bindung möglich machen, noch die Fähigkeit zur Zeugung haben, ist es notwendig, das Gott nicht nur die Samen legt, sondern die Samen vorher sorgfältig sortiert und bestimmt. In diesem Schöpfungsbericht muss Gott in seiner Schöpfung viel nacharbeiten, denn die Elemente sind offensichtlich nicht richtig aufgestellt, um sich vermischen und mit der Zeugung beginnen zu können.

Die Zeugungsfähigkeit wird hier mit der Fähigkeit sich zu vermischen gleichgesetzt.

 

Gott muss die Samen zuerst sortieren, damit er die mit der Fähigkeit sich zu mischen, die die fortwährende Zeugung gewährleistet (commiscendi potentia, virtutisque generative), aus dem ursprünglichen Durcheinander herausfindet. Um dieses anfängliche Durcheinander zu beseitigen, Hermann verwendet für diesen Zustand das Wort „confusa“, sind verschiedene Sortiervorgänge erforderlich.

Zuerst wird ein Sortiervorgang angesprochen, der sich für Samen nicht eignet, wohl aber für andere Elemente, nämlich der Schmelzofen, der vermischte Erze in reine Metalle trennt. Es wird eine Ordnung durch Zeichen hergestellt.

Der nächste Sortiervorgang ist der des Siebens oder Filtrierens, der die Samen oder Elemente nach Größe oder Feinheit trennt, wobei das Material mit der größeren Feinheit den Namen „Essenz“ bekommt, während der Bodensatz, der lateinische Ausdruck ist sedimen, hier zur Substanz wird.

Zu dem Wort „colamentum“ - Filtrat macht Burnett eine Anmerkung, wo er auf den Worfelkorb in Platons Timaios hinweist, wobei die leichtere Spreu vom Wind weggeweht wird und eigentlich der unbrauchbare Teil des Trennungsprozesses ist und das verbleibende Korn das gewünschte Resultat ist. Dann wird von Burnett noch auf die Verwendung in den Schriften des medizinischen Corpus der Zeit verwiesen, wie „Constantine tr. Isaak, De Urina, p.144: Urina est colamentum sanguinis“. Das benötigt selbst wieder etwas Aufklärung, der angesprochene medizinische Corpus, der in den 1080-er Jahren entstand, enthält neben Hippokrates und Galen auch die Übersetzung des „Liber de Urinis“ von Isaac Israeli, eines jüdischen Arztes (850-932) aus Ägypten durch Constantinus Africanus, einem tunesischen Arzt und konvertierten Mönch in Montecassino.

 

Obwohl Hermann hier die Ansicht der medizinischen Autoren wiedergibt, widerspricht er den dargestellten Vorgängen nicht vollends. Wir befinden uns mit dem Schmelzofen und der Filtrationsanlage gedanklich in der Werkstatt des Alchemisten. Jedenfalls werden die Ergebnisse des Filtriervorgangs Zahlen oder Zahlenreihen zugeordnet und es wird von der ebenen Fläche als Ausgangspunkt der Körper gesprochen.

Dass Körper aus dreieckigen Flächen aufgebaut werden könnten, darüber wird von Platon im „Timaios“, 53 bis 55 und darüber hinaus, gesprochen und das wird von Aristoteles in „Werden und Vergehen“, 315b, 30ff als unlogisch – alogon abgelehnt. Diese Zerlegung von Körpern in Flächen führt Aristoteles einige Zeilen später auf den Verzicht von Erfahrung und dem Zuviel an rein logischen Argumenten zurück.

„Ursache der geringeren Fähigkeit, die zusammengehörigen Konsequenzen zu überblicken, ist der Verzicht auf Erfahrung (apeiria); weshalb diejenigen, die mehr in den physikalischen Verhältnissen bewandert sind, eher in der Lage sind, solche Prinzipien vorauszusetzen, die ein größeres Feld bündig erklären können; die aber infolge vieler rein logischer Argumentationen keine Betrachtungen über die Tatsachen anstellen, die urteilen, weil sie nur auf Weniges ihren Blick richten, zu leichtfertig.“ (Aristoteles, Über Werden und Vergehen, 316a, 5-10)

 

Hermann erwähnt die Flächen hier nur kurz, und der Widerspruch von Aristoteles wird Hermann nur ungefähr bekannt gewesen sein, aber die erwähnte Schrift von Aristoteles war zu der Zeit im Westen bekannt.

Im Text von Hermann sucht der Schöpfer nach der richtigen Anordnung und Auswahl der Samen, um die Wirkung der Zeugungsfähigkeit zu erreichen. Dazu muss noch die Mischung von Bewirken und Erleiden, Aktivität und Passivität hergestellt werden. Dafür ist es notwendig das Geschlecht der Samen herauszufinden, und das gleiche Geschlecht kann man dadurch erkennen, das es unvermischt und ungesellig bleibt. So werden jetzt männliche und weibliche Samen in jeweils drei Reihen angeordnet und gepaart, wobei nur die jeweils dritten Reihen mit der ständigen Zeugungsfähigkeit ausgestattet werden.

 

Karl Bruckschwaiger

 

Nächster Termin: 12. Jänner 2022

Aristoteles, Metaphysik, Buch XIII